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Kapitel IV

Die drei feurigen Musiker von der Tanzkapelle im „La Sangria“ waren unserer Meinung nach zu schade für diese Kneipe, in der sie auftraten, und wir glaubten, dass sie recht bald entdeckt und berühmt werden müssten. Sie boten alles, was man zum Erfolg braucht: souveräne Beherr­schung ihrer Instrumente, guten Rhythmus, schöne Stimmen und Sex Appeal. Das Lieblingslied der Gäste war:

„Everyday is sunday in Mallorhorhorca“.

Jeder sang begeistert mit. Schließlich kam, worauf alle schon die ganze Zeit gewartet hatten. Die Jungens sangen

„Titdidulidulit Didulidulit quäck, quäck, quäck“, und dann folgte der Elvis-Presley-Heuler „It´s now and never. Come hold me tight.“

Die Frauen wiegten ihr Köpfe mit geschlossenen Augen sangria-selig lächelnd hin und her. Und beim anschließenden Applaus war in manchen hingebungsvollen Blicken ein unübersehbares Angebot an die hübschen Boys enthalten.

Kurti und ich konnten nur mühsam einen Lachanfall unterdrücken.

„Ist das nicht umwerfend“? fragte er mich augenzwinkernd.

„Ja,“ kicherte ich, „Guck mal, die da, die macht sich gleich vor Begeisterung was in die Hose“.

Ich machte eine unauffällige Bewegung in Richtung auf unsere Tischnachbarin, die vor Wonne zu schmelzen schien.

Nicht unwesentlich zur guten Stimmung trug die Karaffe mit Sangria bei, die unaufgefordert jedem gebracht wurde. Sie war reichlich bemessen und erforderte keine Nachbestellung. Man konnte sich völlig der Urlaubs­stimmung, so wie sie sich der kleine Fritz immer vorgestellt hatte, überlassen. Eine Stimmung am Rande von Kitsch und Sentimentalität.

Auf dem Nachhauseweg fassten wir uns um die Taille und schubsten uns gegenseitig von einer Straßenseite auf die andere. Dabei sangen wir

„Titdidu-lidulitt quäck, quäck ,quäck.“

„Guck mal“, sagte Kurti, „an der Imbissbude steht immer noch eine Schlange“.

„Sagenhaft“, staunte ich. „Es ist weit nach Mitternacht. Komm, wir versuchen mal einen spanischen Hamburger. Müssen besonders gut sein.“

Wir stellten uns an. Den ganzen Tag über warteten die Leute geduldig, um eine Frikadelle mit Brötchen zu ergattern. Wir waren neugierig geworden, aber wir wollten nicht eine halbe Stunde wegen eines Klopses herumstehen müssen. Jetzt waren nicht mehr so viele Hungrige da, und wir genehmigten uns einen Mitternachtsimbiss. Der kleine spanische Mann mit dunklen Locken und schelmischen schwarzen Augen wirkte ziemlich geschafft. In seinem Blick war eine Mischung aus Stolz, Unterwürfigkeit und Hektik. Er lief eifrig hin und her, wurschtelte hier, wurschtelte da und warf uns gespielt verzweifelte Blicke zu, weil der Bratvorgang so lange dauerte. Wir amüsierten uns. Der Arbeitsablauf war nicht von irgendwelchen REFA-Normen angekränkelt, aber nie wieder habe ich gesehen, wie jemand mit solcher Hingabe seine Buletten brutzelte. Inzwischen lief uns schon durch den Bratenduft das Wasser im Mund zusammen, und als wir unseren Hamburger endlich hatten, bissen wir mit der Gier von Verhungernden hinein.

Wir setzten uns auf die Hotelterrasse, horchten auf das Meeresplätschern und genossen unsere Zusatzration.

„Komisch,“ sagte Kurti, „vor einigen Jahren haben die Deutschen ihren Nachbarn noch die Köpfe eingeschlagen und sich in der ganzen Welt unbeliebt gemacht, und jetzt fahren wir für einen Hamburger nach Mallorca und werden freundlich behandelt.“

„Na, ja“, meinte ich, „für Geld tut mancher manches“.

