Читать книгу Und der Schamane lacht … - Britta Wulf - Страница 17
ОглавлениеEr wirkt müde. Und er ist ganz ruhig. Kein bisschen euphorisch, er wirkt nicht einmal aufgeregt.
Nachdem wir alle Schwestern beruhigt haben, folgt der anscheinend komplizierteste Teil seiner Reise. Einmal quer durch Berlin, bei gefühlten fünfzig Grad. Dass dieser Part die größte Herausforderung werden würde, hatte selbst ich nicht geahnt.
Am Bahnhof steht eine Regionalbahn. Sie steht dort schon eine ganze Weile und fährt nicht los. Es ist auch nicht die für uns richtige, aber irgendwie scheint wieder mal nichts nach Plan zu fahren und der Schaffner meint, wir sollten lieber Richtung Stadtzentrum mitfahren, er wüsste auch nicht, was hier heute los sei. Vermutlich wieder ein Streik der Lokführer oder des Begleitpersonals oder die Hitze ist schuld. Schön, wie sich das korrekte Deutschland präsentiert. Doch Tolja bekommt nicht viel davon mit. Er weiß ja nicht, wie einfach es normalerweise wäre. So wird es eine unendlich heiße Irrfahrt durch Berlin. Selbst S-Bahn und Regionalzüge fahren plötzlich nach einem Sonderfahrplan. Alles ist durcheinander und ich bin es irgendwann auch.
Tolja flüstert mir schüchtern ins Ohr, dass wir keine Fahrkarten gekauft hätten. Ich versuche ihm das mit den Tageskarten zu erklären und merke, dass mein Russisch nicht viel besser ist als im Winter. Ich versichere ihm, dass alles gut sei und er keine Angst vor einer Strafe haben müsse. Das Wort Strafe ist im Russischen sehr ähnlich, nur ohne „e“. Er versteht und ist beruhigt.
Nach fast drei Stunden kommen wir verschwitzt in Falkensee an. Als wir in mein Auto steigen und ich Musik anmache, freut er sich über die russischen Schlager. Ich erzähle, dass ich seit Monaten nichts anderes höre als seine Musik. Oft hat sie mir durch die einsame, sehnsuchtsvolle Zeit geholfen.
Wenige Minuten später sind wir zu Hause. Mein Traum ist wahr. Er ist bei mir. In meinem Haus, unter meinem Dach, in meinem Leben. Zum ersten Mal seit meiner Scheidung vor vielen Jahren, habe ich das Gefühl, dass ich einen Mann tatsächlich Tag und Nacht an meiner Seite haben möchte. Mein Verstand sagt etwas ganz anderes. In meinem Kopf pocht ein Gedanke: Er wird sich hier nicht wohlfühlen. Er passt zwar zu mir, aber nicht hierher. Aber egal, erst mal bin ich glücklich. Sammle Kraft für alles was da kommen wird.
Tolja packt seine kleine Tasche aus. Mit beiden Händen greift er ein Geschenk für mich und überreicht es stolz und mit leuchtenden Augen. Ein riesiger Fisch aus dem Baikal. Ein frischer Fisch. Ein Karpfen, der seit vielen Stunden transportiert wird, seit sehr vielen Stunden. Ich mag mir gar nicht ausmalen seit wie vielen Stunden, eigentlich seit Tagen. Ich bedanke mich und verstaue das Tier in der Tiefkühltruhe. Dabei hoffe ich, dass Tolja während seines Besuches nicht auf die Idee kommt, den Fisch zubereiten zu wollen. Ich hätte Angst, dass wir das alle nicht überleben. Er wird ihn zum Glück vergessen.
Ein Hund im Haus ist für Tolja ungewohnt. Er hat oft von meiner Ronja gehört, denn häufig haben wir telefoniert, während ich mit der alten Hündin durch die brandenburgische Landschaft gelaufen bin. Meist lief ein Gespräch so ab: Wie geht es dir meine Sonne? Gut. Was machst du gerade? Ich gehe mit dem Hund spazieren. Das Wetter ist schön. Wie ist das Wetter bei euch? Wie geht es deiner Familie? Gut. Usw.
