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Der Krieg und die Kinder Wiens

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Begonnen hat es eigentlich mit meinem Großvater, Benedikt Kreisky. Genaugenommen mit dem alten österreichischen Reichsvolksschulgesetz aus dem Jahre 1869, in dem festgelegt war, dass man das sechste Lebensjahr vollendet haben musste, um eingeschult werden zu können. Ich wurde am 22. Jänner 1911 in Wien in Niederösterreich geboren, und so ereilte mich mein Schicksal am 1. September 1917 in der allgemeinen Volksschule Wien 6., Sonnenuhrgasse 3. Dass es eine allgemeine Volksschule war und nicht die vis-à-vis gelegene evangelische Privatschule, ist meinem Großvater zu verdanken.

Meine Familie legte offenbar großen Wert darauf, die Gelegenheit meiner Einschulung wahrzunehmen und meine Begabung feststellen zu lassen. Mein Großvater als ehemaliger Oberlehrer und stellvertretender Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Budweis hat sich den Buben angesehen und ihn in sachkundiger Weise auf seine Schulreife überprüft. Die Prozedur war recht quälend. Auf einem Blatt Papier hat er mir einen einfachen Satz aufgeschrieben, wobei jedes Wort eine neue Zeile bildete. »Jetzt machen wir eine schöne Satzanalyse«, hat er gesagt, »und wenn du brav bist, bekommst du aus meiner alten Schnupftabakdose ein Malzzuckerl.« Die Malzzuckerln waren recht »verpickt«, die Schnupftabakdose aber hatte die wunderbare Eigenschaft, beim Öffnen eine Melodie zu spielen: »Üb’ immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab.« Offensichtlich gehörte die Schnupftabakdose zum pädagogischen Programm meines Großvaters, denn mit jedem Malzzuckerl hat er mir den Sinn des Liedes aufs Neue zu erklären versucht.

In der Familie Kreisky, so weit sich das überblicken lässt, hat es niemanden gegeben, der einen schlechten Leumund gehabt hätte. Die fünf Brüder Kreisky und die beiden Schwestern waren der Inbegriff der Redlichkeit, und sie waren es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass eigentlich Zweifel hierüber nie entstanden sind. Ein einziger von ihnen, der jüngste, war infolge seiner späten Heirat und seiner »Liederlichkeit«, was Damen betraf, ein wenig anrüchig geworden, aber irgendwie tolerierte man das beim Jüngsten und Lebensfreudigsten. Das gehobene Bürgertum, zu dem die Familie gehörte, war in seiner Mehrheit von gleicher moralischer Qualität.

Mein Großvater mußte schon deshalb meine Erziehung in die Hand nehmen, weil mein Vater eingerückt war. Als der Krieg ausbrach, war ich dreieinhalb Jahre alt, und so verband ich kaum eine konkrete Erinnerung mit meinem Vater. Es hieß, dass er »im Felde« sei, aber was sollte ich mir darunter vorstellen? Ich genoss die kleinen Freiheiten, die mir meine Mutter gewährte und die bei meinem Vater wohl kaum denkbar gewesen wären. Aber eines Tages wurde mir bewusst, dass zwischen meinem Vater und diesem Krieg ein Zusammenhang besteht, und so erlangte der Krieg für mich eine sehr persönliche Dimension. Es ist eine Erinnerung, die mir heute noch so lebendig ist, dass sie mich quält.

In der Mollardgasse, gegenüber dem Park, in dem ich als Kind fast täglich gespielt habe, lag die »k. k. Zentral-Lehranstalt für Frauengewerbe«, die spätere »Wiener Fortbildungsschule«, die seit Kriegsausbruch als Lazarett diente. Einen Kilometer entfernt war der Frachtenbahnhof der Südbahn, wo die Züge mit den Schwerverwundeten vom Isonzo eintrafen. Die Verwundeten wurden auf kleine Sanitätswagen mit eisenbeschlagenen Rädern geladen. So sind sie polternd den Gürtel hinuntergefahren, und bei vielen machte man sich nicht einmal die Mühe, sie zuzudecken.

