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Die Nestwärme der Familie

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Mein Großvater Benedikt Kreisky war ursprünglich Lehrer in Kaladei, einem kleinen böhmischen Dorf nicht weit von Budweis. In dieser Gegend gab es zwei besondere soziale Gruppen: Zum einen die sogenannten »Böhmischen Brüder«, eine religiöse Minderheitsbewegung, und zum andern zahlreiche jüdische Bauern. Die Böhmischen Brüder hatten gehofft, ähnlich wie die Protestanten und Juden, eine Art Toleranzpatent zu bekommen, und waren in dieser Frage bei Joseph II. vorstellig geworden. Der Kaiser hat sich dazu aber nicht bereit gefunden, weil er offenbar fürchtete, auf diese Weise eine tschechische Nationalkirche zu initiieren, um die herum eine Nationalbewegung entstehen könnte. Als den Böhmischen Brüdern die erhofften Rechte nicht gewährt wurden, sollen viele von ihnen, besonders in der Gegend um den Tabor, zum Judentum übergetreten sein, weil ihnen die Liturgie des Judentums mehr zusagte als die des Katholizismus. Das erklärt, warum es unter den böhmischen Juden nicht nur viele Bauern, sondern auch relativ viele tschechische Namen gegeben hat.

In dieser Gegend also hat mein Großvater seine Schule gefunden, begünstigt durch die uralte tschechische Adelsfamilie Wratislaw. Der tschechische Uradel wollte eigentlich mit dem Wiener Hof wenig zu tun haben; das Haus Habsburg hat man in der Regel als Usurpator betrachtet. Die ersten religiösen Emigranten kamen aus den alten tschechischen Adelsfamilien, noch vor der Reformation. Der mährische Statthalter Zierotin – auch er ein Mann des tschechischen Hochadels – hat sich damals an die emigrierten Aristokraten in Dänemark gewandt, um sie zur Rückkehr zu veranlassen. Es waren Namen dabei, die heute ganz deutsch klingen, wie Thurn, Kinsky oder Schwarzenberg. Zur Geschichte des österreichischen Adels gehört, dass viele Familien tschechischen Ursprungs sind, und Schwarzenbergs zum Beispiel, die größten Grundbesitzer heute, reden zu Hause noch immer tschechisch. Man darf auch nicht vergessen, dass der »Herzog von Österreich« merkwürdigerweise ein Tscheche war, Ottokar II. Přemysl. Er hatte den Bau der Wiener Hofburg entscheidend gefördert und die historische Teilung Österreichs in ein Land oberhalb und unterhalb der Enns vorgenommen. Wahrscheinlich hätten die Přemysliden noch lange geherrscht, hätte sich Ottokar nach der Wahl Rudolfs von Habsburg zum Deutschen König nicht geweigert, sich neu mit Österreich belehnen zu lassen. Er soll seine Weigerung damit begründet haben, dass er keinen Grund sehe, einem verkrachten Aargauer Grafen zu huldigen, der die Königskrone nur dem Umstand verdanke, dass die zerstrittenen Kurfürsten den Schwächsten zu dieser Würde berufen hätten. 1278 verlor er in der Schlacht von Dürnkrut sein Leben. Bereits drei Jahre zuvor hatte ihn Rudolf der österreichischen Lande verlustig erklärt. Es verwundert daher nicht, wenn die von Habsburg geadelten tschechischen Österreicher sich bis in unsere Zeit als den eigentlichen österreichischen Uradel betrachten.