„Man hätte Hitler und seine Truppe in so eine Sangria-Kneipe stecken und sie „titdidulidulitt quäck, quäck, quäck“ singen lassen sollen“, schlug Kurti vor.

„Leider muss man davon ausgehen, dass die das als Marsch gesungen hätten“, antwortete ich, „und die Sangria hätten sie nicht angefasst. Weißt Du, ich habe mal einen einsamen alten Mann in ein italienisches Schlemmerlokal eingeladen. Er ließ den absolut köstlichen Salat stehen, mit der Begründung, den habe so ein dreckiger Italiener mit seinen Fingern angefasst.“ „Das hast Du erfunden, oder?“ fragte Kurti ungläubig.

Ich zuckte die Achseln.

„Mir hat´s gereicht. Von da ab habe ich mich nicht mehr um ihn gekümmert und mir seinen Zorn zugezogen. Wenn man so etwas erlebt hat, ahnt man, was in Hirnen vor sich geht, die falsch gepolt sind.

„Erschreckend, dass manche Menschen unfähig sind einzusehen, welche Schuld die Deutschen auf sich geladen haben,“ meinte Kurti nachdenklich.

„Die Deutschen“? fragte ich angriffslustig.

„Du meinst doch wohl die deutschen Männer? Die Frauen hatten nichts zu sagen. Sie wurden von Hitler zu Müttern gemacht. Ich meine das nicht per Manneskraft. Sie durften in diesem unsäglichen Krieg die Wunden pflegen, ihren tapferen Helden Mut zusprechen und anschließend die Kriegsheimkehrer mit der verkorksten Psyche wieder aufrichten. Sie durften sich aus den Trümmern eine kleine Existenz aufbauen, die dann anschließend von den Männern übernommen wurden, die meinten, sie seien die Ernährer der Familie. Und nun dürfen sie sich auch noch mit einbezogen fühlen, wenn die Politiker ihr „mea-culpa-Gerufe“ praktizieren.“

„Na, Du bis ja in Rage,“ sagte Kurti belustigt, „auch Männer haben im Krieg gelitten.“

„Ich meine ja auch nicht alle Männer. Ich meine die Verantwortlichen. Aber das waren nun mal Männer“.

„Du meinst, Du kannst das auseinander dividieren: die Bösen, das sind die Männer, die haben Juden umgebracht, und die guten Frauen nicht?“

Kurti versuchte mich zu provozieren, ihm gefiel meine Aggressivität.

„Das Auseinanderdividieren hat doch längst stattgefunden“, sagte ich.

„Jude sein, ist in erster Linie ein religiöses Thema. Es gibt in Deutschland Deutsche christlichen Glaubens, Deutsche jüdischen Glaubens, deutsche Buddhisten, Moslems, was weiß ich. Wenn also die Verbrechen im Namen aller Deutschen begangen wurden, dann auch im Namen der Deutschen jüdischen Glaubens. Die tun aber so , als ob sie nicht dazu gehört hätten.“

„Das kannst Du so nicht sehen!“ rief Kurti entsetzt. “Die Juden waren schließlich die, die abge­schlachtet wurden.“

„Richtig“, ich nickte. „Juden waren die Hauptleidtragenden. Und niemand hat sein Leben riskiert, sich auf den Marktplatz gestellt und die Verbrechen angeprangert, auch kein Deutscher jüdischen Glaubens. Kein deutscher Jude hat Einspruch erhoben, als geistig Behinderte oder solche, die dazu gemacht wurden, „abgeschlachtet“ wurden, wie Du das nennst. Es geht doch nicht darum, welcher Personenkreis zu Hitlers bevorzugten Opfern gemacht wurde, es geht um das Verbrechen als solches. Und da waren auch deutsche Juden gefordert.“

Unsere Alkoholstimmung war verflogen. Noch nie hatten wir eine so heftige politische Diskussion geführt. Von da an vermieden wir jedes politische Thema, und manchmal fing ich einen Blick von Kurti auf, der mir sagte, dass ich ihm unheimlich war.

