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Erlebnisse: Der eigene Weg in die Politik

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Am 8. November 1924 nahm ich zum ersten Mal an einer Demonstration teil. Ich war noch nicht vierzehn Jahre alt. Der Sohn eines Industriellen namens Thomas Schwarz hatte sich aus dem Fenster der elterlichen Wohnung auf der Wieden gestürzt, weil er die Quälereien eines seiner Lehrer nicht mehr ausgehalten hat. Die Vereinigung sozialistischer Mittelschüler rief zu einer Protestkundgebung vor dem Gebäude des Wiener Stadtschulrats auf, und zwei Mitschüler hatten mich aufgefordert mitzukommen. Einer von ihnen wurde später Generalkonsul in Johannesburg – ein glühender Verfechter der Apartheid. So geht’s halt manchmal mit den Menschen.

Mit dieser Kundgebung für einen an den Schulverhältnissen zugrunde gegangenen Mittelschüler begann mein eigentliches Engagement und ich wurde Mitglied in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler. Da ich sehr jung war, gehörte ich in den sozialistischen Wanderbund, einen Ableger der deutschen Wandervogelbewegung. Diese große Aufbruchbewegung der deutschen Jugend hat im Leben Tausender junger Menschen eine entscheidende Rolle gespielt. Der Wandervogel hatte sich ja mehrfach gespalten; es gab unter anderem einen katholischen, einen deutschnationalen, einen eher liberalen und auch einen sozialistischkommunistischen Zweig.

»Jugendbewegt« zu sein, war auch zu meiner Zeit noch eine bestimmte Grundhaltung. Von einem gewissen Alter ab wurde das freilich mit einem leicht kritischen Unterton vermerkt. Nun machte man jedoch einen Unterschied zwischen Jugendbewegung und Jugendpflege. Unter Jugendpflege verstand man die Tätigkeit der Pfadfinder unter der Obhut von Erwachsenen, unter Jugendbewegung die sich selbst verwaltende Form des Zusammenschlusses junger Menschen.

Im Wanderbund hat es mir sehr gut gefallen. Es war die ideale Verkörperung einer neuen Gemeinschaft. Nicht mehr auf den engen Kreis der Mitschüler und der Jungen aus der Nachbarschaft begrenzt, verbrachte ich fortan meine freien Nachmittage inmitten eines Kreises, der mir das Gefühl von Geborgenheit gab und vor allem die Empfindung, einer großen, irgendwie auch politischen Aufgabe zu dienen. Meiner Neigung entsprechend, die mein Sohn einmal »missionarisch« genannt hat, habe ich mich einer intensiven Werbetätigkeit hingegeben.


Anstatt in die Tanzschule ging’s zur Sozialistischen Jugend: Ausflug zum Völkerballspiel Ende der Zwanzigerjahre.

Ständig strebte man nach neuen Formen des Zusammenlebens. Auch wenn wir im grundsätzlichen übereinstimmten, wurden dennoch harte Diskussionen geführt, bei denen ich freilich ein sehr stiller und passiver Teilnehmer war, denn es gab ja die »Großen«, allen voran Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda, den redegewaltigen Alex Weissberg, der später in der polnischen Widerstandsbewegung als Oberst Cybulski aktiv war, Professor Victor Weisskopf, einen der CERN-Direktoren und Bürgermeister von Los Alamos, ferner den berühmten Mathematiker Hans Motz, der dann in Oxford lehrte, Hans Zeisel in Chicago und viele andere, die später einen großen Namen hatten.

Dieser Gruppe von Intellektuellen meist jüdischer Herkunft stand eine andere Gruppe gegenüber: die Söhne aus Arbeiterfamilien. Sie mussten sich durch besondere Tüchtigkeit bewähren, weil vielen das Studium sonst nicht möglich gewesen wäre. Da sie nicht wie andere über Beziehungen oder über Familienbande verfügten, hatten sie es von Vornherein sehr viel schwerer. Die meisten von ihnen waren Techniker, und dies lag sehr oft in ihren Familien begründet: Es war fast selbstverständlich, dass der Sohn eines Metallarbeiters Ingenieur oder der Sohn eines Bauarbeiters Architekt wurde.

In meiner Mittelschülergruppe gab es zwei junge Leute, die später eine gewisse Berühmtheit erlangt haben, aber in sehr verschiedenartiger Weise. Der eine war mein Mitschüler, der spätere SS-Sturmführer Felix Rinner. Er war einer der Unbelehrbarsten und ist vor einiger Zeit als unverbesserlicher Nazi gestorben. Der andere ist der heute sehr bekannte Dichter Jura Soyfer, der Sohn eines russischen Emigranten, der in Wien reich geworden war. Jedenfalls hielt ich ihn für sehr reich, da ich ihn einmal in einem dicken Pelzmantel mit großer Pelzmütze gesehen habe. Überhaupt ist mir damals zunehmend aufgefallen, dass unter den sozialistischen Mittelschülern nur sehr wenige Arbeiterkinder waren, dafür um so mehr Kinder aus bürgerlichem Haus. Unsere Zusammenkünfte fanden meist in eleganten Bürgerwohnungen statt. Am 15. Juli 1927 kam es vor dem Justizpalast zu ersten großen und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Tags zuvor waren jene Frontkämpfer freigesprochen worden, die bei einem Zusammenstoß mit dem Republikanischen Schutzbund im burgenländischen Schattendorf für den Tod von zwei Menschen verantwortlich waren – einem Invaliden und einem Kind. Wegen dieses Freispruchs kam es zu spontanen Arbeiterdemonstrationen gegen die »Schandjustiz«. Ich war neugierig, schnappte mir meinen Cousin Artur Kreisky, der damals mit seinen Eltern bei uns zu Besuch war, und gemeinsam gingen wir zum Justizpalast, um uns anzuschauen, was wir zunächst für ein bloßes Spektakel hielten. Plötzlich peitschten Schüsse. Wir haben die Salven nicht nur gehört, wir haben auch die fallenden Menschen gesehen, das Blut. Zum ersten Mal sah ich Menschen sterben. Das Herz klopfte uns bis zum Halse.

Als wir wieder wohlbehalten zu Hause eintrafen, hatte sich in der Stadt mit Windeseile das Gerücht verbreitet, in der Babenbergerstraße sei ein Mann namens Artur Kreisky erschossen worden. Da alle Kreiskys, die es auf der Welt gibt, vor zwei, drei und mehr Generationen miteinander verwandt waren, muss auch er weitläufig zu uns gehört haben. Nun war dies aber ein anderer Artur Kreisky, weder ein rebellierender Arbeiter noch ein Neugieriger, sondern ein angesehener Juwelier aus der Kärntner Straße, der gerade auf dem Nachhauseweg war. Er erlitt mehrere Durchschusswunden und starb drei Tage später. Die Presse hat den Fall breit ausgeschlachtet, um zu zeigen, wie sinnlos die Polizei herumgeschossen hat und dass es gar nicht darum gegangen ist, Arbeitermassen zurückzudrängen, sondern Macht zu demonstrieren. Insgesamt wurden an diesem Tag 89 Menschen getötet, darunter viele Angehörige der Sicherheitswache, und mehr als sechshundert verletzt. – Mein Cousin wurde sechzehn Jahre später, im Juni 1943, wegen Widerstandstätigkeit in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Betrachtet man die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik, so wird man wahrscheinlich zu dem Schluss kommen müssen, dass ihr Abstieg damals im Jahre 1927 begonnen hat. Bis zu jenem 15. Juli war die Partei von einem bis dahin unbekannten, fast rauschhaften Hochgefühl durchdrungen. Soeben erst hatte sie einen glänzenden Wahlsieg errungen, und Otto Bauer hatte die Parole ausgegeben: »Noch einmal 200.000 Stimmen, und wir haben die Mehrheit.« Einige meiner Freunde, darunter Victor Weisskopf, haben damals ein politisches Kabarett gemacht, in dem sie das Wort »Noch einmal 200.000!« selbstherrlich aufgriffen. In dem Sketch wurde der Tag geschildert, an dem wir endlich die Mehrheit hätten. Man ließ das Rathaus festlich beleuchten – an so etwas hatten die Wiener besonderen Gefallen –, und dann endete die Strophe:

Was tamma jetzt, was tamma jetzt?

Jetzt wird a bisserl ausgesetzt.

Was tamma dann, was tamma dann?

Dann fang’ ma halt wieder vom Anfang an.

Es war ein ungeheures Kraftgefühl, das uns damals durchströmte. Schließlich hatten wir die Wahlen gegen die von Seipel konstruierte, sogenannte bürgerliche Einheitsliste gewonnen, die von dem Antisemiten Riehl, einem der Urnazis, bis hinüber zu den jüdischen Kandidaten in der Leopoldstadt reichte. Und gegenüber den Wahlen von 1923 hatten wir noch einmal drei Mandate hinzugewonnen (insgesamt 71), während die Christlichsozialen 9 Sitze verloren (insgesamt 73). Mitten in diese Hochstimmung fiel der furchtbare Schock vom 15. Juli.