An der Straße sind wir Fünf- und Sechsjährigen gestanden und haben diesen täglichen Blutzoll mit unschuldigen Augen wahrnehmen müssen. Halbverstümmelte Männer, Männer ohne Beine, ohne Arme, mit verbundenen Köpfen zogen an uns vorüber, denn die Sanitätswagen haben nie ausgereicht. Das war für uns das Kriegserlebnis. Und da Kindheitserinnerungen aus Kriegszeiten viel einprägsamer sind als Kindheitserinnerungen aus Friedenszeiten, erinnere ich mich noch sehr gut, wie es mich eines Tages mit ganzer Wucht erfasst hat, dass einer von diesen Männern mein Vater sein könnte. Es war an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Stunde, als mich grenzenlose Angst vor dem Krieg überkam.

Er hatte etwas Unheimliches, Allgegenwärtiges. Einmal haben meine Mutter und ich meinen Vater nach einem kurzen Fronturlaub auf den Südbahnhof begleitet, wo der Soldatenzug abfuhr. Und das letzte, was meine Mutter meinem Vater zurief, war: »Pass auf dich auf!« Ich habe das ein bisschen komisch gefunden und meine Mutter auf dem Nachhauseweg gefragt, wie denn mein Vater eigentlich auf sich aufpassen könne. Die Kugeln passen ja nicht auf ihn auf, die schwirren um ihn herum, wie soll er sich da schützen können? Meine Fantasie erhielt natürlich durch die Nachrichten über die Gefallenen aus der Familie ständig neue Nahrung. Ein entfernter Verwandter, Alfred Kreisky, liegt als eines der ersten Opfer des Krieges auf dem Heldenfriedhof in Belgrad.

Meinem Großvater oblag auch die Verwaltung des Vermögens einiger Brüder meines Vaters. Es waren junge, in der Regel gut verdienende Männer, und dank der einen oder anderen kleinen Erbschaft und Mitgift war ein wenig Kapital zusammengekommen. Als großer Patriot zeichnete mein Großvater Kriegsanleihen, was den Verlust des gesamten Vermögens der Kreiskys zur Folge hatte. Als ich meinen Großvater im Jänner 1926, wenige Tage vor seinem Tod, im Rudolfinerhaus besuchte, habe ich ihn gefragt, warum er das Geld seiner Söhne in Kriegsanleihen angelegt habe. 1866, im preußisch-österreichischen Krieg, war mein Großvater als Soldat bei Königgrätz gestanden, und seit dieser blamablen Niederlage, die er sein Leben lang nicht verwand, war er so beeindruckt von der deutschen Tüchtigkeit, vor allem auf militärischem Gebiet, dass er sich 1914 nichts anderes vorstellen konnte als einen gemeinsamen Sieg. Ein Krieg an der Seite Deutschlands, der war einfach nicht zu verlieren.

Der Krieg hat die Kinder rasch reif werden lassen. Mit sechs Jahren gehörte ich zu einem Kreis von eigentlich recht wohlerzogenen Buben. Wir hatten einen Anführer, dem wir vollkommen hörig waren. Er war zehn Jahre älter und hat seine Autorität bis zum Letzten ausgespielt. Durch ihn bin ich zum ersten Mal in die Elendsviertel in der Umgebung Wiens gekommen, nach Inzersdorf hinaus, wo seinerzeit Victor Adler der ganze Jammer der Menschheit angefasst hat und wo die großen Sozialreportagen entstanden, die viele aufrüttelten. Als Victor Adler von einer alten Frau gebeten wurde, angesichts dieses Elends doch zu helfen, musste er ihr sagen: »Leutln, euch kann kein Doktor helfen.« Gegen Ende des Krieges hielten sich in Inzersdorf die Deserteure verborgen. Es war der Treffpunkt der Unterwelt, und meiner Mutter wäre es im Traum nicht eingefallen, dass ich mich unter dem Wiener Lumpenproletariat herumtreiben könnte. Als mir einmal eine Tante eine Exkursion zur »Spinnerin am Kreuz« vorschlug, habe ich mich versprochen und gesagt, dort sei ich schon gewesen. »Entweder, Bub, du lügst«, hat sie ungläubig erwidert, »oder du warst wirklich dort. Aber um Himmels willen, mit wem?« Ich habe natürlich geschwiegen.

Unser Anführer hat uns auch zu einer Reihe von kriminellen Handlungen angestiftet. So gab es damals einen großen Mangel an Kupfer-Zink-Legierungen, und die Messingklinken in den Wohnungen waren vielfach durch Eisenklinken ersetzt worden. Die Parole hieß: Kupfer für Eisen, so wie es hundert Jahre zuvor gelautet hatte: Gold gab ich für Eisen. Wo es noch Messingschnallen zu Hause gäbe, sollten wir sie abmontieren und ihm, unserem Anführer, abliefern. Dann hat er uns beigebracht, wie man das am gescheitesten anstellte. Meine Mutter, aber auch die Hausgehilfinnen waren verzweifelt, als plötzlich die letzten Messingschnallen verschwunden waren. Ich habe natürlich kein Wort gesagt.