Und jetzt ist er hier und schaut sich den „wilden“ Hund an, der mit in meinem Haus wohnt. Es dauert keine fünf Minuten und er streichelt die alte Dame. Ronja liebt Männer und hat ihn mit ihren treuen braunen Augen so lange angestarrt, bis der Mann aus der Taiga, ohne es zu merken, ihr Fell krault.
Bei meinem letzten Besuch in Nischneangarsk kam eines Tages ein Straßenhund durch den kaputten Lattenzaun in den Garten. Ich stapfte gerade vom Toilettenhäuschen durch den Schnee zurück zur Hütte und wir starrten uns beide an. Der Hund fühlte sich ertappt. Als ich ihn ansprach, zog er den Schwanz ein und verschwand wieder durch das Loch im Zaun. Auf der Straße gibt es dort einige frei laufende Hunde. Ob sie jemandem gehören oder wirklich Straßenhunde sind, weiß ich nicht. Sie sind friedlich und ungefährlich. Ein einziges Mal habe ich im Dorf ein kleines Mädchen mit einem sehr kleinen Hund an einer Leine gesehen.
Tolja ist noch nicht mal zwei Stunden hier, doch er möchte unbedingt etwas tun. Ohne viel zu fragen beginnt er mein Auto zu waschen. Als es sauber ist, kommt das Auto meiner Tochter an die Reihe. Ich schaue aus dem Küchenfenster zu ihm herüber und denke, dass er doch ganz gut hierher passen könnte. Die Situation ist so normal. Wunderschön spießig und normal.
Als er mit den Autos fertig ist, sucht er nach weiterer Arbeit.
Ich frage ihn, ob wir uns Berlin oder Potsdam als Erstes ansehen wollen. „Nicht so wichtig“ antwortet er. Erst möchte er mir helfen. Ich fühle, dass er etwas gutmachen will. Vermutlich seine gefühlten Schulden für Flugticket und Visum abarbeiten.
Am nächsten Tag kann ich ihn überzeugen, dass wir uns auf den Weg nach Berlin machen. Tolja wundert sich, dass wir nicht mit dem Auto fahren. Eigentlich hat er Recht, die Fahrkarten sind teuer, aber Benzin auch und der ausschlaggebende Punkt sind die Kosten fürs Parken. Er ist verwirrt. Dass man in Berlin Geld fürs Parken ausgeben muss, kann er sich nicht vorstellen. Man will doch nur sein Auto abstellen. Dass in einer Großstadt fast alles irgendwie Geld kostet, übrigens auch in jeder größeren russischen Stadt, ist für ihn ungewohnt. Was wird er denken, wenn er merkt, dass man selbst fürs Klo bezahlen muss?
Wir sind Touristen und das macht Spaß. Ich selbst war schon längere Zeit nicht an diesen zentralen Orten der Stadt. Wir bestaunen gemeinsam den Hauptbahnhof, das Regierungsviertel und tauchen ein in die Geschichte am Reichstag. Das Bild vom Rotarmisten, der 1945 die Sowjetfahne auf dem Dach des Reichstages befestigt, kennen wir beide.
Mein Russisch reicht für die meisten Informationen aus. Was ich nicht erzählen kann, geht mir nur so durch den Kopf. Zum Beispiel, dass ich mal gelesen habe, dass dieses berühmte Foto ein paar Tage nach Kriegsende nachgestellt wurde und dass der Soldat mehrere Uhren am Handgelenk gehabt haben soll, die dann auf dem Foto wegretuschiert worden seien. Ob das stimmt, weiß ich nicht.
Die Kuppel des Reichstags werden wir nicht besuchen. Stundenlang würden wir anstehen. Die Schlange, der anstehenden Menschen windet sich mehrere hundert Meter über den Vorplatz.
Wir ziehen weiter. Machen Fotos und genießen die Stadt. Tolja findet alles sehr interessant und ist gut gelaunt. Vor jeder Sehenswürdigkeit muss ich ein Foto von ihm knipsen. Wir unterscheiden uns nur wenig von den japanischen Touristen. Er selbst fotografiert häufig Menschen, die eindeutig aus anderen Ländern kommen. Jeder der anders angezogen ist, eine andere Hautfarbe oder besondere Haare hat, zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Kein Wunder, gibt es doch in seinem Heimatdorf nur sehr selten ausländische Besucher. Dort waren wir Deutschen schon eine kleine Sensation. Ich bin sicher, das wird sich in den nächsten Jahren ändern. Toljas Heimat liegt so wunderschön am Ufer des Baikalsees, dass auch diese Gegend sicherlich bald Touristen aus aller Welt anziehen wird.
