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Schicksal und Politik

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Am 21. November 1916 starb der alte Kaiser Franz Joseph. Der Leichenzug führte durch Mariahilf, und die Kinder in den Bezirken, durch die er von Schönbrunn zur Stadt hineinzog, mussten Spalier stehen. Es war ein eiskalter, grausiger Tag, und wir froren entsetzlich. Als der Trauerkondukt endlich herankam, schien es mir, als fülle sich die ganze Welt mit Schwarz. Es war eine einzige Demonstration der Schwärze, und in den Gesichtern der Menschen waren Schmerz und Sorge zu lesen; was mochte jetzt werden? Als ich nach Hause zurückkam, musste ich meinen Mantel anbehalten, weil es keine Kohlen gab. Es war ein Tag der Kälte und Düsternis in jedem Sinne, und noch in der Erinnerung hat er etwas Unheilvolles.

Vom alten Kaiser wurde in unserer Familie mit großem Respekt gesprochen, und zwar in beiden Familien, in der mährischen Familie meiner Mutter wie in der vom Böhmischen her beeinflussten Familie meines Vaters. Sein Bild hing allerdings nur in der Familie Felix. So lange der Kaiser lebte, hat sich niemand vorstellen können, dass es jemals etwas Anderes geben würde. Natürlich kam dann ein neuer Kaiser. Auch wenn der neue politische Reformen im Sinn haben mochte und sich modern denkende Ratgeber holte, sprachen doch die Umstände gegen ihn. Der Krieg ist eine schlechte Zeit, Reformen zu verwirklichen. Vom ersten Tag an haben die meisten in Karl einen schwachen Monarchen gesehen.

Der Thronfolger war nicht zuletzt wegen seines Jähzorns berüchtigt. Ich selbst habe noch, als Kabinettsvizedirektor beim Bundespräsidenten Körner, einen alten Burg-Gendarmen kennengelernt, den Herrn Ferenc. Das war ein baumlanger Kerl, der nur deshalb Burg-Gendarm geworden war, weil er einmal, wie mir der alte Baron Wilhelm Klastersky erzählte, den Thronfolger bei einem seiner Wutausbrüche beim Rock gepackt und ein bisschen unsanft zur Ruhe gebracht hatte. Danach konnte er natürlich nicht in der Umgebung des Thronfolgers bleiben, und so wurde er zur Burg-Gendarmerie versetzt. Später, in der Zweiten Republik, hat er dem ersten und dem zweiten Bundespräsidenten gedient und ist erst in hohem Alter gestorben. Sehr viel über die Zustände am Hof lernt man aus den Gedichten der Kaiserin Elisabeth. Sie sind ein bisschen im Stil ihres Lieblingsdichters Heinrich Heine verfasst.

Zu allem Unglück hatte der neue Kaiser auch noch eine Frau, die fortwährend zu Spekulationen Anlass gab. Jedermann glaubte, dass Kaiserin Zita aus dem Hause Bourbon-Parma einen großen Einfluss auf Karl hatte. Alle waren sich einig darin, dass sie die sogenannten Sixtusbriefe veranlasst hatte, in denen Karl Frankreich ein Friedensangebot unterbreitete, das die Abtretung von Elsaß-Lothringen an Frankreich vorsah. Da Zita im österreichischen Volk als Italienerin galt, stand sie ohnehin in dem Ruf, eine Verräterin zu sein. Seit Italien 1915 aus dem Dreibund ausgeschieden war, galt es als Land des Verrats schlechthin, und dieses Bild wurde nun auf die Person der Kaiserin übertragen.

Zita soll vor einigen Jahren gesagt haben, sie könnte sich durchaus vorstellen, dass ich unter ihrem damals schon längst verstorbenen Mann Ministerpräsident gewesen wäre. Ich glaube, das war der Versuch einer Captatio als Dank für meine Bemerkung, das Habsburger-Gesetz, das heißt die darin geforderte Verzichtserklärung auf alle Herrschaftsansprüche, habe für sie keine Gültigkeit, da eine weibliche Thronfolge ohnehin nicht in Betracht komme. Regierungschef in einer Habsburger Monarchie – dazu reicht meine Vorstellungskraft nicht aus, und wahrscheinlich wäre ich allenfalls bis an die Pforte der Gnaden gekommen. In den Dreißigerjahren lautete die Parole der österreichischen Sozialdemokraten: Weder Habsburg noch Hitler. Schuschnigg, Bundeskanzler nach der Ermordung von Dollfuß, scheint damals tatsächlich mit dem Gedanken gespielt zu haben, die Monarchie wieder herzustellen. Mehrmals hat er über Mittelsmänner Kontakt zu Otto von Habsburg aufgenommen. Mir ist der Gedanke einer Restauration im kleinen Österreich immer etwas merkwürdig vorgekommen. Sollte es ein Habsburgerreich in den Grenzen von 1918 geben? Etwas anderes hätte ja sofort Krieg bedeutet. Zu was hätte man Otto degradieren sollen? Zum Kaiser in Österreich? Zum Reichsverweser?