Vorzeitig durfte ich von der Volksschule auf die Mittelschule wechseln. Fünf Volksschulklassen waren die Regel; den Begabten wurde ein Jahr erlassen, so dass ich bereits mit zehneinhalb Jahren auf die Bundeserziehungsanstalt für Knaben kam. Unter meiner so genannten Begabung habe ich ziemlich gelitten, nicht aus Bescheidenheit, sondern weil die Konsequenzen unerträglich waren. Gleich nach dem Krieg hatte man in Österreich aus den ehemaligen Kadettenschulen staatliche Erziehungsanstalten gemacht, die später in »Bundeserziehungsanstalten« umbenannt wurden. Die Idee dieser internatsähnlichen, nach englischem Vorbild eingerichteten Schulen für meist mittellose, aber begabte Kinder ging auf einen sozialdemokratischen Politiker und Pädagogen namens Glöckel zurück. Nachdem ich eine schwierige Aufnahmsprüfung absolviert hatte, rückte ich ein.

Alles in dieser Anstalt roch nach dem Kaiser. Diejenigen, die wollten, konnten die alten Uniformen der Kadetten tragen, hohe Tschakos, lichtblaue Mäntel und dunkelgraue Uniformjacken. Ich habe keine Uniform getragen. Die schwarz-gelben Bettdecken mit dem aufgenähten Doppeladler mussten immer genau in der Mitte liegen, sonst kam der Präfekt, riss die Decke vom Bett, und alles fing wieder von vorn an. Es war sehr schwierig, die Adler exakt in die Mitte zu bekommen, weil die Betten sehr dicht beieinanderstanden. So hat man sich furchtbar damit abgemüht. Gelegentlich ist es auch vorgekommen, dass ein besonders sekkanter Präfekt einem den ganzen Spind ausgeräumt hat, weil der angeblich nicht in Ordnung war.

Um 6 Uhr mussten wir aufstehen und im Hof zum Frühturnen antreten. Oben im ersten Stock stand der Präfekt in der kurzen Pelzjacke der Dragoner und gab in forschem Ton die Befehle. Ebenfalls aus der Tradition der Kadettenschule kam die sogenannte Absentierung am Wochenende. Man hatte es nicht einmal für nötig befunden, die Bezeichnung zu ändern, und so war alles in dieser Anstalt alter Wein in neuen Schläuchen. Viele Kinder, vor allem die aus ärmeren Familien, fühlten sich sehr wohl, aber für mich war es die Hölle.

Von Anfang an galt ich als der große Rädelsführer. »Die andern sind alle sehr brav«, hieß es immer, »nur der Kreisky, der ist ein reiner Bösewicht.« Wie in jedem Internat, kam es auch hier immer wieder zu kleinen Diebstählen. Man hatte sogar eine Liga gegen den Kameradschaftsdiebstahl organisiert, deren Führer groteskerweise einer von denen war, die später entlarvt wurden. Einmal fiel der Verdacht auf mich, da ich relativ viel Taschengeld hatte. So konnte ich, wenn wir zum Konzert fuhren, einen oder zwei Freunde in ein Wirtshaus einladen und ihnen die Würstel bezahlen. Alle zerbrachen sich den Kopf, woher ich soviel Geld hatte. Als der Präfekt meinen Vater fragte, wie er sich das erkläre, meinte der, mein Taschengeld reiche dafür sicherlich nicht. Des Rätsels Lösung war, dass ich von meinem Vater eine ziemlich wertvolle Briefmarkensammlung geschenkt bekommen hatte, die er auch regelmäßig durch die Marken seiner Korrespondenzpartner auf der ganzen Welt ergänzte. Zizerlweis habe ich diese Sammlung irgendeinem Gauner von Briefmarkenhändler verkauft, wobei der mich sicherlich betrogen hat, aber mir genügte es. Jedenfalls konnte ich auf diese Weise einen kleinen Freundeskreis um mich scharen, der mir über die Qualen des Internats hinweghalf. Mit einigen von ihnen, die Krieg und Krankheit überstanden haben, bin ich noch heute in Kontakt.