Am Brandenburger Tor wird gerade eine Bühne aufgebaut. Wir drängeln uns durch die Menschenmassen. Der Blick auf das berühmte Wahrzeichen ist durch die Aufbauten verstellt. Aber er bekommt sein Foto mit Tor. Stolz schickt er es an seine Familie.
Ich zeige ihm das berühmte Hotel Adlon und schlage vor, hier einen Tee zu trinken. Vorbei am Portier in historischer Livree schreiten wir in das Gebäude, das so gar nicht zu uns passt. Wir laufen aufrecht und mit angemessen ernstem Blick über den edlen, glänzenden Fußboden und kichern. Im riesigen Foyer setzen wir uns erleichtert, dass uns niemand gefragt hat, wo wir hinwollen, an einen freien Tisch. Doch noch bevor der Kellner kommt, ziehe ich Tolja wieder raus aus dem Luxus. Elf Euro für einen Tee sind selbst mir zu viel. Wir lachen und kommen gar nicht darüber weg, dass wir gerade solche Preise auf der Speisekarte gelesen haben.
Alles was Geld kostet, möchte Tolja sowieso am liebsten vermeiden. Egal was ich vorschlage, es folgt sofort die Frage, ob es etwas koste. Trotzdem kann ich ihn zu einer Kartoffelsuppe und einem Tee überreden. Ein kleines Restaurant, welches zur Humboldt-Universität gehört, passt viel besser zu uns. Wir zahlen pro Person zehn Euro, einen Euro weniger als allein der Tee im Adlon kosten sollte.
Am Alexanderplatz gibt es die Ausstellung „Körperwelten“. Ich versuche Tolja zu erklären, dass dort echte Leichen ausgestellt sind und dass es darüber hier in Berlin viele Diskussionen gibt. Er wirkt total interessiert. Ich bin erstaunt und denke, dass er mich vielleicht falsch verstanden hat. Im Eingangsbereich zeige ich ihm Bilder, und nachdem ich im Online-Wörterbuch noch einmal nach „toter Körper“ und „Leiche“ gesucht habe, beschreibe ich erneut, was uns in der Ausstellung erwarten würde. Er hat richtig verstanden und will das unbedingt sehen. Zum ersten Mal fragt er nicht, ob es teuer ist. Der sonst so artige Russe fotografiert heimlich mit seinem Handy fast jedes Ausstellungsobjekt und schickt die Fotos nach Sibirien an seine Schwester Valentina, die als Krankenschwester arbeitet. Was er wirklich über die Exponate denkt, erfahre ich nicht. Schockiert ist er keinesfalls. Er findet es anscheinend sehr spannend.
Vor dem Berliner Dom machen wir Pause. Wir liegen mit anderen erschöpften Touristen auf der Wiese und Tolja macht Fotos, die er später ins Internet stellt. Auf den Bildern sind auch seine schwarzen Socken in Sandalen zu sehen. Ehrlich gesagt finde ich Socken in Sandalen schrecklich, aber ich traue mich nicht, ihm das zu sagen. Ich möchte ihn nicht verunsichern und eigentlich ist es mir auch egal. Lustig finde ich, dass ein russischer Freund auf seine Fotos reagiert und sich ebenfalls über die schwarzen Socken lustig macht. Tolja schreibt später einen Kommentar dazu. Es wären eigentlich weiße Socken gewesen, aber unterdessen seien sie schwarz geworden durch das viele Laufen in der Stadt.
Oh Gott, weiße Socken wären ja noch schlimmer.
Heute muss ich arbeiten. Ich habe diesen Job ganz bewusst nicht abgesagt, denn mein Kameramann ist Reiner. Reiner kennt die Geschichte von Tolja und mir von Anfang an. Mit ihm und unserem Tonassistenten Steffen war ich vor anderthalb Jahren das erste Mal in Sibirien. Wir haben dort einen Film über die Minderheit der Ewenken am Baikalsee gedreht und Anatoli war unser Protagonist.