Eine Woche war vergangen, und langsam fingen wir an, uns zu langweilen, was ja bekanntlich der Beginn der Erholung ist. Wir planten, uns ein Auto zu mieten, um die Insel zu erforschen, und fanden dabei Gleichgesinnte auf der Hotelterrasse. Die nächsten drei Tage waren wir auf Tour und abends zu müde für häppi däppi beim Sangria. Am vierten Abend sah man uns wieder um einen Platz in unserem Stammlokal kämpfen. Die Stimmung war bestens. Eine Gruppe junger Leute hatte mehrere Tische zusammen geschoben und schunkelte ausgelassen. Eine hübsche braungebrannte Blondine mit äußerst enganliegendem Strandoutfit begann plötzlich einen Sitzboogie und sang dazu

„ Oh, Baby, Baby, balla, balla“.

Alle lachten und die Kapelle griff die Melodie sofort auf. Ich blickte zu den jungen Leuten herüber, und in diesem Moment sah ich IHN. Er bahnte sich einen Weg zum Ausgang, sah lachend auf die aufgedrehte Blondine und dann auf mich. Er machte eine leichte Verbeugung, und ich starrte ihn bewegungsunfähig an. Das war er! Der Prinz auf den ich gewartet hatte. Groß, breitschultrig, spöttische graue Augen, kantiges Kinn mit Grübchen.

„Ich muss zu ihm“, dachte ich hilflos. Und dann war er weg.

„Hey, Du,“ Kurti faßte mich am Knie und schüttelte es. „Ich spreche die ganze Zeit mit Dir.“ Ich lachte etwas schrill.

„Entschuldige. Ich hatte eine Fata Morgana. Macht wohl der Alkohol“.

„Hast Du weiße Mäuse gesehen?“

„Nein, schlimmer. Große breitschultrige Prinzen.“

Ich pfiff mich zurück: Du bis fast 30 Jahre alt und verliebst Dich auf die Entfernung in einen völlig unbekannten Typen .Laut sagte ich

„Kinder, Kinder, so ein Quatsch!“

Und dann überkam es mich und ich schmetterte in den Saal:

„It´s now and never. Come hold me tight. Kiss me for ever, be mine tonight.”

Und dann fiel ich Kurti um den Hals und küsste ihn.

Am nächsten Morgen begrüßten wir uns etwas förmlich am Frühstückstisch.

„Na, Rausch ausgeschlafen?“ fragte Kurti und tat desinteressiert.

„Was hälst Du davon, wenn wir nun endlich mal ins Wasser gingen?“

„Gehst Du voran?“ fragte ich.

„Nein, immer die mit dem größten Rest-Alkoholspiegel“ konterte er.

„Baut sich da bei Dir vielleicht ein Defizit auf?“

„Gut möglich,“ gab er zurück. „Fragt sich nur, welches.“

Wir nahmen ein großes Badetuch und setzten uns in den Sand. Nach einer Weile blickte ich ihn aufmunternd an, er ebenso zurück.

„Frauen sind mutiger als Männer,“ sagte Kurti.

„Hä, hä, hä.“

Ich versuchte besonders dreckig zu lachen. Zögernd erhob ich mich und fühlte vorsichtig die Meerestemperatur, erst mit einem Fuß, dann mit dem zweiten, und watete langsam durch das Wasser. Ich wusste, dass hinter meinem Rücken Wetten abgeschlossen würden, ob ich es denn packe. Die erste kleine Welle schlug gegen meinen Bauch. Ich wich zurück; es war eisig. Tapfer tastete ich weiter. Unvermittelt platschte eine größere Welle auf meine Brust und nahm mir die Luft. Ruckartig drehte ich mich um und wollte schreiend zurücklaufen. In diesem Moment krachte ich mit jemandem zusammen, fühlte einen heftigen Schmerz, lag lang im Wasser, kam nicht wieder hoch und glaubte, ertrinken zu müssen. Der Jemand zog mich hoch. Ich konnte nichts sehen, denn meine Augen brannten vom Salzwasser. Dann hörte ich Kurtis Stimme, und er gluckste vor Lachen.