Nestwärme der Familie: Vater Max Kreisky mit seinen Söhnen Bruno (rechts) und Paul (links).

Bei manchen meiner Lehrer fand ich sehr viel Zuneigung. Einer von ihnen war der bedeutende österreichische Geograph Johann Slanar, nach dessen Atlas auch nach 1945 noch an manchen Schulen Geographie unterrichtet wurde. Slanar war ein überzeugter Sozialdemokrat der alten Schule, und ich hatte das Gefühl, dass er mich aufrichtig gern hatte. Als er mich nach dem Krieg einmal in der Präsidentschaftskanzlei besuchte, empfand ich ihm gegenüber ein warmes Gefühl der Dankbarkeit. Ein anderer meiner Lehrer war Professor Franz Prowaznik; ein echter Erzieher und ein großartiger Mathematiklehrer. Auch er war Sozialdemokrat, und während meines Studiums bin ich oft mit ihm in der Straßenbahn gefahren, weil er Direktor der Mittelschule war, die neben meinem Elternhaus lag. Ich hatte immer das Gefühl, dass er sehr glücklich war, zu jenen zu gehören, die nicht ihre Hand von mir genommen hatten. Der dritte schließlich, an den ich hier erinnern will, Eugen Mitter, war eine besondere Persönlichkeit. Ich habe ihn immer für einen kultivierten Deutschnationalen gehalten, aber offenbar war er Heimwehrler, denn er ging zu dieser berüchtigten Großkundgebung, bei der Starhemberg sagte: »Erst wenn der Kopf dieses Asiaten in den Sand rollt, wird der Sieg unser sein.« Gemeint war der Stadtrat für Finanzwesen der Gemeinde Wien, Hugo Breitner. Um von der ehemaligen Kadettenschule relegiert zu werden, habe ich das getan, was einem in einer solchen Situation zu tun bleibt: Man wird ein schlechter Schüler. Das habe ich mit Brillanz erreicht. Nach dem ersten Halbjahr der dritten Klasse hatte ich so viele »genügend« und »nicht genügend«, dass mein Hinauswurf abzusehen war. Um die Prozedur zu beschleunigen, lief ich auch noch davon. Auf dem Höhepunkt der Krise befand sich mein Vater auf einer Reise durch die Sowjetunion; er gehörte zu der ersten österreichischen Handelsdelegation, die die Sowjetunion besuchte – eine der ersten Delegationen aus dem Westen überhaupt. Die Schulleitung wandte sich an meinen Onkel Oskar Kreisky, der sich damals ein wenig um mich kümmerte, und dieser Onkel, der selber Mittelschulprofessor war, sah glücklicherweise ein, dass es das Beste sei, mich gleich von der Schule zu nehmen und an einer anderen Anstalt unterzubringen. Hätte man mein vollständiges Versagen abgewartet, hätte ich eine Klasse tiefer neu beginnen müssen. Mein Vater war bei seiner Rückkehr sehr aufgebracht, denn er war immer sehr stolz darauf gewesen, dass sein Sohn die Begabtenschule besuchte.


Eine »unendlich gütige Frau«: Die Mutter Irene Kreisky, geborene Felix, stammte aus einer mährischen Industriellenfamilie.

In der nächsten Schule habe ich mich einigermaßen wohl gefühlt; sie lag in der Nähe unserer damaligen Wohnung in der Schönbrunner Straße. Der Direktor, Gustav Rohrauer, war der Sohn des Gründers der »Naturfreunde« und ein sehr guter Pädagoge. Eine seiner sehr sportlichen Töchter, die mir außerordentlich hübsch vorkam, war ebenfalls Schülerin der Anstalt.

Als meine Eltern 1925 vom V. in den IV. Bezirk zogen, setzte ich alles daran, nicht in dem Bezirk, in dem wir wohnten, zur Schule gehen zu müssen. Inzwischen hatte ich nämlich ein System des Schulschwänzens ausgetüftelt – Schulstageln hat das im Dialekt geheißen: wichtig war vor allem, zu verhindern, dass der Schuldiener ins Haus kam, um nachzufragen, ob man wirklich krank sei. Wenn man nun in einem anderen Bezirk zur Schule ging, war man vor solchen Kontrollen sicher. Denn die Verwaltung war so knauserig, dass sie es einem Schuldiener nicht gestattete, mit der Straßenbahn in einen anderen Bezirk zu fahren.