Reiner und Steffen waren die Ersten, die kapiert hatten, dass sich der Sibirier in mich verliebt hatte. Sie wussten es noch vor mir.
Ich habe Reiner viel über meine beiden weiteren Reisen und all meine Wünsche, Träume und Probleme erzählt. Er ist also auf dem Laufenden und freut sich riesig, den Mann aus Sibirien wiederzusehen.
In einem kleinen Dorf in der Lausitz ist heute ein großes Fest. Folkloregruppen aus der halben Welt sind zu Gast und treten auf verschiedenen Bühnen auf. Wir drehen die Moderationen für unser sorbisches Magazin. Ich bin total aufgeregt, das alles Tolja zeigen zu können.
Mit dem Auto fahren wir ungefähr zwei Stunden bis zum Drehort. Tolja hat es leider nicht mehr geschafft, eine internationale Fahrerlaubnis zu beantragen, bevor er nach Deutschland kam. So darf er hier nicht fahren und vielleicht ist er auch gar nicht so böse darüber, denn einhundertvierzig Stundenkilometer (mehr schafft mein Auto nicht) auf einer deutschen Autobahn, das würde er sich vielleicht doch nicht trauen. Ich weiß nicht, was er denkt, habe das Gefühl, er wird immer ruhiger. Er sagt nicht, was in ihm vorgeht oder was er fühlt. Ich leide, weil ich nicht weiß, ob es ihm gut geht. In meiner Fantasie war das anders. Ich hoffte, wir würden über alles reden, er würde darüber philosophieren, wie er die Dinge hier sieht, was er denkt und empfindet. Ich war so neugierig darauf. Aber in der Realität ist er sehr zurückhaltend mit seinen Meinungen. Und das liegt nicht nur an unserem Sprachproblem.
Meine Kollegen begrüßen uns sehr freundlich. Reiner und Anatoli umarmen sich fest und lange. Doch mein Sibirier wird immer stummer. Ja, es ist eine schwierige Situation für ihn, aber ein klein wenig mehr Kommunikation würde ich mir auch von seiner Seite wünschen.
Tolja trägt das Kamerastativ. Er schleppt es den ganzen Tag. Wenn wir filmen, filmt er auch. Mit seinem Handy. Jedes Folkloreensemble wird festgehalten. Ob es ihm gefällt, weiß ich nicht. Langsam wird es dunkel und kühl. Wir drehen die letzten Einstellungen. Ich friere, bin müde und k. o. und möchte nach Hause. Doch Tolja ist verschwunden. Die anderen Kollegen verabschieden sich von mir. Nach und nach fahren sie mit den Autos davon. Ich stehe allein auf der dunklen Dorfstraße und suche meinen Mann.
Ich finde ihn bei Reiner im Auto. Die beiden reden sehr vertraut und ich höre Tolja zum ersten Mal lachen an diesem Tag. Das tut gut, aber wir müssen los. Vor mir liegen noch zwei Stunden Fahrt. Die Männer umarmen sich und wir steigen in mein Auto. Tolja bedankt sich für dieses wunderbare Erlebnis und schläft ein. Ich bin müde und fände es sehr viel besser, wenn er mich während der langen Fahrt durch die Nacht irgendwie unterhalten würde. Doch er sagt keinen Ton mehr. Ob er wirklich schläft oder nur so tut weiß ich nicht. Ich bin traurig.
Zu Hause angekommen wartet er kaum bis ich das Garagentor geschlossen habe. Er ist vor mir im Bett und ich lege mich enttäuscht dazu. Plötzlich umarmt er mich. Hält mich fest und bedankt sich erneut für dieses Erlebnis. Ich sage ihm, dass ich den ganzen Tag über glaubte, dass er sich nicht wohlfühle. Nein, ganz im Gegenteil. Russisch theatralisch erzählt er mir, wie wunderbar der Tag für ihn war. Jede Folklore wird beschrieben, jeder Tanz wird mit der Kultur seines Volkes, den Ewenken, verglichen. Er spürte den ganzen Tag so etwas wie Sehnsucht. Gern hätte er diesen Tag zusammen mit seiner großen Familie erlebt. Ich bin erleichtert. Doch spüre ich auch das Heimweh, das mit uns im Bett liegt.