Karl hat seinerzeit zweimal den Versuch unternommen, wenigstens in Ungarn wieder auf den Thron zu kommen, und es waren die ungarischen Magnaten, die das verhindert haben. Sie waren zum großen Teil antiösterreichisch, und der Habsburger Erzherzog Albrecht, der sich als Ungar betrachtete, beteiligte sich an der legitimistischen Opposition gegen Karl. Da aber Ungarn ein Königreich war, hatte Horthy die Gelegenheit wahrgenommen, sich unter dem Titel eines Reichsverwesers sozusagen zu inthronisieren, und er dachte gar nicht daran, das aufzugeben. Beide Male ist Karl vollkommen ungeschoren durch Österreich gefahren, einmal sogar unter dem Schutz des sozialdemokratischen Landeshauptmanns von Niederösterreich, Albert Sever.

Gegenüber der Monarchie befinde ich mich in einer leicht ambivalenten Situation. Ich habe sie ja kaum mehr erlebt. Die »Nostalgie«, wie man das heute gelegentlich bezeichnet, ist bei den Österreichem tiefer verwurzelt, als man annimmt, nicht nur bei denen, die das Kaiserreich in seinem Abglanz noch erlebt haben, sondern auch bei den Jungen, denen dies alles eine unbekannte, fremde Welt ist. Nicht zuletzt für die Sozialdemokratie liegt über der untergehenden Monarchie ein Hauch von Melancholie und sogar Anmut. Am 11. November 1918 ging ich mit meinem Vater die Schönbrunner Straße hinauf. Die Gegend gehörte zwar nicht zu den Nobelbezirken, aber der Familie gehörten dort einige Häuser, und so kamen wir zu günstigen Bedingungen zu einer schönen Wohnung. Es gab dort alte Häuser aus dem Biedermeier, und um die Jahrhundertwende hatte man dann elegante Villen und Mietshäuser im Jugendstil errichtet, denn die Straßen nach Schönbrunn sollten allmählich zu Prachtstraßen ausgebaut werden. Die prächtigste von ihnen sollte die Wienzeile werden, weil sie der Kaiser auf dem Weg nach Schönbrunn benutzte, und noch heute stehen dort ein paar unfassbar schöne Häuser aus dieser Zeit.

Ich ging also mit meinem Vater dort entlang, und vor einem Haus, das mir immer schon aufgefallen war, weil dort häufig ein Automobil stand, traf mein Vater eine ihm bekannte Dame. Es war dies das Haus von Karl Seitz, und bei der Bekannten meines Vaters handelte es sich um eine Sozialdemokratin. Ich sah, wie meinem Vater nach den ersten Worten ein Schreck durch die Glieder fuhr, und als ich ihn beim Weitergehen fragte, was denn geschehen sei, erfuhr ich, dass vor wenigen Stunden Victor Adler gestorben war. Das hatte offenbar meinen Vater sehr erschüttert, und heute weiß ich, dass es vielen auch außerhalb der Partei so erging. Viele fragten sich, was nun aus Österreich werden solle. Victor Adler, der Gründer der österreichischen Sozialdemokratie, war nur 66 Jahre alt geworden.

Infolge meiner Jugend habe ich Victor Adler natürlich nicht persönlich gekannt. Menschen, die man nicht gekannt hat, können einem jedoch dadurch, dass sie in der Erinnerung weiterleben, und indem ununterbrochen von ihnen gesprochen wird, so bewusst werden, als hätte man sie gekannt und als wären sie unter uns. Mir jedenfalls ging es so mit den meisten Parteiführern der ersten Stunde. Ich führe das auf den Umstand zurück, dass es weder Radio noch Fernsehen gab; ihre Aufsätze in den Zeitungen und die Sammelbände mit ihren Reden fanden daher eine viel stärkere Verbreitung als heute. Im Zeitalter der Television haftet nicht nur den Reden der Politiker, sondern auch ihrem ganzen Erscheinungsbild eine gewisse Flüchtigkeit an.

Über die Parteiführer der ersten Stunde wurde viel geschrieben, und sofern ihrer Führerschaft auch theoretische Bedeutung zukam, bildeten sich um diese Männer politische Schulen. Victor Adler war ohne jeden Zweifel ein Weiser in der Politik, ein Weiser auf gütige, leicht ironische Art. Viele seiner Formulierungen haben ihn lange überlebt. Stefan Großmann beschreibt in »Ich war begeistert« die Schlagfertigkeit Adlers: »Auch in den Generalstreikdebatten, die die nichtöffentlichen Beratungen der Partei ausfüllten, schien er zuweilen ein Zögerer, ein Cunctator. Als man ihm diese für einen Revolutionär unpassende Bedenklichkeit vorwarf, sprach er das große Wort gelassen aus: »Das Gehirn ist ein Hemmungsorgan.«

»Wenn man in der Arbeiter-Zeitung schreiben will«, hat er einmal zu einem Journalisten gesagt, bei dem er es für notwendig hielt, »dann müssen die Leute spüren, dass man sie gern hat.« Ich bin in meinem Leben gelegentlich Leuten begegnet, die ein großes Publikum vielleicht gern gehabt haben, vor allem wenn es ihnen Beifall spendete, die aber dem Einzelnen gegenüber ungeduldig wurden und, wenn man ihnen unangenehme Fragen stellte, sogar irritiert waren.