Mein Freund Tandler, der im III. Bezirk wohnte und dort aus der Schule geflogen war, ging jetzt bei uns im IV. Bezirk zur Schule, ich dagegen ging in den III. Bezirk. Dort, am ehemaligen Polytechnikum, wurde vor allem ein ausgezeichneter Mathematikunterricht gegeben, was mir bei meinem späteren Studium der Nationalökonomie zugute kam. An dieser Schule bin ich ohne Schwierigkeiten bis zur Matura gekommen.

Es waren drei verschiedene Mittelschulen in acht Jahren gewesen, und so habe ich überdurchschnittlich viele Mitschüler gehabt. Alles in allem verbinde ich keine sehr angenehmen Erinnerungen mit der Schulzeit, aber auch, abgesehen von der ehemaligen Kadettenschule, keine extrem negativen. An einige Schüler, auch an den einen oder anderen Professor, denke ich gern zurück, zum Beispiel an meinen Französischlehrer, Professor Rudolf Verosta – er war der Vater einer meiner späteren Mitarbeiter im Außenministerium –, der sich immer aufs neue erregte, wenn er das kleine rote Emailquadrat, das Abzeichen der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler, an meinem Revers erblickte: »Kreisky«, hat er immer gesagt, »lernen’S nix, werden’S Parteisekretär!«

Man fragt mich oft, wann ich eigentlich den Weg zur Politik gefunden habe. Viele verbinden damit offenbar die Vorstellung, ich müsse schon seit früher Jugend die Absicht gehabt haben, Berufspolitiker zu werden. Nichts ist unrichtiger als das. Ich bin wie viele meines Alters sehr früh zur Konfrontation mit politischen und parapolitischen Ereignissen gedrängt worden. Als Österreicher und Wiener habe ich in besonderem Maße zum »passiven Material« der Weltgeschichte gehört, denn alles Unglück, das es zwischen den Weltkriegen gab, hat sich irgendwie in Österreich und da besonders in seiner Hauptstadt Wien manifestiert. Das Elend in Wien war so allgegenwärtig, dass es sich jedem Fremden geradezu aufdrängte. Die Stadt war voll von bettelnden Leuten, voll von Invaliden aus dem Krieg, und vielen Menschen sah man an, dass sie einmal bessere Zeiten gesehen hatten.

Das heruntergekommene Bürgertum manifestierte sich auch dadurch, dass viele Witwen, vor allem Kriegerwitwen, ihre großen herrlichen Wohnungen untervermieteten. Die Wohnungskosten waren niedrig, dank des bei den Hausbesitzern so ungemein verhassten Mieterschutzes. Es gibt so manchen, der glaubt, dass einige Prozente der sozialdemokratischen Wählerschaft allein dem Umstand zu verdanken waren, dass die Sozialdemokraten die beste Gewähr für die Erhaltung des Mieterschutzes gewesen sind. Unter den vielen zehntausend Mitgliedern der sogenannten Mietervereinigung, einer zwar nicht offiziellen, aber de facto sozialdemokratischen Vereinigung, waren eine ganze Reihe von Oberstenwitwen und hohen Beamten, die sich dieser Organisation nur angeschlossen hatten, weil sie um ihre Wohnungskosten bangten. Dasselbe galt für den Kleinrentnerschutzverband, eine andere de facto sozialdemokratische Vereinigung, die einen allerdings vergeblichen Kampf um eine einigermaßen erträgliche Kompensation für ihre Kriegsanleihen führte.

Die Arbeiterviertel, in denen die armseligen Mietskasernen standen, waren zu Vierteln des Elends und der Entbehrung geworden. Alles das kam aus einer Gleichartigkeit des Schicksals, das eben keine Unterschiede kannte: der Krieg, die Inflation, die Arbeitslosigkeit, die besondere Wucht der Krise. Sie begann als strukturelle infolge des Zusammenbruchs der Monarchie und wurde durch die konjunkturelle potenziert, die sich 1929 aus der Weltwirtschaftskrise ergab. Die Arbeitslosigkeit war eine Dauererscheinung, vor allem darauf zurückzuführen, dass die geschlossene und wohlabgerundete mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft, die die Österreichisch-Ungarische Monarchie darstellte, zerschlagen war. Ende der zwanziger Jahre wurde Österreich mit Recht „der arme Mann an der Donau“ genannt. Die österreichische Wirklichkeit mit allen ihren Facetten führte dazu, dass viele mit Politik nichts zu tun haben wollten. Sicher gab es auch für mich die Versuchung, mich in einem der vielen Berufe zu versuchen, die mir offenstanden, aber ich konnte mich dazu nicht entschließen, weil ich zu sehr von den politischen Ideen erfasst wurde, und je mehr ich die Zusammenhänge begriff, um so stärker fühlte ich mich verpflichtet, in der Politik zu wirken.