Müde und eng umschlungen schlafen wir ein. Ich schlafe tief und fest und nach langer Zeit auch die ganze Nacht durch. Kein Telefon, keine Mails mitten in der Nacht. Wir leben in der gleichen Zeitzone, im gleichen Rhythmus, wir leben zusammen.
Als ich ihn am Morgen neben mir sehe, bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt. Von mir aus können wir hier die Welt anhalten, die Zeit stoppen – das möchte ich festhalten. So soll es bleiben.
Beim Frühstück wird es lustig. Mein Sohn spricht kein Wort Russisch, Tolja kein Wort Deutsch. Aber zwischen den beiden stimmt die Chemie. Sie reden mit Händen und Füßen und ein bisschen kann ich auch übersetzen. Tolja hat vom Baikal auch getrockneten Fisch mitgebracht. Er fragt Vincent, ob er den kosten möchte. Obwohl der kein großer Fischesser ist, probiert er. Tolja lacht. „Nein, so isst man den Fisch nicht.“ Er zeigt, wie man mit den Zähnen die kleine Schwanzflosse packt, dann mit einem kräftigen Ruck die Hauptgräte rauszieht und wie man dann genussvoll knabbern kann. Vincent versucht es und es klappt. Es ist ein schönes Gefühl zu sehen, dass die beiden miteinander klarkommen. Musste Vincent doch monatelang meine Sehnsucht ertragen, ohne zu ahnen, wen die Mutter da eigentlich vermisst. Für mich sind die beiden wichtigsten männlichen Wesen in meinem Leben gerade in diesem Moment ein wunderbares Team. Es macht mich unendlich glücklich.
Aber sofort kommt der Gedanke, dass das alles nur ein ganz kleiner Moment in meinem Leben sein wird. Ich möchte ihn genießen. Jetzt gerade hat das geklappt, aber schon ein paar Minuten später holt uns die Realität ein.
Wir sitzen nur noch zu zweit am Frühstückstisch. Vincent ist zur Arbeit gegangen und wir sind auf das Thema Geld zu sprechen gekommen. Ein Thema, das aus unserer romantischen Liebe schon sehr schnell die Leichtigkeit genommen hatte. Anatoli hatte in den Wirren der Auflösung der Sowjetunion einen Kredit aufgenommen. Für den Bau eines Hauses und für ein gebrauchtes Auto, wenn ich das richtig verstanden habe. So wie das viele damals gemacht haben. Der Kapitalismus stand vor der Tür und die nicht geübten Sozialisten, auf dem Weg in den geldlosen Kommunismus, wollten an der Macht des Geldes teilhaben. Ich kann mich gut an die Wendezeit in Deutschland erinnern. Als gelernter DDR-Bürger war auch ich damals mit dem Angebot an Krediten, Ratenzahlungen und Finanzierungen vollkommen überfordert. Doch unsere Wende lief anders. Die DDR existierte nicht mehr, aber es gab das funktionierende System der BRD und dort wurden wir eingegliedert. So würde ich das heute umschreiben. Wir Ossis lernten schnell, und machten trotzdem so manchen Fehler. In Russland brach alles zusammen, die Versorgung, der Arbeitsmarkt und der Glaube an ein starkes Volk. Auch Tolja hatte damals seine Arbeit verloren, hier und da mal ein Job, zurzeit bei einer Firma, die zur Bahn gehört und die Bewachung von Depots organisiert. Geld, das nichts mehr wert ist, und Gehälter, die nicht annähernd den Lebensunterhalt decken oder erst gar nicht gezahlt werden. Er schafft es nicht, seine Kredite zu bezahlen, unterdessen sind es wohl vier. Tolja nimmt einen Zettel und schreibt Zahlen darauf, dahinter Namen von Banken. Die Zahlen sind Geldbeträge, die gigantisch klingen, zusammengerechnet ca. eine Million. Eine Million Rubel sind zurzeit ungefähr vierzehntausend Euro. Dann streicht er energisch eine kleine Summe durch. Diesen Kredit hat er bezahlt. Mit dem Geld, welches ich ihm als Nachweis für die Reise geschickt hatte. Erst hatte ich gesagt, er möchte das Geld bitte wieder mitbringen, damit wir hier ein wenig Urlaub machen können. Doch dann hatte er mich gefragt, ob er es ausgeben dürfe, für den Kredit. Ich hatte seine Verzweiflung gespürt und ihm das Geld überlassen. Es ist ihm peinlich, unangenehm. Er schämt sich. Ich frage, was seine Hütte im Monat kostet, wie viel Unterhalt er für seinen Sohn zahlt, was er fürs Telefon bezahlen muss, möchte wissen wie viel er bei der Bahn verdient. Erst beginnt er mir Zahlen zu nennen, eine kleine Plus-Minus-Rechnung entsteht vor meinen Augen, doch dann zerknüllt er plötzlich den Zettel und wirft ihn weg. Nie wieder spricht er so deutlich mit mir über dieses Thema. Aber was ich jetzt weiß: Das Geldproblem kann er nicht lösen. Nicht allein und nicht in Russland. Dass seine Reise hierher einem Wunder gleicht, wird deutlicher denn je. Auch dass ich ihm nicht helfen kann, wird mir klar. Ich habe kein Geld, das seine Probleme lösen könnte.