Am 21. Oktober 1916 erschoss Friedrich Adler, ein Physiker, den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh in einem Restaurant. Victor Adler, der seinen Sohn und dessen menschliche Güte kannte, sagte im Prozess: »Ich habe es ja nicht glauben wollen, dass ein solcher Exzess des Mathematischen möglich ist.« Und als es wegen dieses Attentats dann mitten im Krieg zur Einberufung des Parlaments kam, was er bis dahin vergeblich verlangt hatte, muss das eine schmerzliche Genugtuung für ihn gewesen sein. Victor Adler hat weniger der Mord selber erschüttert als vielmehr die Verletzung der Ordnung.

Victor Adler spielte bis in die letzten Tage seines Lebens eine große Rolle. Er wusste sehr genau, dass Österreich eine düstere Zeit bevorstand, und so begab er sich, ausgerüstet mit der großen Reputation, die er sich im österreichischen Reichsrat erworben hatte, zu den ihm persönlich bekannten Führern der Nachfolgestaaten und wollte sie dazu bewegen, dass sie, wenn sie schon eigene Wege gingen, doch zumindest das, was man eine mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft hätte nennen können, versuchen sollten zu erhalten. Das Problem, das Adler sehr deutlich sah, beschrieb Karl Renner zehn Jahre später in einem Artikel im Kampf wie folgt: »Die Ökonomie der Welt bestimmt die Weltpolitik: In diesem Satze erfährt die Marxsche Geschichtsauffassung ihre Anwendung auf höchster Stufenleiter. Die Weltökonomie aber ist nach dem Kriege in wesentlichen Stücken verändert. Nicht nur die mächtige Ausdehnung im Raume, das engere Verwachsen der neuen Welt mit der alten, sondern auch die Veränderung der inneren Struktur der Weltwirtschaft schafft neue Tatsachen, die von uns Sozialisten nicht genug beachtet sind. Nur zögernd nehmen wir das Neue in unser Bewusstsein auf, und dennoch ist es die neue Ökonomie, die unser Handeln und also die Politik der gesamten Arbeiterklasse der Welt bestimmen muss, wenn sie nicht verhängnisvolle Irrtümer begehen soll.«

Victor Adler hätte der erste Außenminister der Republik werden sollen, und vielleicht wäre es ihm gelungen, einen besseren Stand der Dinge herbeizuführen. Man machte sich damals Hoffnungen, dass wenigstens die deutschsprachigen Teile Böhmens, Ungarns und Jugoslawiens bei Österreich bleiben würden, so dass Österreich ein Staat von zehn Millionen gewesen wäre. Das, was Hitler die »Volksdeutschen« nannte, waren zum Teil »Volksösterreicher«, und deshalb war es durchaus richtig, dass wir manche nach 1945 zusammen mit denen, die aus den Balkanländern kamen, aufgenommen haben, obwohl wir dadurch in der von den Sowjets besetzten Zone große Schwierigkeiten hatten.

Einen Tag nach dem Tod Victor Adlers, am 12. November 1918, kam die Nachricht vom Ausbruch der Revolution – was man halt damals Revolution genannt hat. Wir merkten das vor allem daran, dass die gefürchtete Polizei mit den Pickelhauben nicht mehr durch den Park ging, um uns vom Rasen zu vertreiben, wenn wir dort mit einem sogenannten »Fetzenlaberl«, das aus schön zusammengewalkten Strümpfen bestand, Fußball spielten. Die »Stadtschutzwache«, wie ein Teil der Polizei von nun an hieß, wurde an diesem Tag auf die Republik vereidigt, und wir sind ins Gras hinein wie die jungen Hunde. Am nächsten Tag waren die Polizisten schon wieder da, mit rot-weiß-roten Armbinden, und der Schutzmann ist genauso durch den Park gegangen wie der k. k. Polizist all die Jahre zuvor. In einer Ecke des Parkwächterhäuschens kamen wir zusammen und berieten die Lage; kurz und bündig wurde beschlossen, das sei ja gar keine Revolution, denn es habe sich gar nichts geändert.

Noch eine andere Geschichte möchte ich an dieser Stelle erwähnen. Am 12. November 1918 wurde ja nicht nur die Republik ausgerufen, die den Sozialdemokraten immer ein besonderes Ziel gewesen war, sondern auch erklärt, dass Österreich ein Teil des Deutschen Reiches sei. In der Ersten Republik hatten die Sozialdemokraten diesen Tag als Nationalfeiertag proklamiert. Aber als sich nach 1945 die Frage stellte, ob der alte Nationalfeiertag wieder zu Ehren gelangen solle, habe ich mich sehr entschieden dagegen gewehrt. Sicherlich, so argumentierte ich damals, es ist der Gründungstag der Republik, aber gleichzeitig ist es auch der Tag gewesen, an dem wir freiwillig den Verzicht auf unsere Selbständigkeit als Staat erklärt hatten. Wir müßten einen anderen Tag als Nationalfeiertag wählen. Die meisten gaben mir recht und meinten, der 15. Mai wäre das beste Datum, der Tag, an dem wir unsere Unabhängigkeit erklärten. Andere plädierten fur den 27. April 1945, den Tag der Ausrufung einer provisorischen Regierung. Am Schluss einigte man sich, was viele heute nicht mehr wissen, dass es der Tag sein solle, an dem das österreichische Parlament die immerwährende Neutralität beschlossen hat. Dies setzte indirekt natürlich voraus, dass der letzte fremde Soldat österreichischen Boden verlassen hat.