Im Nachhinein lässt sich natürlich leicht behaupten, dass es ein schwerer politischer Fehler war, in einem Moment, wo ganz Österreich im Bann der Sozialdemokratie stand, den Generalstreik auszurufen. Wer die Vorgeschichte kannte, musste wissen, dass er nicht lückenlos befolgt werden würde. Man konnte sich auf die Eisenbahner verlassen, die einen sicheren Arbeitsplatz hatten und lange die Treuesten der Treuen waren, auch auf die Postbeamten und Metallarbeiter. Aber das große Wort, das uns alle in unserer Jugend faszinierte: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will«, das hat sich eben nicht als zutreffend erwiesen.

Und wer hätte gedacht, dass die Polizei schießen würde? Das war ja die eigentliche Tragödie. Nichts hat sich das österreichische Bürgertum sehnlicher gewünscht, als dass die von Wahl zu Wahl erfolgreichere Sozialdemokratie auf die eine oder andere Weise einen schweren Rückschlag erleiden möge. Im gleichen Moment, in dem der Staat bewies, dass er sich traute, auf demonstrierende »Rote« zu schießen, war der Bann ihrer Politik gebrochen. Man kann also, dachten seither viele, mit der Sozialdemokratie fertig werden, sofern man nur den Mut hat, in die Leute hineinzuschießen. Diesen »Mut« hat der Staat am 15. Juli 1927 gezeigt, und der Held der Stunde war der Wiener Polizeipräsident Schober, ein im Grunde empfindsamer Beamter aus den Zeiten der Monarchie, der sich oft beschwerte, dass er ungerecht behandelt werde.

Das Ärgste war, dass die Sozialdemokratie der Gegenseite einen Anlass geboten hat oder zumindest einen Vorwand. Denn ich glaube nicht, dass der Leitartikel des Chefredakteurs der Arbeiter-Zeitung, auf den sich Schober berief und den man in der Tat als sehr heftig bezeichnen kann, von den Arbeitern wirklich gelesen worden ist. Die Arbeiter-Zeitung hatte zwar eine große Auflage, aber die Masse der Leute hat nicht um fünf Uhr in der Früh den Leitartikel gelesen, um dann um sechs Uhr in die Fabriken zu gehen und zu sagen: Jetzt marschieren wir! Das war eher ein impulsiver Entschluss, und instinktiv zogen die Massen auch zum Justizpalast als dem Inbegriff der Schandjustiz. Die Eskalation, zu der es dort kam, hat sich aus der Situation ergeben. Vielleicht steckten sogar bolschewistische Agenten dahinter, denn das Wien jener Jahre war ein Tummelplatz für sie. Viele von ihnen betrieben damals sehr stark die anarchistische Propaganda der Tat.

Die Österreicher der Ersten Republik waren leicht erregbare Menschen. Hatte man den Krieg glücklich überlebt und war nicht als Krüppel zurückgekehrt, dann wurde der Krieg im Rückblick zu dem großen Abenteuer eines sonst ereignislosen Lebens. Zwar wollte man in den ersten Jahren vom Krieg nichts hören und nichts sehen; dann aber wurde das Ereignis literarisch verarbeitet, und am Ende stand sehr oft die Apotheose des Soldatentums an sich. Der Nazismus war ja auch und ganz bewusst eine Verlängerung der Kriegserlebnisse und machte aus der Fronterfahrung den Inbegriff menschlichen Erlebens.


Ein Sohn aus gutem Haus, fein „geschalt“: Gymnasiast Bruno Kreisky mit seinem Dobermann, 1926.

Auch der Republikanische Schutzbund verdankte seine Entstehung nicht nur dem Wehrwillen der Arbeiterbewegung gegen die präfaschistischen Kampfbünde, sondern entsprang auch dem Bedürfnis der Menschen, die Erinnerung an das größte Erlebnis ihres Lebens wach zu halten. Ich erinnere mich deutlich an viele Nächte, die ich bei Schutzbundbereitschaften zubrachte. Man saß in irgendwelchen Kellern, döste vor sich hin und langweilte sich; eine allgemeine Munterkeit kam erst auf, wenn endlich die Würstel gebracht wurden. Und während dieser nächtelangen Schutzbundbereitschaft haben die Leute am liebsten vom Isonzo geredet, von Gorlice und von Wolhynien. So lernte ich sämtliche Schlachten kennen, auch wer ein guter General und ein tüchtiger Feldwebel gewesen war. Die Mentalität des Feldwebels steckt in vielen Menschen, auch in Zivilisten. Hinzu kam die krankhafte Uniformsucht, die gerade in Österreich sehr stark verbreitet ist. Wir hatten auf der Wieden einen etwas zu kurz geratenen Schutzbundführer, der mit Hochglanzreitstiefeln und in einer Fantasieuniform an der Spitze seiner Schutzbündler immer dicht am Rathausplatz vorbeimarschiert ist, und vielen hat das sehr gut gefallen.

Es gab nach dem Krieg eine Reihe von militanten Organisationen: die österreichischen Frontkämpfer, die in Wirklichkeit eine monarchistische Vereinigung mit präfaschistischem Einschlag waren; die Heimwehren, denen sich vor allem die Bauern anschlossen, ebenfalls präfaschistisch; eine ganze Reihe kleinerer Organisationen in der Politik, und natürlich die sozialdemokratischen Ordnerverbände, allen voran der Republikanische Schutzbund, die bei Demonstrationen die Leut’ im Zaum hielten. Den sentimentalen Militarismus, der allen diesen Organisationen gemeinsam war, habe ich stets für eine große Gefahr gehalten. Für mich war hier eine Entwicklung vorgezeichnet, die die Jugend eines Tages zum Opfer einer viel umfassenderen, politischen Militarisierung machen würde.

Die versteckten Waffenlager aus dem Ersten Weltkrieg wurden instand gesetzt, neu versorgt. Statt dass die schwarzen und roten paramilitärischen Verbände einander mieden, hat es immer wieder Sonntage gegeben, an denen die Rechten in provokatorischer Absicht in großen Arbeiterstädten demonstrierten, und da rückte dann auch der Schutzbund aus, um den terrorisierten Bewohnern die Angst zu nehmen. Ich erinnere mich noch, wie wir zu diesen Aufmärschen hinausgefahren sind, mit Zügen ähnlich denen, die früher einmal an die Front fuhren. Am Südbahnhof standen weinende Frauen und Mütter, und alle hatten nur eine Sorge: Hoffentlich kommst’ gut heim! Diese ewigen Aufmärsche und Gegenaufmärsche waren eine gewaltige Herausforderung an die Exekutive. Wenn sie mit ihren »Spanischen Reitern« zwischen den demonstrierenden politischen Armeen standen, müssen die Ordnungskräfte das Gefühl gehabt haben, ein Opfer dieser Spannungen zu sein. Aufgrund ihrer politischen Herkunft – die meisten kamen vom Land – haben sie ihre Abneigung natürlich vor allem gegenüber den »Roten« zum Ausdruck gebracht.

Am 15. Juli 1927 konnte sich der Schutzbund deshalb nicht bewähren, weil er einfach nicht zusammengerufen worden war, um Brandstiftung zu verhindern. Eine vorausblickende Parteiführung hätte sich sagen müssen, dass es am nächsten Tag wegen dieses Urteils unter Umständen eine sehr aufgebrachte Stimmung geben werde, und daher hätte der Schutzbund in Bereitschaft sein müssen. Dann hätte man den Justizpalast gegen die anstürmenden Demonstranten abriegeln können. Schon an ihren Uniformen wären die Schutzbundbereitschaften erkannt worden, und Karl Seitz wäre die furchtbare Enttäuschung erspart geblieben, dass man das Feuerwehrauto, auf dem er stand, nicht hat vordringen lassen. Wenn dieser beliebte Bürgermeister dann erschienen wäre, hätten die Leute Platz gemacht. So aber haben sie ihn niedergeschrien – als »Bremser« und »Arbeiterverräter«, was beweist, dass unter den Demonstranten viele Nichtsozialdemokraten waren. Es war ein furchtbarer Tag für die Partei und, wie sich bald zeigen sollte, für die österreichische Demokratie. Es war ein furchtbarer Tag auch für mich.

Bis dahin hatte ich immer nur die wohlgeordneten Reihen demonstrierender Arbeiter und Sozialdemokraten gesehen. Das schien mir nun plötzlich wie harmloses Flanieren im Vergleich zu den zornigen Wogen der demonstrierenden Massen vor dem Justizpalast, die man mit Gewalt und unter Blutvergießen vertrieben hatte. Damals ist mir bewusst geworden, dass die Arbeit, die ich in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler leistete, eigentlich sinnlos war, und dass ich, wenn ich wirklich etwas tun wollte, in die Bewegung der Arbeiterjugend hineingehen musste.


Mit den Mitschülern der Bundesrealschule Wien-Landstraße: Bruno Kreisky in der letzten Reihe, Dritter von links. 1929 legt er hier die Matura ab.