Wir fahren zum See. Tolja rast durch den Brandenburger Wald und lacht. Das Fahrrad, das ich für ihn besorgt habe, ist etwas klein, aber das macht nichts. Er lacht, wir lachen. Er amüsiert sich darüber, dass ich langsamer bin als er und ich fühle mich mal wieder wie mit siebzehn.
Sein Handy klingelt. Mitten im Wald telefoniert er in seiner Muttersprache. Seine Stimme klingt offiziell und ernst. Ein wenig verstehe ich von dem was er sagt. Er sei nicht zu Hause und werde sich später melden. Aus seinem Gesicht ist die Fröhlichkeit verschwunden. Sie wird den ganzen Tag nicht wiederkommen. Wir baden im See, jeder schwimmt für sich eine lange Strecke und wir machen Pläne für die nächsten Tage, doch ich spüre genau, dass er mit den Gedanken woanders ist.
Das Handy klingelt immer wieder. Er geht nicht mehr ran. Irgendwann gesteht er mir, dass die Bank aus Moskau versuche ihn zu erreichen.
Tolja war sehr erstaunt, als ich ihm im Winter erzählte, dass unser kleines Deutschland beides hat: Berge und Meer. Er war noch nie am Meer. Also war klar, dass ich ihm das zeigen will. Für unseren kurzen Aufenthalt an der Ostsee habe ich einen Zeltplatz in Prerow ausgesucht. Wir packen alles ins Auto, nehmen auch unsere Fahrräder mit und ich habe eine ganz merkwürdige Begegnung mit meinem Ex-Mann.
Für die große Luftmatratze, die Tolja und mir als Bett dienen soll, fehlt die Luftpumpe. Ich weiß, dass H. eine besitzt, und frage ihn danach. „Klar, kannst du haben, aber ich schaffe es nicht bis zu dir. Können wir uns auf dem Parkplatz am Baumarkt treffen? Dann bringe ich sie dir dorthin.“
Ich warte dort auf ihn und als er aus dem Auto steigt, fragt er mich, wie es denn so laufe mit meinem Mann aus der Taiga? Mir steigen sofort die Tränen in die Augen und mein Ex-Mann steht hilflos vor mir. Ganz unbeholfen nimmt er mich nach so vielen Jahren in den Arm und sagt, dass es ihm leidtue. Dass es traurig sei, dass es nicht einfach mal klappen würde, so wie ich es haben möchte. Er hätte es mir so sehr gewünscht.
Ich weiß gar nicht, warum ich hier rumheule, vermutlich, weil mir bei seiner Frage klar wird, dass nichts gut wird. Alles nur ein kurzer Ausflug in eine Zweisamkeit ist, die ich nicht festhalten kann. Dass die Probleme nicht zu lösen sind und dass Tolja gedanklich schon auf dem Rückweg ist.
Zurück bei Tolja habe ich mich wieder im Griff. Wir bauen noch den Fahrradträger ans Auto und fahren am nächsten Morgen los.