Aufgrund des schon erwähnten Reichsvolksschulgesetzes war mein Großvater verantwortlicher Schulleiter geworden. Dies konnte nach den Bestimmungen nur werden, wer die »Befähigung zum Religionsunterricht jenes Glaubensbekenntnisses nachweisen konnte, welchem die Mehrzahl der Schüler nach dem Durchschnitte der vorausgegangenen fünf Schuljahre angehört«. Die Bestimmung lautete nicht, es dürfe kein Jude sein, aber das war natürlich die Absicht, die dahintersteckte. Da es unter den einundzwanzig Schülern der einklassigen Volksschule in Kaladei jedoch siebzehn Schüler israelitischen Glaubens gab, konnte man meinem Großvater die Stelle des Oberlehrers nicht verwehren. Später wurde mein Großvater stellvertretender Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Budweis. Stellvertreter deshalb, weil er eben aufgrund des Reichsvolksschulgesetzes der Mehrheit der dortigen Schüler den Religionsunterricht nicht erteilen konnte. Sein Schwager, Joseph Neuwirth, hat dem damaligen Unterrichtsminister die Frage gestellt, ob denn keine Ausnahmebestimmung möglich sei. Es gäbe keine Verpflichtung, wurde ihm geantwortet, in Budweis einen Direktor zu bestellen, und solange mein Großvater an dieser Anstalt wirke, werde es keinen Direktor geben. Die Lehrerbildungsanstalt in Budweis versorgte das ganze nördliche Österreich mit Schullehrern, und ich habe bei sozialdemokratischen Versammlungen im Waldviertel oft alte Lehrer getroffen, die noch im Schlapphut und mit großer Krawatte erschienen und die mir die Frage stellten, ob der Direktor Kreisky in der Lehrerbildungsanstalt in Budweis mein Vater gewesen sei. »Nein, er war mein Großvater.«

Wie mir alte Bauern aus Kaladei erzählt haben, hat sich mein Großvater der besonderen Zuneigung seines Patrimonialherrn, des Grafen Wratislaw, erfreut. Als sich mein Großvater einer schwierigen Gallenoperation unterziehen musste, wurde sein Schwager, Professor Beer, ein berühmter Arzt aus Prag, nach Kaladei geholt. Ein langer Transport konnte dem Kranken nicht mehr zugemutet werden, und so beschloss man, ihn im Speisesaal der Grafen zu operieren, weil dort das beste Licht war; die Bauern haben die Schlaglöcher der Straße zum Schloss mit Stroh zugestopft, damit der Wagen nicht zu sehr rüttelte. Lange nachdem mein Großvater in Pension gegangen und nach Wien gezogen war, kamen alljährlich an seinem Geburtstag die Bauern aus Kaladei in die Stadt; schwere Männer mit großen Bärten, um ihm zu gratulieren. Sie hatten alle Kostbarkeiten bei sich, die die böhmische Erde hervorbringt: große Laibe domácí chléb (»Hausbrot«), Würste und Schinken. Obwohl mein Großvater Jude war und das nie bestritten hat, aß er offenbar leidenschaftlich gern Schinken, und die Bauern haben das gewusst.

Der Großvater war für uns der Inbegriff der Güte, rührend besorgt um alles, nicht zuletzt um die Zukunft seiner Söhne. Sie alle haben in ihren Berufen Erfolg gehabt, es zu einem gewissen Wohlstand und einem guten Namen gebracht. Nur eine Schwester meines Vaters war wirtschaftlich nicht besonders gut gestellt. Sie war mit einem Frontsoldaten verheiratet, der nach der Rückkehr aus dem Krieg nicht so recht Fuß fassen konnte; er betrieb die Auslieferung für Budweiser Bier in Allentsteig im Waldviertel. Ich erinnere mich, dass es in diesem Winkel Österreichs im Sommer nie warm wurde und der Winter von einer sibirischen Kälte war. Wie kalt es war, konnte man daran sehen, dass das Eis im sogenannten amerikanischen Eiskeller, in dem das Bier gelagert wurde, auch im Sommer nicht geschmolzen ist. Obwohl Wilhelm Schnürmacher ein Vaterlandsverteidiger und Invalide war, ist er mit einem großen Teil seiner Familie, wie man nach dem Krieg sagte, »ins Gas gegangen«.

Eine andere Schwester meines Vaters, die ich sehr gern hatte und die sehr intelligent war, wohnte ebenfalls im Waldviertel, in Gars. Sie war mit einem Arzt verheiratet, den ich aber nicht mehr kennengelernt habe. Ihr Sohn war Zionist der ersten Stunde, und zwar am rechtesten Flügel, ein Anhänger des Revisionisten Wladimir Jabotinski. Dieser Cousin, Viktor Much, hat einen ganzen Sommer hindurch mit viel Geschick versucht, mich für den Zionismus zu begeistern. Der Erfolg war, dass ich mich für diese Richtung zwar zu interessieren begann, sie aber ablehnte. Es ist also nicht so, dass ich erst sehr spät mit dem Zionismus konfrontiert worden wäre. Obwohl die zionistische Jugendbewegung in dem berühmten Psychoanalytiker Dr. Siegfried Bernfeld, einem der führenden Schüler Sigmund Freuds, einen Gründer besaß, der, wenn man so will, der große Theoretiker der Jugendbewegung überhaupt gewesen ist, konnte ich mich für die Ideen des Zionismus nicht erwärmen. Mein Cousin ging konsequenterweise sehr früh nach Palästina und wurde ein weithin berühmter Augenarzt; zu seinen Patienten zählten Scheichs aus vielen arabischen Ländern, da es ja bei den Arabern bekanntlich sehr häufig schwere Augenkrankheiten gibt. Nach dem Tod seiner Mutter 1958 ist er nach Wien zurückgekehrt.