Mit diesem Entschluss zum wirklichen Engagement stand ich ziemlich allein. Plötzlich war ich die Diskussionen um der Diskussion willen satt. Denn es waren Auseinandersetzungen ohne realen politischen Sinn. Auch spielte in diesen Debatten etwas ganz anderes mit: Die Mittelschüler aus Arbeiterkreisen fühlten sich in diesem Milieu nicht wohl. Sie hielten sich auf ihre Art für eine Elite ihrer Klasse, während die Mittelschüler aus bürgerlichem Milieu sich als vom Bürgertum wegstrebende Außenseiter empfanden. Da diese oft aus jüdischen Familien kamen, schwang in allen Diskussionen immer auch eine kleine Spur des speziellen österreichischen Antisemitismus mit. Es mögen interessante Themen gewesen sein, über die wir da diskutierten, und man hat viele große Leute geholt, um sich belehren zu lassen, ob zum Beispiel in der Sowjetunion der Thermidor schon ausgebrochen sei oder nicht. Aber ich wollte mehr. Ich suchte, was mir aus meiner Klassenlage heraus nicht so leicht zu finden möglich war: den Kontakt zur jungen Arbeiterschaft.

Und so habe ich mich auf den Weg zur Arbeiterjugend gemacht. Ich wusste, dass das kein einfacher Weg war, aber so schwierig, wie er dann wurde, hatte ich es mir nicht vorgestellt. Das erste Problem war meine Mutter. Sie wollte immer wissen, wo man mich finden könne, aber ihr wollte ich von meiner neuen Welt nichts erzählen. Infolgedessen habe ich mich von ihr zum Schein überreden lassen, eine Tanzschule zu besuchen. Sie hat Elmayer geheißen und wurde von einem Rittmeister geleitet, der Generationen von Wienern nicht nur das Tanzen beibrachte, sondern auch gutes Benehmen oder was man darunter verstanden hat. Die Einschreibgebühr habe ich noch bezahlt, 20 Schilling. Aber bereits die ersten Monatsbeiträge, die ich von meiner Mutter einkassierte, habe ich schlicht veruntreut. Ausstaffiert, als ginge es zu einem Jugendball, in einem blauen Gabardineanzug mit weißem Hemd und passender Krawatte, bin ich bei der sozialistischen Arbeiterjugend in der Wiedner Hauptstraße 60 b aufgekreuzt. Mein Aufzug war offensichtlich Anlass zum Spott; manche gaben ihrem Misstrauen auch direkt Ausdruck. Nach dem Krieg wurde ich einmal gefragt, warum ich immer so fein »geschalt« gewesen sei. Als ich daraufhin zugab, dass ich meiner Mutter hatte vorgaukeln müssen, dass ich in die Tanzschule Elmayer ginge, rief das allgemeine Heiterkeit hervor. Zuhause habe ich mich dann in vieles leichter gefügt. Ich hatte geschnittene und saubere Fingernägel, die Haare waren in Ordnung, und meine gütige, naive Mutter war der Meinung, ich sei vernünftig geworden.

Das eigentliche Problem bereitete mir die Sozialistische Arbeiterjugend selbst. Schon am ersten Tag ist mir das widerfahren, was man die »Intellektuellenfeindlichkeit« nennt. Die beiden Obmänner waren zwei baumlange Kerle: Ferdinand Nothelfer, einer der Sekretäre der Gewerkschaft der Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe, kam aus der Bahnhofswirtschaft in Linz, der andere war Heinrich Matzner. Sie haben mich in die Mitte genommen und gesagt: »Du gehörst eigentlich nicht zu uns, für dich gibt’s die Vereinigung sozialistischer Mittelschüler!« Aber von dort kam ich ja!

Verwirrt über diese ungnädige Aufnahme, wandte ich mich an einen Freund, der den Sprung bereits geschafft hatte, und der hat mich aufgeklärt: Diese Haltung sei auf Victor Adler zurückzuführen, der immer gesagt habe, Intellektuelle müsse man dreimal wegschicken, und wenn sie dann noch immer zur Mitarbeit bereit seien, dann dürfe man sie behalten. Unter denen, die von Victor Adler dreimal weggeschickt worden waren, gab es denn auch eine ganze Reihe von Leuten, die später erbitterte Feinde der Partei wurden, wie zum Beispiel der bekannte Journalist Dr. Wengraf, der im Neuen Wiener Journal Woche für Woche seine Tiraden gegen die Sozialdemokraten losließ. Er war ein sehr begabter Literat, aber Victor Adler hatte ihn nicht haben wollen, und das hat ihn wohl in seinem Stolz maßlos gekränkt.

Das Gespräch mit meinem Freund Baczewski, der aus einem großbürgerlichen Hause kam, hat mir wieder Mut gemacht. Es gehört zu den Paradoxien des politischen Lebens, dass er, dem ich meine Standhaftigkeit verdankte, derjenige war, an dessen Ausschluss aus der Sozialistischen Arbeiterjugend ich kurze Zeit später mitwirken sollte. Er wurde nämlich Kommunist und stand in dem berechtigten Verdacht, innerhalb der Sozialistischen Arbeiterjugend sogenannte Zellenarbeit zu leisten. Jedenfalls brachte ich nun genügend Ausdauer mit und habe die Bewährungsprobe bestanden.

Bald schon entdeckte ich, dass ich mich in diesem neuen Kreis nicht nur gesinnungsmäßig, sondern auch persönlich sehr wohl fühlte. Ich traf dort mit jungen Menschen zusammen, die die Personifizierung all dessen waren, was mich zum Sozialismus hindrängte. Das Erlebnis der letzten Kriegsjahre, die Inflation, die Entwertung aller Werte, die Arbeitslosigkeit, alles das hatte mich aufgerüttelt und in mir das Bedürfnis geweckt, diesem Phänomen auf den Grund zu kommen. Hinzu kam, dass ich in einer intellektuellen Opposition zur Gesellschaft stand. Sonderbarerweise nicht zu meinem Elternhaus, denn im Unterschied zu vielen anderen jungen Leuten war ich mit meiner Familie nicht zerfallen.

Aber die Kluft zwischen den Klassen war mir schon früh deutlich geworden, nicht theoretisch, sondern in ihrer Realität. Beeinflusst wurde ich wohl auch durch die Individualpsychologen, die sich um meinen kranken Bruder bemühten und wochenlang bei uns im Haus verkehrten. Sie waren zum größten Teil Sozialdemokraten. Mein politisches Interesse war also längst geweckt, als ich den entscheidenden Schritt tat. Die Entwicklung war völlig unpathetisch vor sich gegangen, und den Parteibeitritt selbst empfand ich im Grunde als selbstverständlichen Formalakt.

So bin ich in die Bewegung hineingewachsen, und da ich hartnäckig blieb und immer wiederkam, hat man mich eines Tages auch in der Arbeiterjugend gelten lassen. Meine erste Rolle war, dass ich an einem Sprechchor beteiligt wurde. Das war eine vom kommunistischen »Proletkult« wiedererweckte und von der sozialdemokratischen Kulturbewegung übernommene Kunstform. Musisch interessierte und begabte Leute, die in der Lage waren, aus verschiedenen Stücken ein neues zusammenzustellen, sollten den Zuhörern auf künstlerische Art die Geschichte der Arbeiterbewegung vermitteln.


Ein Staatsmann, der österreichische Identität stiftete: Bruno Kreisky vor dem Porträt Kaiser Franz Josephs.


Weltoffen und kommunikativ: Bruno Kreisky präsentiert sich als „Mann auf Draht“. Wahlwerbung auf Zündholzschachtel zur Nationalratswahl 1975 (oben) und Image-Broschüre von Spectator (Hellmut Andics).



Die historische Chance ist da: SPÖ-Spitzenkandidat Bruno Kreisky hat die Nationalratswahl vom 1. März 1970 für sich entschieden – für Österreich der Beginn einer neuen politischen Ära.


Aufbruchsstimmung bei der SPÖ-Führung: Feierlichkeiten zum 1. Mai mit Felix Slavik, Otto Probst, Anton Benya, Otto Rösch und Karl Waldbrunner (von links nach rechts).

Der erste Sprechchor, an dem ich mitwirkte, begann mit Heines Gedicht auf die schlesischen Weber:

Im düstern Auge keine Träne,

sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:

Deutschland, wir weben dein Leichentuch,

wir weben hinein den dreifachen Fluch –

Wir weben, wir weben!

Ein sehr politisches, sehr klassenkämpferisches, sehr antireligiöses Gedicht, das dem Zorn und nur sehr unterschwellig der Hoffnung Ausdruck verleiht.

Wie sehr die Kompilatoren sich über Zeit und Raum hinwegsetzten, geht daraus hervor, dass in diesem Sprechchorwerk auch die düsteren Stellen aus der Braut von Messina Verwendung fanden. Am Schluss dann die Apotheose, die durch mitreißende Arbeiterlieder zum Ausdruck gebracht wurde.

Manchmal trat bei diesen Feiern auch ein Redner auf, der dann irgendwo in der Mitte oder gegen Ende ein paar Worte sagte. Zu einer Jubiläumsveranstaltung hielt Otto Bauer eine kurze, aber wunderbare Rede. Es war großartig, wie er sich dieser Veranstaltung anpasste. Ich werde das deshalb nie vergessen, weil ich das Glück hatte, mit dem Obmann zu Otto Bauer gehen zu dürfen und ihn zu bitten, bei uns zu sprechen. Es war meine erste Begegnung mit ihm. Wir waren sehr stolz, wenn die »Alten« kamen, und hatten das Gefühl, die Veranstalter einer sozialdemokratischen Monsterkundgebung zu sein.