Mit dem Sturz der Monarchie also wurde die Republik gegründet. Aber es war ein Staat, der nicht leben und nicht sterben konnte, ein Staat, den eigentlich niemand wollte. Die einen trauerten um ein versunkenes Reich, die anderen träumten vom Aufgehen in einem neuen Reich aller Deutschen, und in der Mitte befand sich nichts. Die Mehrheit war dafür, den Status eines Sonderbundesstaates innerhalb des Deutschen Reiches anzustreben. Aber Österreich schien den Menschen nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich nicht lebensfähig zu sein.

Nachdem die Inflation sich ausgetobt hatte, kam es zu einer kurzfristigen Retablierungskonjunktur. Joseph Schumpeter, einer der bedeutendsten österreichisch-amerikanischen Nationalökonomen, war von März bis Oktober 1919 Staatssekretär für Finanzen. Aus seiner Zeit ist den älteren Österreichern jedoch nur ein glorreicher Ausdruck geblieben: Krone ist Krone, womit die endgültige Enteignung und Armut der Österreicher besiegelt war. Wie viele Finanzminister der galoppierenden Inflation musste auch Schumpeter eines Tages seinen Hut nehmen. Meistens ernteten die Nachfolger die Früchte. In Österreich war es Viktor Kienböck, von 1922 – 1924 und 1926 – 1929 Finanzminister. Kienböck ist sehr alt geworden und hat noch unter dem Dollfuß-Schuschnigg-System eine Rolle gespielt; 1932 – 1938 war er Präsident der Nationalbank. In den Überlegungen, die wir vor der Machtergreifung Hitlers anstellten – unter der Voraussetzung, dass es wider Erwarten doch zu einer Volksbefragung käme –, ging es auch um die Frage, wen von den Bürgerlichen wir akzeptieren könnten. Ich vertrat damals die Auffassung, es könne kein anderer als Viktor Kienböck sein, der im Westen einen außerordentlich guten Ruf bei den für uns so wichtigen Bankiers genieße und in Österreich selbst zwar als verlässlicher Konservativer gelte, aber niemals eine Sünde wider die Demokratie begangen habe. Die Sozialdemokraten erhoben deshalb auch keine Einwände, als Kienböck nach 1945 wieder zur Verfügung stand und zum Vizepräsidenten der Nationalbank bestellt wurde.

Was die neuen Grenzen Österreichs konkret bedeuteten, konnte ich in meiner eigenen Familie in sehr drastischer Weise erleben. In der Familie meiner Mutter drüben in Mähren gab es die neue starke Tschechenkrone; die österreichische Krone dagegen war furchtbar inflationiert. Drüben die Stabilität und der erhalten gebliebene Reichtum aus der Monarchie, hier die Armut und Austerity der neuen Republik. Dazwischen lagen Berge – unüberwindbare Höhen.

Auch mein Vater war von dieser Tragödie beruflich betroffen. Er war in leitender Stellung in einem der großen Textilkonzerne der Monarchie, der seine großen Fabriken in Böhmen und Ungarn hatte, in kleinen Orten, die Strakonitz oder Güns-Köszeg hießen. Zu diesem Konzern gehörte auch – eine kleine Ironie der Geschichte – eine Fez-Fabrik. Es gab derer zwei in Europa: eine in Österreich-Ungarn, wo man die roten Feze herstellte, und eine kleinere in Frankreich. Kurz nach dem Krieg hatte Kemal Atatürk das Tragen des Fezes verboten, und damit ging ein großer Markt verloren. Einige Länder, die seinerzeit von den Türken besetzt waren, blieben diesem Kleidungsstück allerdings treu, und erst vor kurzem begegnete ich einigen sehr reichen Libanesen an der Côte d’Azur, die mit ihrem Fez in allen Restaurants respektvolles Erstaunen weckten.

Das einzig Versöhnliche der Zeit nach 1918 war, dass für Leute wie meinen Vater, die im wirtschaftlichen Leben tätig und ununterbrochen unterwegs waren, die neuen Grenzen sehr bald kein Hindernis mehr darstellten. Der weit verstreute Besitz der meist in Österreich ansässigen Gesellschaften ist merkwürdigerweise nicht konfisziert worden. Es waren eben bürgerlich-nationale Revolutionen, die sich in den Nachfolgestaaten vollzogen, und man war im eigenen Interesse sehr darauf bedacht, die Zusammenhänge aus den Zeiten der Monarchie nicht zu zerstören. Die Zentralen blieben in Wien.