Tante Rosa war übrigens die letzte aus der Familie, die ich sah, bevor ich an jenem Dienstag nach dem »Anschluss« wieder in Haft ging. Ich wollte meiner alten Großmutter, die damals 92 Jahre alt war, einen letzten Besuch abstatten, weil ich das Gefühl hatte, sie nie wiederzusehen. Es war eine der ergreifendsten Begegnungen dieser Zeit. Einst war sie eine der ersten Lehrerinnen der Monarchie gewesen, und nun saß sie da mit weißem Haar, wunderschönen Augen und sehr alten, schon sehr müden Händen und blickte mich traurig über den Tisch an und meinte: »Dein Vater und deine Brüder, alle meine Kinder waren immer sehr ehrliche, aufrichtige Menschen; in einer Sache haben sie mich nur leider angelogen, über deine Gefängniszeit. Da wollten sie mir begreiflich machen, dass du im Ausland studierst. Ich wusste es besser.« Sie hörte Radio und wusste um die Veränderungen in Österreich. »Und jetzt kommst du, weil du wieder ins Gefängnis gehen wirst. Sie sagen mir nichts, aber ich weiß ganz genau, da ein großes Unglück passiert ist.« Und obwohl sie an keiner akuten Krankheit litt, ging sie zwei Tage später ganz einfach sterben. Meine Tante Rosa übersiedelte zunächst zu meinen Eltern und dann zu ihrem Sohn nach Tel Aviv.

Mein Großvater war ein sogenannter Deutsch-Freiheitlicher. Wiederholt kam er auf die Sozialdemokratie zu sprechen, der er es verübelte, dass sie ihrem Kampf gegen den Kapitalismus eine, wie er behauptete, antisemitische Note gab. Dies war darauf zurückzuführen, dass die Kapitalisten dieser Zeit sehr oft Juden waren und die ehrlichen Karikaturisten sie auch als solche dargestellt haben. Mein Großvater pflegte zu sagen: »Gott sei Dank kommen die Sozis nie ans Ruder!«

In der Familie meines Großvaters waren drei politische Richtungen vertreten. Mein Vater, Max Kreisky, war ein der Sozialdemokratie mit Sympathie gegenüberstehender Mann. Als junger Fabriksleiter hatte er an einer Demonstration für die volle Sonntagsruhe teilgenommen, weil er in seinem jugendlichen Übermut dafür war, dass der ganze Sonntag frei sein sollte – für Angestellte wohlgemerkt, von den Arbeitern war bei diesem Punkt noch lang keine Rede. So grotesk dies aus heutiger Sicht scheinen mag, damals hat man ein solches Engagement mit seinem Posten bezahlt. Mein Vater, der es in dieser Textilfabrik bereits ziemlich weit gebracht hatte, geriet daraufhin in die Nähe der sozialdemokratischen Angestelltengewerkschaft. Die Privatangestellten waren die ersten, die eine Pensionsregelung hatten, die zwar nicht überwältigend, aber immerhin ein Anfang war. Wie eng und menschlich das Verhältnis meines Vaters zu den Arbeitern war, geht daraus hervor, dass 1918 einer der Betriebsräte des Unternehmens, dem er damals vorstand, zu ihm nach Wien kam, um ihn zu bitten, sich im Namen der Arbeiter und Angestellten des Gesamtunternehmens in den Arbeiterrat wählen zu lassen. Später hat er sich in den erbitterten Kämpfen zwischen Arbeitern und Unternehmern einige Male als Schlichter zur Verfügung gestellt.