Es gab in den Reihen der Bewegung natürlich auch Lyriker, die für die Sprechchöre gedichtet haben, und Komponisten, die die Musik schrieben. Über diese Kunstwerke würde heute vielleicht so mancher die Nase rümpfen, aber sie waren das, was uns mitgerissen hat.

Leicht wurde es mir in der Arbeiterjugend nicht gemacht. Wenn ich einmal etwas sagen wollte und mich zu Wort meldete, was selten genug der Fall war, haben sie mich meist geflissentlich übersehen – wie der Speaker im britischen Unterhaus einen Hinterbänkler. Für diejenigen, die von vornherein gegen mich waren, war meine Herkunft noch Jahre später ein entscheidendes Argument.

Eines Tages kam, wie gesagt, mein Freund Baczewski in den Ruf, Kommunist zu sein. Er hat sich auffallend still verhalten, so still, dass einige Verdacht schöpften. Nach einer Versammlung nahmen mich die beiden Obmänner zur Seite: »Du, der Baczewski g’fallt uns net! Den haben uns die Kommunisten hereingeschickt. Im Herbst, wenn wir unsere Hauptversammlung haben, wird uns der viel zu schaffen machen. Jetzt brauch’ ma einen, der bereit ist, sich darauf vorzubereiten.« Ich hatte damals schon zahlreiche theoretische Schriften gelesen, vor allem von Lenin, und galt als sehr beschlagen in allem, was die Diskussion mit den Kommunisten betraf. Das hatte eine sehr einfache Erklärung: Ich empfand mich als linker Sozialist und musste mich daher in besonderem Maße mit der Frage beschäftigen, warum ich nicht mit den Kommunisten gehe. Den ganzen Sommer habe ich dann in Trebitsch damit verbracht, Material zu studieren. »Wenn es soweit ist«, habe ich nicht ohne Stolz gesagt, »bin ich auch bereit, von Brünn nach Wien zu fliegen.« Da gab es eine erste Flugverbindung. »Ich werde sparen und mir den Rest ausborgen. Jedenfalls bin ich da, wenn ihr mich braucht.« Diese Bereitschaft hat man mir hoch angerechnet, und als es dann zu der erwarteten Auseinandersetzung mit Baczewski kam, habe ich unsere Sache anscheinend gut vertreten. Von da an galt ich sozusagen als Spezialist für die Bekämpfung von jungen Kommunisten.

Sehr wertvoll in der Auseinandersetzung mit dem Moskauer Kommunismus waren mir die Schriften Max Adlers. Für einen Siebzehnjährigen war es geradezu eine Offenbarung, wenn er bei Adler Sätze fand wie diesen: »So wurde aus der Diktatur des Proletariats die Diktatur über das Proletariat, aus der Diktatur der Klasse die Diktatur einer Partei.« Auch Trotzki hat das in seinem Buch gegen Kautsky Terrorismus und Kommunismus indirekt zugegeben. Kautsky selbst, den Epigonen des Marxismus, zitierte ich allerdings nicht, weil er allgemein als rechtsstehend galt. Meine Trumpfkarte war Lenins Buch Der »Radikalismus«, die Kinderkrankheit des Kommunismus, in dem er mit einer erstaunlichen Offenheit die Schwächen und Fehler der kommunistischen Parteien enthüllte und seine Parteifreunde mit einer Schärfe sondergleichen behandelte.

So habe ich meine politische Laufbahn in der Jugendbewegung meines Bezirkes begonnen, und noch im gleichen Jahr, 1928, wurde ich 3. Obmannstellvertreter der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) auf der Wieden. Die Wieden, der 4. Wiener Gemeindebezirk, ist einer der kleinsten Bezirke und überdies ein bürgerlicher. Die Nazis konnten dort sehr früh Fuß fassen. So entspann sich um jeden einzelnen jungen Menschen schon bald ein harter Kampf zwischen der SAJ und der Hitlerjugend.

Auch Kommunisten zogen ständig vor unseren Heimen auf und ab und haben uns Scherereien bereitet. Ein Kommunist war ein richtiges Schreckgespenst. Da ich vor der Matura stand, hatte ich einige Übung in der Lektüre schwieriger Texte, und so habe ich mich weiterhin in die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus vertieft.

Als im Sommer 1928 die Schüler aus der Pflichtschule entlassen wurden, bekam ich wie immer die undankbarste Aufgabe. Man gab mir eine Liste von 200 Buben und Mädeln, zu denen ich gehen musste, um sie für die sogenannten »Roten 28er« zu gewinnen. Für die SAJ waren sie noch zu jung, und für die Roten Falken waren sie schon zu alt. Also hat man die Bewegung auf Vorschlag von Felix Kanitz, dem bedeutendsten Führer der Sozialistischen Jugend, sehr fantasievoll die »Roten 28er« genannt. Jeder Jahrgang sollte seinen eigenen Namen bekommen, jeweils nur ein Jahr bestehen und dann liquidiert werden: eine großartige Idee. Das war meine erste verantwortliche Tätigkeit.

Ich bin damals in viele Häuser gekommen, wurde oft von den Hausmeistern hinausgeworfen, habe aber doch einen überraschenden Werbeerfolg erzielt. Einer von denen, die ich gewonnen habe, war der kleine Sedlacek, der mich noch heute bei jeder Veranstaltung begrüßt. Das Eis war gebrochen. »Der kann mit die Buam und die Madln reden, der Kreisky«, hieß es, und so bin ich der Führer dieser kleinen Gruppe gewesen. Dann aber haben sich einige der Verantwortlichen gedacht, den Kreisky, den ziehen wir uns zu anderen Aufgaben heran. So wurde ich Obmann des gesamten Bezirkes und kam in die zentrale Obmännerkonferenz der Jugendorganisation. Dort lernte ich viele gute Leute kennen, von denen manche berühmt wurden; unter anderem kam der spätere Bundespräsident Franz Jonas aus diesem Kreis.

Meinen politischen Aufstieg verdanke ich sicherlich zum Teil dem Umstand, dass ich im Frühjahr 1929, nach der Matura, viel Zeit hatte und mich folglich der Zentrale unserer Jugendorganisation bei der Vorbereitung des Internationalen Jugendtreffens zur Verfügung stellen konnte, das vom 12. bis 14. Juli in Wien stattfinden sollte. Es war ein gewaltiges Ereignis für die jungen Sozialisten in ganz Europa, und noch heute – 1986 – gibt es überall auf dem Kontinent Leute, die an das Wiener Jugendtreffen als an ihr größtes Erlebnis zurückdenken.

Bei einer Konferenz in Wien-Favoriten waren der Führer der Gesamtjugendbewegung, Felix Kanitz, und Alois Piperger auf mich zugekommen und hatten gefragt, was ich denn jetzt nach der Matura so vorhätte.


Die SAJ-Gruppe Wieden: letzte Reihe, Zweiter von rechts (halb verdeckt) Bruno Kreisky; in der Mitte, mit weißem Hemd, Ferdinand Nothelfer; links hinter ihm Heinrich Matzner, daneben Camillo Possaner. Ganz links außen Viktor Stedronsky.

»No ja, jetzt werd’ ich mir’s erst einmal gut gehn lassen«, habe ich geantwortet, »und im Herbst werd’ ich auf die Hochschule gehen.« Ich hatte also nichts vor, und da hat mir der Kanitz, der mich gern hatte, erklärt, sie brauchten Leute zur organisatorischen Vorbereitung dieses Jugendtreffens, ob ich mitmachen wolle? Ich war sehr stolz auf dieses Angebot und wurde dem internationalen Organisationsbüro zugeteilt, das man für die Veranstaltung ins Leben gerufen hatte.

Die Vorbereitungen liefen recht gut. Aber angesichts der zu erwartenden Massen überkamen mich doch gewisse Bedenken. Eines Tages meldete ich mich bei Felix Kanitz. »Wenn da tatsächlich 50.000 Leute aus ganz Europa nach Wien kommen, allein 15.000 in Sonderzügen aus Deutschland, das wird doch einen Riesenwirbel in Wien geben. Das werden wir nicht bewältigen. Wo sollen wir die Leute denn hinlotsen, wo ist die Anlaufstelle? In unserem Büro wird das nicht gehen.« Kanitz schaute mich verdutzt an, gab mir dann aber völlig recht: »Ja, das wird ein heilloser Wirbel! Vielleicht könnten wir uns in den Bahnhöfen einrichten … Sag, was schlagst denn vor?«

Da habe ich das denkbar einfachste vorgeschlagen. Die Sonderzüge brauchten von der Grenze nach Wien ungefähr drei bis vier Stunden. Wenn wir unsere Leute mit allen Unterlagen an die Grenze schickten, sie sich im Zug etablierten und alles ausgaben, im einen Abteil die Karten für die Veranstaltungen, im andern Abteil die Formulare für die Quartiere und so weiter, dann war das ganze Problem doch bis Wien gelöst. Kanitz fand meinen Vorschlag gut.