Dabei gab es kaum irgendwelche besonderen Chancen. Die Sozialdemokratie war in der Opposition, hatte wenig Lust, Regierungsstellung zu erlangen, und Parlamentarier zu werden, ist uns Jungen nicht in den Sinn gekommen, weil wir davon nicht sehr viel hielten. Zum Parteiführer waren sehr wenige ausersehen. Die höchste der Ambitionen war, Journalist in der Parteipresse zu werden; es schien uns verlockend, jeden Tag die Möglichkeit zu haben, zu den Ereignissen Stellung zu nehmen. Man kann jungen Leuten von damals, die sich in die Politik stürzten, jedenfalls keinen Vorwurf machen, dass sie es der Karriere wegen getan hätten, im Gegenteil: In den dreißiger Jahren, als sich langsam der Untergang der Sozialdemokratie ankündigte, wussten viele von uns, dass der österreichische Faschismus unaufhaltsam war und dass die »Roten« allmählich in den Kerker würden wandern müssen.

Ich habe vom reinen Politisieren und Polemisieren nie viel gehalten, sondern habe meine politische Tätigkeit unter den Jungen als eine im höchsten Maße pädagogische aufgefasst: Zusammenhänge darzustellen, das zu schildern, was geschieht hinter dem, was zu geschehen schien. Ein Glücksgefühl innerhalb meines Tätigkeitsbereiches habe ich immer dann empfunden, wenn ich den Eindruck gewann, das mit Erfolg getan zu haben.

Meinen Eltern bin ich noch heute überaus dankbar dafür, dass sie mich sehr bald und immer wieder die raue Wirklichkeit erkennen ließen. Vielleicht war das nicht ganz im Sinne meiner Mutter und ihrer Familie, aber vom Vater und vom Großvater her hielt man es für richtig, einem »aufgeweckten Kind« die Wirklichkeit, das, was in der Welt geschieht, nicht zu verheimlichen. Denn offensichtlich waren die einen eingehüllt in ein sehr behagliches, sorgenfreies Familienleben, und andere hatten kaum regelmäßiges Essen. Das Kriegserlebnis und vor allem das Nachkriegserlebnis verstärkten mein von jeher ausgeprägtes Mitgefühl, das ich mir bis in die heutige Zeit erhalten habe.

Meine Eltern pflegten dieses Mitgefühl und erlaubten mir gern, weniger satte Schulkameraden zum Mittagessen nach Hause mitzubringen. Unter ihnen war der kleine Dworak, ein magerer Junge mit bleichem Gesicht. Sein Vater war Schuhmacher, und zu Hause herrschte die Armut.

Einmal habe ich meinen Vater gefragt, wieso es eigentlich reiche und arme Leute gebe und warum manche Leute so arm seien wie die Eltern vom Dworak. Mein Vater, so erinnere ich mich, meinte damals, es sei nicht wahr, dass die meisten Menschen an ihrer Armut selber schuld seien. Es gebe hierfür andere Ursachen. Das hat mich sehr beeindruckt, weil die herrschende und bequeme Auffassung die war: Wer arm ist, sei selber dran schuld, er habe es halt zu nichts gebracht. Die gewaltigste Formel meiner Jugend, die merkwürdigerweise auch von den Hausgehilfinnen benutzt wurde, war die Drohung: Wenn du nichts lernst, wirst halt nur Schuster! – Eine interessante Parenthese, wohin derartige Primitivformeln führen: Es gab in Österreich lange Zeit keine Schuhmacherlehrlinge, Schusterbuben, wie man sie in der alten Zeit genannt hat, nicht einmal für die feinsten Schuhmacher, die nur Maßschuhe erzeugten.

Da ich nicht aufhörte, meinem Vater Fragen über die Ursache der Armut zu stellen, und er sie mir nur partiell beantworten wollte, bemerkte ich in seiner Darstellung eine leichte Voreingenommenheit gegenüber den Verwandten meiner Mutter, mit denen er zwar ein gutes Verhältnis hatte, aber als der Sohn eines Dorfschulmeisters war er gegenüber dem Reichtum der Angehörigen meiner Mutter doch ein bisschen reserviert.

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