„Das ist nicht komisch!“ schrie ich ihn an.

„Nein, und es tut mir furchtbar Leid,“ sagte eine tiefe warme Stimme.

Ich fuhr herum und sah IHN: Fast wäre ich wieder umgefallen. Ich klapperte am ganzen Körper vor Kälte, vor Schreck und vor Seligkeit.

„Kommen Sie, trocknen Sie sich erst mal ab.“

Wir gingen zu unseren Badetüchern. Jeder der Männer nahm eines und rubbelte an mir herum. „Darf ich Sie zu einem Cognac einladen, bitte, ich muss mich sehr entschuldigen. Aber ich hatte vor, Sie im Vorbeilaufen ein bisschen nass zu spritzen und habe Ihre heftige Bewegung nicht vorausgesehen.“

Seine Stimme drang durch mein Ohr ins Innerste und wärmte mich. Irgend etwas schmerzte in meiner Brust. Vielleicht hat er mir ein paar Rippen gebrochen,` dachte ich. `Heiliger Neptun, welch ein Beginn!`

„Mein Name ist Jochen Fischer.“

Ich konnte immer noch nichts sagen, wurde irgendwie zur Hotelterrasse geführt, sank in einen Liegestuhl, erhielt ein Cognacglas und schloss die Augen. Die zwei Männer unterhielten sich. Ich nahm nur Gemurmel wahr und hatte ein bisher nicht gekanntes Glücksgefühl. Der Schmerz, war es die Schulter, war es die Brust, oder beides, sagte mir, dass ich nicht träumte, und der zu erwartende Bluterguss würde mich in den nächsten Wochen an dieses Glück erinnern.

„Ich muss mich leider jetzt verabschieden,“ hörte ich diesen Jochen Fischer sagen. „Vielleicht sehen wir uns noch einmal vor der Abreise wieder.“

Ich schlug die Augen auf.

„Sagen Sie mir, an welchen Stränden Sie gewöhnlich morden, damit ich mein Leben in Sicherheit bringen kann.“

Ich hatte mich wieder halbwegs im Griff. Fischer lachte und Kurti meinte:

„Ich hatte schon gehofft, Sie hätten sie ein für allemal mundtot gemacht.“

Dann sagte noch jeder von uns „Asta la vista“ und Fischer verschwand.

„Zeit fürs Essen,“ rief Kurti.

Während ich mich in meinem Zimmer unter die heiße Dusche stellte und anschließend restaurierte, überfiel mich plötzlich die Angst, dass ich Fischer nicht wiedersehen würde. Aber dann dachte ich, wie kommt er an unseren Strand? Er muss mich doch gesucht haben.

Ich konnte den Abend nicht erwarten. Angespannt und nervös saß ich im „La Sangria“, aber er kam nicht. In der Nacht schlief ich schlecht. Immer wieder sah ich sein Gesicht vor mir, hörte seine warme Stimme und stellte mir vor, wie es sein würde, wenn er mich zum ersten Mal küsste.

Am nächsten Morgen war ich die erste beim Frühstück, nahm meine Badesachen und setzte mich an den Strand. Zwei Stunden später erschien Kurti.

„Muss ich mir Sorgen machen?“ fragte er mit leichtem Spott.

Ich blickte ihn stumm an.

„Also muss ich mir Sorgen machen“, stellte er lakonisch fest.

Kurti blieb nie etwas verborgen.

„Ach, Kurtilein,“ seufzte ich, und tiefe Melancholie überfiel mich.

„Rosikind, jetzt mach ich mir aber ernsthaft Sorgen. So schlimm war es noch nie, und ich weiß, es war oft schlimm genug.“

Kurti konnte tief philosophisch werden, wenn er emotional bewegt war. Bei jedem Liebeskummer, den ich hatte, litt er mit mir. Seine Tröstungen waren immer etwas hölzern, aber sie taten mir gut.

Die Pyramide.

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