In Pipergers Buch Rote Jugendfahnen über Wien gibt es einen Passus über mich: »Da war der 19-jährige Bruno, Obmann einer Wiener Ortsgruppe, er stellte sich zur freiwilligen Mitarbeit zur Verfügung und übernahm das Expedit der Teilnehmerkarten und die Einteilung der Eintrittskarten für die künstlerischen Veranstaltungen. Eine schwierige, nur durch eine glückliche Verbindung von Selbständigkeit und Präzision zu vollbringende Aufgabe. Und der 19-Jährige, der niemals zuvor eine so schwierige, größte Aufmerksamkeit und Hingabe erfordernde Tätigkeit geleistet hatte, nimmt die Sache in Angriff und führt sie musterhaft durch.« So war ich plötzlich da, und nichts schien meinem Aufstieg entgegenzustehen.

Das Wiener Jugendtreffen war für mich eine große Erfahrung. Zum ersten Mal erlebte ich die Idee der Internationale. Damals lernte ich die wichtigsten europäischen Jugendführer kennen, aus denen später zum Teil bedeutende Politiker wurden: den Holländer Koos Vorrink, nach dem Krieg der populärste Politiker seines Landes, den früh verstorbenen Vorsitzenden der schwedischen Arbeiterjugend, Rikard Lindström, die Dänen Hans Christian Hansen und Hans Hedtoft-Hansen, beide nach dem Krieg Ministerpräsidenten, und natürlich den Sekretär der Sozialistischen Jugendinternationale, Erich Ollenhauer. Wegen seines Humors und seiner rundlichen Bonhomie war Ollenhauer überall gern gesehen. Die Deutschen hielten es in besonderer Weise mit der »jugendbewegten« Einheitstracht, und wenn der kleine, dicke Ollenhauer in kurzen Hosen und blauem Hemd erschien und sich genüßlich eine große Zigarre anstreckte, dann wirkte das schon ziemlich komisch. Auf diesem Jugendtreffen hat sich auch in Österreich das blaue Hemd durchgesetzt, das noch heute von sozialistischen Jugendlichen getragen wird.

Knapp ein Jahr später, zu Ostern 1930, fand in Eisenstadt eine Tagung des Gesamtverbands der Jugendorganisationen statt, an der ich als Delegierter teilnehmen sollte. Als ich den Saal betrat, hörte ich vom Podium, wie einer sagte: Man könne nicht akzeptieren, dass in den Verbandsvorstand als Stellvertretendes Mitglied jemand komme, der ein Intellektueller sei und zudem aus dem Großbürgertum stamme. Man müsse dieser Art von Unterwanderung Einhalt gebieten. Ein zweiter hat das bestätigt und hinzugefügt, man müsse den proletarischen Charakter der Jugendbewegung wahren. Ich habe das eigentlich ganz plausibel gefunden, jedenfalls für vertretbar, bis ich plötzlich erkennen musste, dass kein anderer als ich damit gemeint war. Tief gekränkt ging ich zu meinem Freund Alois Piperger und sagte, ich hätte mich ja nie um eine solche Funktion beworben, warum also diese Gehässigkeit. Ich wolle doch nur meine Arbeit machen. Aber wenn man mich nicht haben wolle, dann ginge ich eben. Ich war, um ehrlich zu sein, den Tränen nahe. Es war eine Mischung von Trauer und Zorn. Piperger hat mir lange zugeredet, und zu guter Letzt bin ich dann doch geblieben. Alois Piperger, später Präsident des Aufsichtsrates der Länderbank, betrachte ich noch immer als meinen wichtigsten politischen Freund. Dass er mich damals zurückgehalten hat und sich auch später oft als wohlwollender älterer Freund erwies, habe ich ihm mein Leben lang nicht vergessen.

Die Delegierten aus den Bundesländern haben auf diese Weise zum ersten Mal von mir erfahren. Da die Kritik an mir von den Wienern kam – die erst später meine guten Freunde wurden –, beharrten sie darauf, dass ich meine Kandidatur aufrechterhalte. So habe ich eine ganz komfortable Mehrheit bekommen, ungefähr die gleiche wie bei meiner Wahl zum Parteivorsitzenden 1967. Da waren es wieder vor allem die Bundesländer, die mich gewählt haben.

Ich war nun Ersatzmitglied des Verbandsvorstandes und gehörte damit zu denen, die an den Sitzungen des Führungsgremiums teilnehmen durften. Etwas später wurde ich Vollmitglied, und auf dem Verbandstag in Salzburg, 1933, avancierte ich zum Vorsitzenden des Reichsbildungsausschusses. Damit trug ich die Hauptverantwortung für die politische und kulturelle Erziehungsarbeit der Sozialistischen Arbeiterjugend.

Es fällt mir schwer, retrospektiv die Gefühle zu schildern, die mich nach dieser Wahl beseelt haben. Als ich den Saal verließ, war ich ganz einfach glücklich. Mehr wollte ich für mich in dieser Zeit nicht erreichen. Ganz bestimmt wollte ich nicht der erste Mann der Arbeiterjugendbewegung werden, weil ich mir immer vorstellte, dass ihr Wortführer, der erste Mann oder die erste Frau, ohne Zweifel aus der Arbeiterjugend kommen musste. Ein Sohn aus bürgerlichem Hause besäße bei aller Integration in den Kreis der jungen Arbeiter und Angestellten nicht jene absolute Glaubwürdigkeit, die man hierfür braucht. Man darf ja nicht vergessen, dass eine solche Funktion zwei Seiten hat. Zum einen ist man der Vertrauensmann einer sozialen Gruppe, aber andererseits muss man auch zu Zeiten ihr Wortführer sein. Der Beste in meinen Augen war also der, der beides in idealer Weise verband, und wenn es einen solchen gab, dann war es Roman Felleis.

Roman Felleis war mein engster Freund. Ich habe ihn aufrichtig bewundert, und er verdient in diesem Buch eine Schilderung schon deshalb, weil er den seltenen Typ darstellte, der alles, was man sich wünschen kann, verkörpert. Er war ein Arbeiterbub im echtesten Sinn des Wortes: armer Leute Kind, die aber sehr auf sich und ihren Sohn geschaut haben. Sicher, er sprach »Erdbergerisch«, die Sprache eines besonderen Wiener Stadtteiles, aber er beherrschte auch ohne Mühe Wiener Hochdeutsch. Seine Ausdrucksfähigkeit war bemerkenswert. Er war bildungshungrig, nicht um der Karriere willen, sondern, wie man heute sagen würde, der Lebensqualität wegen. Er war mutig, opferbereit und von einer menschlichen Wärme, die mir heute noch bewusst ist; durch materielle Werte absolut unbestechlich, jahrelang arbeitslos und doch rastlos tätig. Was ich an ihm besonders geschätzt habe, war sein Humor. Noch den ernstesten Situationen haben wir eine heitere Seite abgewinnen können.

Als ich im Juni 1945 von seinem Tod im Konzentrationslager erfuhr, habe ich in tiefer Erschütterung einen Nachruf verfasst, aus dem ich zitieren möchte: » … Roman Felleis war ein ungewöhnlicher Mensch, und trotzdem waren sein Leben und sein Tod ähnlich dem Leben und dem Tod vieler Tausender Unbeugsamer aus unseren Reihen. Wie sie, kam er aus den Reihen der jungen Arbeiterschaft, weihte seine Dienste der Arbeiterbewegung, hielt ihr die Treue in den Zeiten der Niederlage, blieb ungebrochen auch in den düstersten Tagen der Hoffnungslosigkeit und musste sein Leben lassen in den furchtbaren Mordfabriken der Nazisten.

Roman Felleis war ein leuchtendes Beispiel für den Aufstiegswillen des jungen Arbeiters. Seine Schulbildung würde gemeiniglich als ›mangelhaft‹ bezeichnet werden. Das war nicht sein Fehler, sondern der der Gesellschaftsordnung, in der er aufwuchs …

Trotz der ›mangelhaften‹ Schulbildung wusste Roman Felleis mehr von den Zusammenhängen des gesellschaftlichen Lebens, waren sie ihm klarer als den meisten akademisch Gebildeten. Ausgerüstet mit einem scharf denkenden und rasch arbeitenden Gehirn, konnte er sich die kompliziertesten Erkenntnisse rascher als die meisten aneignen. Roman Felleis war nicht nur ungewöhnlich begabt, er hatte eine Eigenschaft, die nicht immer mit Begabung zusammenfällt, er war auch fleißig. Alle Erkenntnisse, erworben durch das Studium wissenschaftlicher Werke, gingen bei ihm durch den Filter einer bei einem so jungen Menschen nicht alltäglichen Lebenserfahrung.«

Natürlich wäre es falsch zu glauben, die Jugendbewegung sei ein einziger Rausch der Kameradschaft gewesen. Es gab Menschen, die dem anderen den Aufstieg nicht gönnen wollten, und es war auch nicht jeder jedem gleich sympathisch. Aber alles das, was die menschliche Gemeinschaft im Negativen kennzeichnet, Intrigensucht, Feindschaft, Antipathie, war unter den Jungen damals sehr viel weniger entwickelt. Fast wäre ich geneigt zu sagen, dass es sich bei den Jungen um bessere Menschentypen handelte. Vielleicht ist das auch eine nostalgische Verklärung.