Die neue Tschechoslowakei war das industrielle Kernland des alten Österreich gewesen. Brünn, wo mein Vater die Fachschule für Weberei besucht hatte, war so etwas wie ein österreichisches Manchester, Reichenberg im Sudetenland ein industrielles Zentrum, und in Ostrau gab es die großen Kohlengruben. Von allen diesen wirtschaftlichen Ressourcen war die österreichische Republik abgeschnitten.

Am Anfang der Republik stand die totale Hoffnungslosigkeit.

Was sollte man mit diesem wirtschaftlichen Trümmerhaufen denn machen, in dem es nur Berge gegeben hat und viele Wiener? Wien hatte einst eine Schwesterstadt in Prag, eine Schwesterstadt in Budapest gehabt, und selbst Agram war Wien in gewisser Hinsicht vergleichbar gewesen. Mit einem Mal sollten nun Graz, Linz und Salzburg die Funktion dieser Metropolen übernehmen und ein Gegengewicht zu Wien herstellen, Städte, in denen es nur ein Kleinbürgertum, das zum großen Teil sehr deutschnational war, und die Klerikalen gab. Wien war plötzlich von allem abgeschnitten, es war eine tote Stadt, der Wasserkopf Österreichs, wie es geheißen hat.

Diese Jugenderfahrung war mit im Spiel, als mir nach 1945 sehr schnell klar wurde, dass Wien eine neue Funktion finden müsse, damit die Stadt nicht zur Provinz verkümmere. Nicht zuletzt aus solchen Erwägungen ist Wien dann zum Sitz zahlreicher internationaler Behörden geworden, und heute – im Jahre 1986 – ist es im Begriff, Genf zu überflügeln. Die Diplomaten und die internationale Bürokratie fühlen sich wohl in dieser Stadt, und allmählich gibt es wieder das, was man die Wiener Atmosphäre nennt. Zum großen Teil ist das den Ausländern zu verdanken, die allerdings weiterhin als Fremde hier leben, denn in Wien ist die Xenophobie zu Hause. Vor einiger Zeit war ein Plakat zu sehen: Ein österreichischer Bub in Lederhosen sagt zu einem großen Mann, einem typischen Gastarbeiter: »Ich haaß Kolaric, du haaßt Kolaric, warum sogns’ zu dir Tschusch?« Tschusch ist der Wiener Ausdruck für einen Fremden südosteuropäischer Herkunft.


In Wien ist der Fremdenhass zu Hause: mit rechtsradikalen Parolen beschmiertes »Kolaric«-Plakat, Anfang der Siebzigerjahre.

Man vergisst, dass Wien um die Jahrhundertwende noch eine Stadt der Fremdarbeiter war, die in den großen Arbeiterbezirken nicht selten die Mehrheit ausmachten. Das Wiener Telefonbuch verzeichnet heute noch eine große Zahl von slawischen und anderen ausländischen Namen, und wenn das Fußballspiel Österreich – Tschechien stattfindet, weiß man, wenn man sich die Spielerliste anschaut, nicht genau, welche Mannschaft die österreichische und welche die tschechische ist.

Eine der stärksten Triebkräfte des Anschlussgedankens war die österreichische Sozialdemokratie, und hier vor allem der Deutschnationalismus Otto Bauers, des großen österreichischen Sozialisten. Otto Bauer hat sich immer nur als österreichischer Deutscher verstanden. Das hatte nicht nur mit seiner deutschböhmischen Herkunft zu tun, sondern auch mit ideologischen Gründen. Bauer ging davon aus, dass die Ideen des Sozialismus sich nur in einem großen Land verwirklichen ließen. Angesichts der multinationalen Gegensätze im alten Reich könne es, so meinte er, keine Revolution durch Klassenkampf geben, und eine Revolution in Österreich würde ohnehin niemand ernst nehmen. Hinzu kam seine gefühlsmäßige Verbundenheit mit allem Deutschen. Die deutschen Philosophen und Dichter, die Historiker und Naturwissenschaftler waren seine großen Leitfiguren.

Als die österreichische Delegation 1919 in Saint-Germain das Anschlussverbot akzeptieren musste, trat Bauer als Staatssekretär für Äußeres zurück und schied aus der Regierung aus. In einer großen Rede vor den Wählerinnen und Wählern seines Wahlkreises hat er diesen Schritt begründet. Er und einige andere, die ihm politisch eigentlich feindselig gesinnt waren, haben den Gedanken vertreten, man dürfe sich nicht dem Diktat der Entente beugen, sondern müsse den Anschluss als ein Fait accompli verwirklichen. Um vollendete Tatsachen zu schaffen, wollte man – typisch österreichisch – erst einmal Gespräche in Berlin führen. Man beauftragte damit den österreichischen Gesandten in Berlin, Ludo Moritz Hartmann. An diesen Gesprächen nahm unter anderem auch ein junger Botschaftssekretär teil, Carl Buchberger, der mit mir in Schweden in der Emigration war. Gegen einen Einspruch der Alliierten wollte man sich wehren, notfalls durch einen neuerlichen Ruf zu den Waffen, und zwar zu den Waffen der Revolution. Schließlich glaubte man in Deutschland eine revolutionäre Demokratie im Entstehen. Und dieser ganze Traum ist nach Aussage meines Freundes Buchberger daran gescheitert, dass man sich nicht über den Umrechnungskurs von Kronen und Mark einigen konnte.

Aber das Thema kam zurück wie ein Bumerang. Als Hitler 1938 Österreich okkupierte, wollten alle Sozialdemokraten von Otto Bauer eine Antwort darauf, wie man sich jetzt verhalten solle. Bauers Antwort war lapidar: » … die Parole, die wir der Fremdherrschaft der faschistischen Satrapen aus dem Reiche über Österreich entgegensetzen, kann nicht die reaktionäre Parole der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs sein, sondern nur die revolutionäre Parole der gesamtdeutschen Revolution … «

Das lief in Wirklichkeit auf eine Sanktionierung des »Anschlusses« hinaus. Karl Renner hat dies dann offiziell auch getan. So phantasievoll er als Politiker sonst auf jede neue Situation reagierte, so unvorstellbar war für ihn, dass sich an den von Hitler geschaffenen Tatsachen während seiner Lebensspanne noch etwas ändern werde. Die Geschichte hatte gesprochen, und dem musste man sich beugen, meinte er, fast möchte ich sagen, wie ein Rohr im Winde. Inwieweit persönliche Motive, Angst um seinen Schwiegersohn und dergleichen, dabei eine Rolle gespielt haben, weiß ich nicht. Es gibt für ein bestimmtes politisches Verhalten eben viele Gründe, subjektive wie objektive, und jedenfalls kam es mir so vor, als ließe sich Renner immer auf eine gegebene Situation ein.

Das hat Renner nicht gehindert, im April 1945 Kanzler der ersten provisorischen Regierung zu werden und schließlich auch Bundespräsident. Den Krieg über hatte er in einem kleinen Haus in Gloggnitz gelebt, und die Nazis hatten ihn vollkommen in Ruhe gelassen. Wenn heute oft gesagt wird, das ganze Volk sei dem Irrtum des Nazismus erlegen, dann tut man zwar vielen Hunderttausenden unrecht, aber der Eindruck ist nun einmal entstanden, dass es ein ganzes Volk gewesen ist, und warum sollten wir Renner etwas vorwerfen, was viele andere auch getan haben, nur halt nicht an so prominenter Stelle wie er.

Ich persönlich habe den »Anschluss« niemals akzeptiert, weder im Rückblick auf die Jahre nach dem Krieg noch Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre, als ich mir meine ersten Sporen in der Politik verdiente, und schon gar nicht 1938. Als junger Funktionär, der mitverantwortlich war für die Bildungsarbeit der Partei, musste ich jahrelang Themenvorgaben machen. Ich habe mich manchmal selber lustig darüber gemacht, wie ich da über die ganze Weltgeschichte vom Urnebel bis zum Sozialismus disponierte, aber nicht ein einziges Mal bin ich für das Thema »Anschluss« in politisch militanter Weise eingetreten.

So wenig zwingend der Anschlussgedanke an Deutschland für mich war, so einleuchtend war mir, dass Österreichs Möglichkeiten sich erst durch Zusammenarbeit über Grenzen hinweg entfalten. Auch die politischen Ideen, denen ich ergeben bin, lassen sich in einem größeren Raum sehr viel besser und wirkungsvoller umsetzen als im kleinen Österreich.

Zudem hat sich für mich, der ich zu den Epigonen des alten Österreich gehöre, die Idee eines übernationalen staatlichen Gebildes immer als eine Herausforderung an die Internationalität der Sozialdemokratie dargestellt. Dabei weiß ich sehr gut, dass von mir hochgeschätzte Zeithistoriker wie Hans Mommsen nachzuweisen in der Lage sind, dass der Internationalismus der Sozialdemokratie, wenn es darauf ankam, immer wieder versagt hat. Aber dem muss man entgegenhalten, dass die objektiven Voraussetzungen für die Verwirklichung sozialdemokratischer Ideen eben nicht vorhanden waren und dass sich die Politiker immer wieder gezwungen sahen, mit der Realität fertig zu werden.