Ich weiß nicht, ob ich mit Gleichgesinnten gegen andere intrigiert habe, jedenfalls vorgeworfen wurde es mir eigentlich nie. Ich hatte auch wenig Gelegenheit dazu. Und dennoch waren einige meiner Genossen in Wien darauf aus, mir ein Bein zu stellen. Es gab in Niederösterreich ein paar ländliche Bezirke, die ohne Leitung waren, obwohl sie von Wien aus hätten betreut werden sollen, weil das aufgrund der damaligen Verkehrssituation am einfachsten gewesen wäre. Da haben einige hinterlistig gemeint: »No, des soll der Kreisky machen!« Insgeheim hofften sie natürlich, dass ich mich dabei »derstess’n« werde, wie man auf wienerisch sagt, weil sich dort noch jeder »derstess’n« hat.

Aber das, was mir das Genick hätte brechen sollen, ist ein großer Erfolg für mich geworden. Die drei Bezirke Purkersdorf, Klosterneuburg und Tulln waren der steinigste Boden, auf dem ich bis dahin gearbeitet hatte. Das Tullnerfeld war ein extrem agrarisches Gebiet und eine der schwärzesten Bastionen, die es in Österreich gab. Klosterneuburg war eine reine Bürgerstadt, mit hoher Arbeitslosigkeit, und Purkersdorf war von alters her eine Art Sommerfrischengebiet. Noch heute zeugen viele der Häuser dort von der Pracht des Fin de Siècle. Nicht zu Unrecht werden Stücke von Schnitzler, Hofmannsthal und anderen Wiener Autoren dieser Zeit mit Bühnenbildern inszeniert, die diese Sommervillen des Bürgertums nachahmen. Immer im Mai ist man hinausgezogen in seine Villa, oder man hat eine gemietet, und dort verlebte man dann den Sommer. Während die Eltern einige Wochen nach Abbazia in Istrien oder in einen anderen Kurort der Monarchie fuhren, verbrachten die Kinder die Sommerfrische in der zauberhaften Umgebung Wiens.

Diese drei Bezirke also waren mir zugeteilt worden, und im Tullnerfeld musste man sich schon etwas einfallen lassen, um die Bauern zu unseren Veranstaltungen zu locken. In einem besonders ungastlichen Ort wollte man uns nicht einmal ein Lokal zur Verfügung stellen. So kamen wir auf die Idee, den sehr populären Generalstabschef der Isonzoarmee zu gewinnen, den unter dem Eindruck des Krieges zur Sozialdemokratie übergetretenen späteren Bundespräsidenten Theodor Körner. Ich habe Körner gebeten, über die Isonzoschlachten zu reden, weil die meisten Bauern im Tullnerfeld am Isonzo dabeigewesen waren und ihn deshalb kannten. Er wisse ja, sagte ich ihm, dass wir eine politische Rede erwarteten, aber in Sieghartskirchen könnten wir so etwas nicht ankündigen. Nach ein paar einleitenden Sätzen über die Isonzoschlachten solle er dann das Thema wechseln.

So geschah es. General Körner hatte eine für damalige Verhältnisse große Zuhörerschaft, und es brauchte lange Zeit, bis die Bauern dahinterkamen, um was es sich wirklich handelte. Eine deutlich spürbare Wut begann sich aufzuspeichern, und kaum hatte Körner zu Ende gesprochen, schwang ich mich auf mein Fahrrad und machte mich aus dem Staub. Obwohl sie mich überall abgepasst haben, erreichte ich glücklich die nächste Bahnstation. Ein Bauer aus Sieghartskirchen, der später im Aufsichtsrat der Länderbank saß, hat viele Jahre später zum Generaldirektor der Länderbank, der ebenfalls aus Sieghartskirchen stammte, gesagt: »Weißt, was mich heut’ noch gift? Dass mir den Kreisky damals nicht derwischt haben.«

Im Laufe der Zeit kümmerte ich mich immer stärker um diese niederösterreichischen Bezirke. Ich habe die mühevolle und bisweilen hoffnungslos scheinende Arbeit in der Provinz sehr gern gehabt, und ich habe dort viele Freunde gefunden. Nach dem Krieg bin ich nach Niederösterreich zurückgekehrt, habe dort 1956 mein erstes Parlamentsmandat bekommen und wurde 1966, acht Monate vor meiner Wahl zum Parteivorsitzenden, Obmann dieses zweitgrößten Bundeslandes. Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass ich in Niederösterreich meine politische Heimat gefunden habe, und noch immer interessiert mich sehr, was in diesen Orten los ist. Es gibt wohl kaum ein Dorf in Niederösterreich, in dem ich nicht mindestens ein- oder zweimal gewesen bin.

Auch als Parteivorsitzender habe ich den 1. Mai immer in Niederösterreich wahrgenommen. Am Vormittag nahm ich an der Wiener Großkundgebung teil, am Nachmittag sprach ich in irgendeiner kleinen Gemeinde meines politischen Heimatbezirkes, und immer freute ich mich aufs Neue, wenn ich unter den Zuschauern Frauen und Männer aus meiner Jugendzeit traf: Man hat oft eingewendet, dass ich kein Niederösterreicher, sondern eine Art Leihgabe aus Wien gewesen sei. Aber wenn ich meine Schulzeugnisse aus der Monarchie zur Hand nehme, dann lese ich dort: Wien in Niederösterreich. Und so war es auch. Es war selbstverständlich, dass Wien die Hauptstadt Niederösterreichs war. Erst neuerdings ist man auf die skurrile Idee gekommen, eine künstliche Hauptstadt zu schaffen. Es ist mir unbegreiflich, wie man auf ein so gewaltiges kulturelles und gesellschaftliches Zentrum wie Wien verzichten kann. Wie hat doch Herzmanovsky-Orlando gesagt: »Auf was die Fachleut’ alles draufkommen, wenn man sie lasst«– auch Quasi-Politiker.

Denke ich zurück an meine Jahre in der sozialistischen Jugendbewegung, muss ich mir selber immer wieder Grenzen setzen. Ich empfinde diese Jahre noch heute als so erlebnisreich, dass ich fast geneigt wäre, sie zu den schönsten meines Lebens zu rechnen. Man muss die Leute gern haben – dieses Wort Victor Adlers war von früh auf mein ethischer Grundsatz in der Politik. Ich habe mich in der Jugendbewegung unendlich wohl gefühlt, und das Zusammensein mit Menschen, die über den Tag hinaus lebten, große Ziele verfolgten und doch zugleich mit beiden Beinen fest auf der Erde standen, sehr genossen. Auch habe ich dort Freunde gefunden, mit denen ich den größten Teil meiner freien Zeit verbrachte.

Meinem Äußeren nach und meinem Auftreten nach war ich, was man unter einem jungen Mann aus gutem Hause verstand. So habe ich gar nicht erst versucht, mich in meiner Kleidung, in meinem Gehaben oder in meiner Sprache anzubiedern, bin also nicht, wie das damals und auch heute allerorten üblich ist, in irgendeiner Einheitskleidung herumgegangen. Vielmehr galt ich immer als sehr gut gekleidet.

Nun hatte es damit allerdings etwas Besonderes auf sich.

Ich hatte eine Tante, eine Schwester meiner Mutter, die mich wie ihren eigenen Sohn geliebt hat und die auch ich sehr gern hatte, weil sie voller Lustigkeit war. Ihr Sohn galt als große Begabung; schon in jungen Jahren war er einer der Direktoren einer Wiener Automobilfabrik geworden und war mithin das, was man in Wien leichtfertig ein Genie nennt.

Es gab damals in Österreich eine ganze Reihe von Automobilfabriken. Steyr, eine über die Grenzen hinaus bekannte Automarke, hatte einige sehr geglückte Modelle auf den Markt gebracht, unter anderem ein Auto für den Taxiverkehr, das noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg gefahren wurde und immer wieder repariert werden konnte, weil es eine ausgezeichnete Werkmannsarbeit war. Zu den schönsten Automobilen der Zeit gehörte der Austro-Daimler. Dann gab es noch den österreichischen Rolls-Royce, er hieß Gräf & Stift.

Ich halte es für einen folgenschweren Fehler, dass wir uns 1955 nicht entschließen konnten, die Automobilproduktion in Steyr wieder aufzunehmen. Steyr war ein Markenname, und wir hatten hervorragendes Personal. Wir hätten leicht einen Mittelklassewagen produzieren können und eines Tages vielleicht einen ähnlichen Erfolg am Weltmarkt erzielt wie Volvo. Als Außenminister habe ich oft und oft mit dem damaligen Generaldirektor der Steyr-Werke gesprochen und ihn aufgefordert, sich doch nicht so stark auf eine Branche einzulassen, in der man mit gewaltigen Weltfirmen nicht konkurrieren könne – ich meine die Landmaschinenerzeugung. Man solle sich auch nicht mit dem Finishing des italienischen Fiats begnügen, wo bestenfalls einige wenige Stunden österreichischer Arbeit drinsteckten. Der Generaldirektor aber hielt die Krisenanfälligkeit der Automobilindustrie für sehr groß. Die Steyr-Werke waren in den dreißiger Jahren tatsächlich in besonderem Maße von der Krise erfasst worden; die Stadt Steyr hatte die meisten Arbeitslosen in Österreich gehabt und war eine Stadt des Jammers und des Elends geworden. Die Erinnerung an diese Zeit veranlasste ihn, lieber Geld zu horten, als eine neue Automobilproduktion in Angriff zu nehmen.