Der Zerfall des alten Reiches war ein Rückschritt in dreifacher Hinsicht: wirtschaftlich, weil die Idee einer mitteleuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein vorzügliches Modell für den Westen Europas gewesen wäre und ihm viel von den mühevollen Umwegen zur Integration erspart hätte. Wir haben diese wirtschaftliche Integration besessen; wir hätten sie weiterpflegen müssen. Der Zerfall des alten Reiches ist darüber hinaus aber auch politisch ein schwerer Rückschlag gewesen, weil viele der Nachfolgestaaten des alten Österreich aus übersteigertem Nationalgefühl an undemokratische Regierungsformen gerieten, und ganz am Ende hat das zur Machtergreifung des Kommunismus geführt. Und zum dritten war das Ende dieses Reiches deshalb verhängnisvoll, weil damit eine übernationale Kulturgemeinschaft zerfallen war, die viele Gesichter besaß und dennoch eine große Einheit bildete. Von Haydn bis Smetana, von Mozart bis Dvořák, von Bruckner bis Mahler reichte ein Kulturkreis, dessen Wurzeln in vielen Ländern gelegen sind. In jedem Bereich der österreichischen Kultur stößt man auf Namen, die ohne den Habsburger Vielvölkerstaat gar nicht denkbar sind. In kleinen Ländern oder in den Nachfolgestaaten, die aus diesem Reich entstanden sind, hätten sich viele schöpferische Kräfte wahrscheinlich gar nicht entwickeln können.

Auch ich bin ein Produkt der kulturellen Atmosphäre des alten Reiches, die im Wien der zwanziger Jahre als Rest noch weiterbestand, mit all dem Pessimismus freilich, der sich über sie gebreitet hatte. Das kulturelle Leben war geprägt von Melancholie und Verdrossenheit, und über allem lag die Dunstglocke der Hoffnungslosigkeit. Das Österreich von damals war eine manchmal skurrile, sehr intellektuelle und liebenswerte Mischung aus Herzmanovsky-Orlando, Musil und Kafka, eine Mischung, für die ich sehr viel Verständnis hatte, die ich für mich aber nicht gelten lassen wollte und die am Ende auch nicht meine Lebensmaxime geworden ist.

Wie die Biografien zahlreicher österreichischer Literaten aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts zeigen, etwa die Biografie von Hermann Bahr, hat es diese melancholische Grundstimmung bereits in den letzten Jahren der Monarchie gegeben. Mit der Jahrhundertwende, als man die ersten Flügelschläge der künftigen Entwicklung zu verspüren glaubte, wurde diese Untergangsstimmung zum bestimmenden Gefühl auch unter klugen und fortschrittlichen Menschen. Der Biografie Hermann Bahrs kann man sehr gut entnehmen, wie wenig selbst politisch engagierte, wortgewaltige Literaten sich der Zeit gewachsen fühlten. Bahr hat alles mitgemacht: einmal war er Sozialdemokrat, dann wieder ihr Gegner, einmal Antisemit, dann wieder Philosemit, einmal Deutschnationaler, dann wieder österreichischer Patriot. Die Politik hat Leuten wie ihm keine kräftige Hand geboten, sie hat sie eher noch tiefer in ihre Untergangsstimmung hineingedrängt – ganz anders als in Deutschland, wo die Kritiker des Wilhelminismus bei aller Schwäche von einer starken Hoffnung beseelt waren. So haben die österreichischen Intellektuellen einiges zum Untergang der Monarchie beigetragen. In ihrer unfassbaren Arroganz haben die deutschsprechenden Intellektuellen die der anderen Nationalitäten immer wieder zurückgestoßen.

Der Sturz der Monarchie hätte nicht in jedem Fall den Untergang des Vielvölkerstaates bedeuten müssen. Nur, weil es so gekommen ist, glaubt man, beides sei ein und derselbe historische Vorgang gewesen. Aus der Monarchie hätte auch eine große übernationale Republik werden können. Vielleicht wäre vieles sogar leichter gegangen, wenn die Dinge früh genug diesen Lauf genommen hätten. In meinen Augen ist es eine Zwecklegende zur Verteidigung der monarchischen Idee, wenn man immer wieder behauptet, es sei die Person des greisen Monarchen gewesen, die das Reich zusammengehalten habe, oder die Krone sei die Klammer gewesen. Die Äußerungen der handelnden Zeitgenossen sagen das Gegenteil. Ich habe mich mit dieser Frage beschäftigt und weiß zum Beispiel, dass Thomas Masaryk bis zuletzt von der Hoffnung erfüllt war, das alte Reich ließe sich umgestalten. Seine Schriften und Reden belegen das vielfach, und noch 1930, als er schon Präsident der tschechoslowakischen Republik war und die Erinnerung an seine Bemühungen um eine Neugestaltung des alten Reiches ihm eher peinlich sein musste, hat er in seinem Buch Weltrevolution keinen Hehl daraus gemacht, dass er den Weg nach Paris erst sehr spät gefunden habe.