Mein Cousin war früh zuckerkrank geworden und starb. Für meine Tante war dies ein unfassbarer Verlust; dass sie überlebte, grenzte an ein Wunder. Nach dem Tod ihres einzigen Sohnes wendete sie ihre ganze Zuneigung mir zu, und bald nahm ich die Stelle eines Wahlsohnes bei ihr ein. Sie bat mich sogar darum, ihr die Freude zu machen, seine Kleidungsstücke zu tragen. Da mein Cousin ein eleganter Herr war und bei den besten Schneidern, Hemdenmachern und Schustern arbeiten ließ, bin ich in diese Art der Equipierung gewissermaßen hineingewachsen. Ich muss gestehen, dass ich nichts dagegen hatte. Noch heute trage ich – ohne Rücksicht auf das, was gerade modern ist – im Wesentlichen die gleichen Anzüge, die gleichen Schuhe, die gleichen Hemden und die gleichen Krawatten.

Das war aber auch alles, was ich mit meinem Cousin gemeinsam hatte, denn er war ein geschworener Feind der Sozialdemokraten. Ich erinnere mich noch, wie er anlässlich eines großen Automobilarbeiterstreiks im Familienkreis hasserfüllt von den »Roten« sprach, und wie gern ich ihm widersprochen hätte, nur fehlte mir damals noch die nötige Sachkenntnis. Meine Unfähigkeit, das Gewusste auch zu formulieren und mit Argumenten aufzuwarten, hat mich zum ersten Mal gelehrt, wie wichtig für eine Diskussion die gründliche Vorbereitung ist. Gefühl und Instinkt reichen nicht aus. Ein Sozialdemokrat, hat Willy Brandt einmal gesagt, muss bereit sein, täglich aufs neue zu überzeugen. So habe ich es immer gehalten. Ich habe mich nie wissentlich in eine Diskussion eingelassen, wenn ich das Gefühl hatte, ich wüsste über die Zusammenhänge zu wenig Bescheid.

Auf der anderen Seite war ich sehr streng mit mir selbst. Ich bin während meines ganzen Lebens kaum je in einem Nachtlokal gewesen. Nicht, dass ich Nachtlokale und Leute, die dort verkehren, verachtete, aber es hat nicht zu meinem Lebensstil gepasst. An ein einziges Mal erinnere ich mich: Mein erster Jugendobmann, Ferdinand Nothelfer, wollte, dass ich am Abend mit ihm agitieren gehe. »Wo gehst denn hin?« hab’ ich ihn gefragt. »Ins ›Moulin Rouge‹.« Wir haben uns fein herausgeputzt – für ihn war der Smoking die Berufskleidung – und sind ins »Moulin Rouge« gezogen. Als gleich ein Kübel mit einer riesigen Champagnerflasche an den Tisch gebracht wurde, ist mir ganz schwindlig geworden. Ich habe mich über den Tisch gebeugt und leise gefragt: »Ja, sag amal, wer zahlt denn das?« Er hat auf mich geschaut mit einem müden Lächeln, wie es Kellner manchmal an sich haben, und geantwortet: »Der b’soffene ungarische Graf da drüben.« Nobel wie er war, hat er wohl darauf verzichtet, die Rechnung zu prüfen.

Die sozialdemokratische oder sozialistische Arbeiterbewegung hat seit Anfang dieses Jahrhunderts in den demokratischen Staaten Europas gewaltige gesellschaftliche Veränderungen bewirkt. Die sozialistischen Parteien sind somit Parteien im historischen Sinne geworden. Zwar haben sie die Grundprinzipien der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht verändert, aber durch ihre gesellschaftspolitischen Ideen haben sie ihr ein etwas menschlicheres Gepräge verliehen. In einigen Ländern droht durch den sogenannten »Neokonservativismus« allerdings eine Rückkehr zu den alten Zuständen. Die Sozialdemokratie müßte, um dem zu begegnen, wieder eine große Aufklärungs- und Kulturbewegung werden, freilich in einem ganz neuen Sinne. Früher hat sie neue Institutionen geschaffen oder vorhandene in einer Weise verändert, dass sie der nach Kultur hungernden Elite der Arbeiterbewegung entsprachen. Dazu gehören die Volkshochschulen in Skandinavien, die der Arbeiterbewegung trotz ihrer Unparteilichkeit gewaltige Dienste erwiesen haben, und alle Arten von Volksbildungseinrichtungen. In Österreich war eine davon die sogenannte Arbeitermittelschule, wo Arbeiter und Angestellte am Abend Unterricht von Mittelschullehrern erhielten; auf diese Weise wollte man ihr intellektuelles Bewusstsein stärken und sie auf die Matura vorbereiten.

An der Wiener Arbeitermittelschule unterrichtete unter anderen Otto Koenig, ein witziger und wortstarker Theaterrezensent. Das Theater war seine Leidenschaft, und als alter Sozialdemokrat wollte er auch gerne junge Arbeiter und Angestellte in diese Welt einführen. Das Fach nannte er »Dramaturgie«. Wegen dieser Dramaturgiestunden gab es bei den für die Arbeiterjugendbildung Verantwortlichen regelmäßig Verdruss. Der Arbeitermittelschule insgesamt stand man sehr positiv gegenüber, aber Robert Danneberg, eine der großen Persönlichkeiten der Partei, hat immer wieder gefragt: »Wozu braucht ein Arbeiterbub Dramaturgie?« Ich antwortete dann, dass das in Wirklichkeit qualifizierte Literaturgeschichte sei, die da auf besondere Weise vorgetragen werde. Ganz überzeugen konnten wir Danneberg wohl nicht.

Warum ich diese Episode erzähle? Weil aus dieser Arbeitermittelschule einer der bedeutendsten Dramatiker des modernen Österreich hervorgegangen ist: Fritz Hochwälder. Ich lernte ihn in den Dreißigerjahren kennen. Er war damals arbeitsloser Tapezierer – man soll über Tapezierer keine voreilige Meinung haben - und trug in den Jugendgruppen unter dem Titel Ernstes und Heiteres Stücke vor. Die Arbeiterbildungsbewegung zahlte für solch einen Abend fünf, manchmal sogar zehn Schilling. Das Niveau war sehr unterschiedlich. Viel Erfolg hatten diejenigen, die alte Kalauer vortrugen und damit besonders bei den älteren Leuten Anklang fanden, während die Jungen kritischer waren. Hochwälder war sehr geschätzt. Er trug Brecht, Tucholsky, Becher, Mehring, Kästner und andere vor. Eines der schönsten Gedichte, das ich bei einer solchen Gelegenheit zum ersten Mal hörte, war die Ballade von den Augen des Heizers von Jiří Wolker. Sie schildert die Tragik eines Mannes, der eine Dampfmaschine bedient, damals die übliche Energiequelle der Industrie. Mit jeder Schaufel Kohle warf er ein Stück seiner Augen in die Glut.

Wenn aus der Arbeitermittelschule mit ihrem Fach »Dramaturgie« auch nur ein Dichter oder Gelehrter vom Format Fritz Hochwälders hervorgegangen ist, dann hat sie sich gelohnt. Darüber hinaus aber gab die Arbeiterkulturbewegung den Menschen ein Gefühl für das, was man heute als »Lebensqualität« bezeichnen würde. Die Institutionen dieser Bewegung haben das Leben für sie erst lebenswert gemacht; Lebensqualität war also kein Luxus, sondern eine existentielle Frage. Die meisten waren arbeitslos, und wenn sie nur ein Stück Brot und eine Erbsensuppe hatten, waren sie zufrieden.

Glücklich waren sie, wenn wir ihnen am Sonntagvormittag in einem gemieteten Kino die Dreigroschenoper oder einen der großen Filme von G. W. Pabst vorführten; als Arbeitslose konnten sie sich eine Kinovorstellung nicht leisten. Wir haben große und kleine Arbeiterbüchereien aufgebaut, in denen Werke zur Verfügung standen, die die öffentlichen Bibliotheken gar nicht erst anschafften, und wir haben den Menschen die Möglichkeit geboten, mit den »Naturfreunden« hinaus in die Natur zu kommen. Dieser Verein – die Grünen von damals – wurde zum Kern einer gewaltigen Massenbewegung; »weg von den Wirtshäusern« lautete die Parole. Auch gesundheitspolitisch war diese Bewegung bedeutsam; Wien galt als die Stadt der Tuberkulose, die auch »Morbus Viennensis« genannt wurde.

Die Arbeiterbewegung wurde für viele zur neuen, zur eigentlichen Heimat. Man vermittelte ihnen das Gefühl, dass ihr Leben trotz allen Elends menschenwürdig sei, und der alte Heimatbegriff verblasste immer mehr. Er hatte seine materielle Berechtigung verloren; das Leben in der »Heimat« wurde für Hunderttausende Arbeitslose immer schwieriger. Aus der Erinnerung an diese Jahre und aufgrund meiner Erfahrungen in Skandinavien war es eine zentrale Idee meiner Politik nach dem Krieg, den Begriff eines neuen österreichischen Patriotismus zu verwirklichen. Ich habe immer wieder gesagt: Was wir Sozialdemokraten wollen, ist, Österreich zu einer guten Heimat des Volkes zu machen. Mit diesem »Österreichischen Weg«– das war die Parole – haben wir immer wieder die Mehrheit gewonnen, und wenn ich vor älteren Leuten, die wussten, wovon ich redete, sagte: »Niemals ist es so vielen Menschen so gut gegangen wie jetzt in Österreich«, erntete ich immer stürmischen Beifall.

Verglichen mit heute war die Jugendbewegung meiner Zeit nicht nur zahlenmäßig stark, sondern genoss auch innerhalb der Partei eine sehr viel größere Wertschätzung. Da die Partei sich in Opposition befand und im Kampf gegen eine politische Übermacht stand, bedurfte sie zur Durchführung ihrer politischen Arbeit dringend der jungen Menschen. Heute vermissen viele in der Bewegung das Kämpferische. Es ist sehr schwer für junge, aktive Kräfte, in einer Partei zu wirken, die als Koalitionspartner Regierungsverantwortung mitzutragen hat. Regiert die Partei allein, wird sie immer unter dem Zwang stehen, ihre politischen Entscheidungen den kritischen jungen Leuten aus den eigenen Reihen zu erklären. In einer Koalition mit sogenannten bürgerlichen Parteien aber muss sie nicht nur ihre eigene Politik rechtfertigen, sondern auch die Politik des Koalitionspartners, und es ist schwer, jungen, politisch kämpferischen Menschen die diffizilen Manöver in einer Koalitionsregierung plausibel zu machen. Die Jungen legen dies schnell als politische Schwäche aus, berufen sich auf den einstigen Kampfgeist der Bewegung und üben härteste Kritik an der Partei, was aber nur dazu führt, dass diejenigen vertrieben werden, die sie durch diese Kritik zu gewinnen vorgeben. Die These, dass man junge Leute leichter gewinnt, wenn man sich kämpferisch zeigt, ist falsch; was soll einen jungen Menschen veranlassen, sich einer Partei anzunähern, von der er bestenfalls sagen kann, dass sie die Tätigkeit der Jungen toleriert.

Heute gibt es allerdings eine neue politische Situation, die es der sozialistischen Jugendbewegung leichter macht, den kämpferischen Geist der Jungen voll zum Einsatz zu bringen, ohne dabei den Zusammenhalt mit der Partei aufs Spiel zu setzen. Im Vordergrund steht das sehr berechtigte Interesse an der Erhaltung des Friedens. Ohne mich an dieser Stelle lange mit einer sehr komplizierten Materie auseinanderzusetzen: Es geht ganz einfach um das Leben auf diesem rollenden Planeten. Den tiefen Zukunftspessimismus der Jungen verstehe ich gut. Da ich in meinem Leben Zeuge furchtbarer Ereignisse war, sage ich mir, wenn nur ein Bruchteil dessen, was an sträflichem Leichtsinn, an grenzenloser Dummheit und an politischen Verbrechen zwischen den beiden Weltkriegen geschehen ist, wieder geschieht, dann ist das Unglück tatsächlich unaufhaltsam. Hier sehe ich die große Aufgabe der jungen Generation: Sie darf sich nicht irre machen lassen, auch nicht von Politikern, die sich aus sogenannten realpolitischen Erwägungen möglichst wenig Opposition wünschen. Das ewige Beschwichtigen und Beschwören, man möge doch die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nicht stören, darf uns nicht davon abhalten – als echte Freunde Amerikas –, wo es notwendig ist, unsere Meinung zu sagen. Es handelt sich ja in Wirklichkeit nicht um das Wohl Amerikas, sondern um die politischen Ansichten seiner herrschenden Administration. Die Einstellung, dass man um keinen Preis Kritik an dieser Administration üben dürfe, entspringt demselben Geist, mit dem man 1914 und 1938 in das Unglück rannte – nur mit dem Unterschied, dass dieser Geist damals als offizielle Politik Österreichs und Deutschlands galt. Gerade weil wir wissen, wie wenige es damals waren, die die Schuld an dem Unglück trugen, und dass es heute vieler Millionen bedarf; um eine ähnliche Entwicklung zu verhindern, dürfen wir die Auseinandersetzung nicht scheuen. In solchem Engagement sehe ich die Aufgabe der Jungen. Das Maß, in dem sich die Sozialdemokratie hier einsetzt, wird über ihre Zukunft entscheiden. Sie muss klare Fronten beziehen und darf keinen Zweifel aufkommen lassen, ganz gleich, ob sie in der Regierung oder in der Opposition ist. Es hat geradezu die Bedeutung einer Vision, sich vorzustellen, dass die Sozialdemokratie ein echter Faktor einer permanenten Friedensbewegung wird. Trotzki sprach einmal von der Notwendigkeit der »permanenten Revolution«. Wir müssen überzeugend dartun, dass wir für den permanenten Friedenskampf sind, dass wir durch unsere Politik das Leben in Frieden gewährleisten.

Ein anderes großes Gebiet, auf dem die Jungen sich engagieren können, ohne dabei mit der Sozialdemokratie in Konflikt zu geraten, ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Der Anteil der Jugendlichen unter den Arbeitslosen ist überdurchschnittlich hoch. Es muss von Sozialdemokraten und demokratischen Sozialisten ein sehr viel gründlicheres und sehr viel wirksameres Eingreifen verlangt werden. Auch sollte man weniger beckmesserisch an die Probleme herangehen. Über John Maynard Keynes schrieb der berühmte österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter 1946, dass er am Anfang immer eine Vision gehabt habe. Selbst die Ökonomen kommen ohne Visionen nicht aus, nicht einmal die konservativsten; sie sprechen sogar von »monetaristischer Revolution«. Es ist schon bemerkenswert, dass, während man sich in Europa hütet, das Wort Revolution zu verwenden, es in den Vereinigten Staaten bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit gebraucht wird. Es scheint ähnlich einem Muttermal zu sein: Man wird es nicht los.

Wenn also selbst die Ökonomie ohne Visionen nicht auskommt, so müssen erst recht wir demokratischen Sozialisten im Hinblick auf die ökonomische Entwicklung den Mut zu Visionen haben. Wie anders sollten wir der Situation in unseren modernen Industriestaaten mit Mitte der 1980er Jahre über dreißig Millionen Arbeitslosen – in den OECD-Staaten – Herr werden? Wir müssen uns um die dauernde Aktualisierung des Problems bemühen und konkrete Vorschläge zu seiner Überwindung machen. Dabei dürfen wir uns vor einer phantasievollen Politik nicht scheuen. Für konservative Ökonomen ist die Arbeitslosigkeit ja nur mehr ein als Dauererscheinung akzeptiertes Phänomen, geradezu eine innere Notwendigkeit unseres Wirtschaftslebens.

Ein drittes Feld, auf dem es der politischen Vitalität der Jungen bedarf, betrifft die Umweltpolitik. Die Problematik ist durchaus neu: Man hat die Umweltpolitik bisher meist als kommunalpolitische Angelegenheit betrachtet, als Aufgabe von Naturschutzvereinen. Doch auch diese Frage ist für die Zukunft unserer Welt von entscheidender Bedeutung: Sind wir in der Lage, die Produktionsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, vom reinen Profitdenken wegzubringen, ein neues Verhältnis von Ökonomie und Ökologie zu entwickeln und dadurch Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, wie es sie bisher nicht gab? Gelingt dies, dann wird man auch von dieser Seite der Arbeitslosigkeit zu Leibe rücken können.

Eine letzte Frage von entscheidender Bedeutung, die ich hier anschneiden möchte, ist die Frage nach neuen Beziehungen zwischen den Industriestaaten und den Ländern der Dritten Welt. Wir haben auf diesem Gebiet einen totalen wirtschaftlichen und politischen Bankrott erlebt. Alles, was sich als unwirksam erwiesen hat, muss über Bord geworfen werden, vor allem auch die These, dass Entwicklungshilfe nichts mit der eigenen Wirtschaft zu tun habe. Entwicklungshilfe kann nur wirksam sein, wenn ihre Bedeutung für die eigene Wirtschaft erkannt wird. So wie wir heute bereits die Möglichkeiten unseres Produktionsüberschusses im Hinblick auf die Staaten der Dritten Welt überlegen, so müssen wir uns auch daran gewöhnen, den großen Überschuss an Intellektuellen, den uns die kulturelle Demokratisierung schafft, in Entwicklungsländer einzubringen. Die europäischen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts haben Hunderttausende Bürger zu Soldaten gemacht, die der Eroberung und Erhaltung ihrer Kolonialgebiete dienten. Damit ist es vorbei. Und könnte uns eine schönere und nützlichere Aufgabe zufallen als die, Ärzte, Lehrer und Leute aus anderen Berufen, von denen wir bald viel zu viele haben werden, dazu zu bringen, in die Welt hinauszuziehen und dort zu helfen, wo an diesen Berufen Mangel herrscht? Wir haben oft von einem neuen Menschenbild gesprochen. Hier könnten wir es mitgestalten, und zwar im globalen Sinne.

Erinnerungen

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