Man kann auch noch weiter zurückgehen und an den berühmten panslawistischen Kongress im Jahre 1848 denken. Im gleichen Jahr, in dem die Deutschen Österreichs ihre Delegierten in die Frankfurter Paulskirche schickten, kamen die Slawen aus allen Teilen Österreichs in Prag zusammen und fassten jene Beschlüsse, von denen man in der offiziellen Geschichtsschreibung Österreich-Ungarns leider viel zu wenig erfährt. Der tschechische Historiker František Palacky hat damals den Ausspruch getan: »Existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst, sich beeilen, ihn zu schaffen.« Dass dieser Kongress mit der Forderung nach einem deutschen, einem tschechischen, einem polnischen, einem illyrischen, einem italienischen, einem südslawischen, einem magyarischen Österreich abgeschlossen wurde, dass also der Name der jeweiligen Nationalität immer mit dem Namen Österreichs verbunden sein sollte, offenbart, dass es keine grundsätzliche Österreichfeindlichkeit gegeben hat, wie heute immer wieder behauptet wird. Es ist eine Geschichtsklitterung, wenn man von einem abgrundtiefen Hass der Tschechen, Polen, Kroaten und all der anderen Völkerschaften gegen Österreich spricht. Noch 1899, beim Brünner Parteitag der Sozialdemokraten, war das Nationalitätenprogramm die große Parole: Statt dass sich die Arbeiter mit ihrem eigenen Elend auseinandergesetzt hätten, diskutierten sie nationale Fragen und bekundeten dem Programm die größte Zustimmung durch Hoch- und Nazdar-Rufe.

Konservative Historiker sind, wie ich weiß, anderer Meinung. Sie gehen zurück zum Reichstag von Kremsier und behaupten, damals sei das Schicksal der Monarchie bereits entschieden worden. Der Reichstag von Kremsier fand 1848/​49 statt, und der Zusammenbruch Österreichs war 1918; dazwischen liegen siebzig Jahre. Und in diesen siebzig Jahren soll es keine andere Aufgabe für die österreichischen Politiker gegeben haben, als sich damit abzufinden, dass der Kremsierer Reichstag den Untergang des Reiches besiegelt habe? Dann hätten Politiker wie Renner und Adler, Masaryk und Daszynski, dann hätten sie alle keine andere Rolle mehr zu spielen gehabt, als dem Zerfall des Reiches untätig zuzusehen? Sollte die Geschichte nur den Zweck erfüllen, um jeden Preis nachzuweisen, dass alles so kommen musste, wie es kam? Das ist eine durchaus eindimensionale Auffassung von der Geschichte, und jegliche Politik hätte ihren Sinn verloren. Man muss den Bewegungen, die eine weniger passive Rolle der Politik für sich beanspruchen, zumindest die Ehre zuteil werden lassen, ihre Alternativen ernst zu nehmen.

Alles in allem drängt sich mir die Überzeugung auf, dass die Monarchie eine jener großen historischen Möglichkeiten war, die niemals genutzt wurden. Bisweilen will mir die ganze österreichische Politik in den letzten hundert Jahren der Monarchie als ein tragisches Gewebe aus Trugschlüssen, Missverständnissen und verpassten Gelegenheiten erscheinen, und ohne Zweifel trifft die damals Verantwortlichen ein gerüttelt Maß an Schuld. Immer wieder blieb man auf halbem Wege stehen und dachte viel zu spät über Kompromisse nach. So wurden radikal nationalistische Flügel immer stärker, und sogar die Sozialdemokraten waren am Ende von dieser Unduldsamkeit angesteckt. Die auf Versöhnung hin drängenden Vertreter der Nationalitäten dagegen wie Thomas Masaryk oder Siegmund Kunfi verloren zunehmend an Einfluss. Am Ballhausplatz gab man sich bis zuletzt Illusionen hin.

Die Frage, die man stellen muss, lautet: Wie hätte der Desintegrationsprozess sich denn vollzogen, wäre der Weltkrieg nicht gekommen? In Form einer Revolution? Ich glaube kaum. Viele der industrialisierten Länder der Monarchie hatten bereits eine so ausgeprägte Klassenstruktur, dass es eine echte nationale Revolution ohne Krieg wohl nicht gegeben hätte. Es wäre etwas ganz anderes, wahrscheinlich etwas sehr Improvisiertes zustande gekommen, und vielleicht hätte sich die alte österreichische Staatsweisheit wieder bewährt: C’est le provisoire, qui dure, es ist das Provisorium, das dauert.

Renner war ja schon in seinem großen Buch von 1902 der Auffassung, dass, wenn die Nationalstaaten wie Kantone zu einem Bundesstaat freier Völker zusammengeschlossen wären, in den einzelnen Regionen die Klassengegensätze sich entwickeln würden, die bisher von den nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen nur übertüncht seien. Dann erst werde ein modernes Staatswesen aus Österreich, ein in Klassen gegliedertes Reich, und es werde in den Ländern der Monarchie zu einer wirklichen Solidarisierung der Arbeiterschaft über die nationalen Barrieren hinweg kommen.

Es ist ganz interessant, dass am Jännerstreik 1918, der den Zusammenbruch der Monarchie signalisierte, die Matrosen in Cattaro, einem der wichtigsten österreichischen Kriegshäfen, genauso teilgenommen haben wie die Tschechen in Kladno. Die Aktionseinheit ging jedoch über die Negation der Monarchie nicht hinaus. Meinen Freund Felix Stika, der damals in den großen Munitionsfabriken um Wiener Neustadt herum aktiv war und als einer der Helden dieses Streiks galt, habe ich einmal gefragt, ob sie sich eigentlich bewusst gewesen seien, dass das der Anfang vom Ende sein werde. Er hat das verneint; wenn der Friede kommt, hätten sie damals gedacht, dann werde sich schon alles finden.

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