Zwei Brüder meines Vaters, der eine, Oskar Kreisky, Professor für Deutsch und Französisch, der andere, Otto, ein angesehener Advokat in Wien, waren Mitglieder einer schlagenden Verbindung gewesen, die »Budovisia« hieß, weil ihre Mitglieder aus Budweis stammten. Bei jedem sich bietenden Anlass, so schien es mir, sangen die beiden mit großer Ergriffenheit die deutschen Turn- und Studentenlieder, und ich kann heute noch viele dieser Lieder auswendig, von Burschen heraus bis zur Wacht am Rhein. In der Mittelschule wurde ich durch entsprechend deutschnationale Professoren – es gab ja nur die Wahl zwischen deutschnational und klerikal, und der eine oder andere Sozialdemokrat fühlte sich dazwischen wie das hässliche kleine Entlein – ebenfalls dazu angehalten, derartige Lieder zu singen.

Ludwig, der älteste der Brüder, ebenfalls deutsch-freiheitlich, setzte die Lehrertradition fort und war Schuldirektor in Iglau. Er hat sich nicht ohne Erfolg für die Erhaltung des Deutschtums in Böhmen eingesetzt und in seiner Eigenschaft als Schulrat um jede deutschsprachige Schulklasse in seinem Bezirk gekämpft. Das hat ihn aber nicht davor bewahrt, später, mit seiner ganzen Familie, von den Nazis »ins Gas« geschickt zu werden.

Der vierte Bruder meines Vaters, Rudolf, war in meinen Augen der hervorragendste und derjenige, der mich eigentlich zur Sozialdemokratie hingeführt hat, soweit es noch eines Hinführens bedurfte. Er war einer der leitenden Funktionäre der sudetendeutschen Konsumgenossenschaften.


Fünf Brüder stehen für drei politische Richtungen: Max, der Vater Bruno Kreiskys, Oskar, Ludwig, Otto und Rudolf (von links).

Mein Onkel Rudolf Kreisky hat mir in einer entscheidenden Phase meines Lebens – nach jenem erschütternden 15. Juli 1927, an dem ich mit seinem Sohn Artur Zeuge der blutigen Demonstration vor dem Justizpalast wurde – den unmittelbaren Kontakt mit der Realität verschafft. Meine Erschütterung war so groß, dass ich damals vielleicht sogar zu jenen gehört hätte, die der Sozialdemokratie unter dem Eindruck der Führungsschwäche den Rücken kehrten. Es ist ja immer das große Problem für Leute, die im bürgerlichen Milieu aufwachsen, dass sie über ihre Bücher und ein paar Freunde aus ähnlichem sozialen Milieu nur selten hinauskommen. Die Arbeiterschaft präsentiert sich ihnen im Hausbesorger und vielleicht noch im Chauffeur. Mein Onkel nun wanderte mit mir während der Sommerferien von Dorf zu Dorf im Böhmerwald und im Riesengebirge. An den Vormittagen besuchten wir die kleinen Konsumvereine, die Abende verbrachten wir in den Versammlungen. Obwohl mir Fußwanderungen eigentlich immer zuwider waren, musste ich mit ihm ziehen, und so lernte ich das Elend in den Sudetengebieten kennen. Während mein Onkel die Bücher prüfte, die der Konsumvereinsleiter führte, saß ich draußen auf einem Stockerl oder bin durchs Dorf gegangen und sah mir die Leute an: Bergarbeiter, Glasbrenner, Weber, abgehärmte Frauen.

Die neue Tschechoslowakei war ein reiches Land, insbesondere für einen, der aus dem armen Österreich kam, aber um die Sudetendeutschen kümmerte man sich damals nicht. Politisch haben sie sich allerdings rasch gefangen. Die Parteien aus dem alten Österreich hatten im Sudetengebiet zum Teil längere Traditionen als bei uns; auch die ersten sozialdemokratischen Vereine waren dort gegründet worden.

Die politische Situation in der Tschechoslowakei war sehr viel besser als je im alten Österreich. Unter den Ministern gab es viele tschechische und deutsche Sozialdemokraten; es gab die Christlichsozialen, die große Agrarpartei und die Liberalen, die es bei uns nicht mehr gab, die sogenannten tschechischen »National-Sozialisten«, die Partei von Beneš.

Wenn ich mir die Siedlungen der Sudetendeutschen anschaue, die nach dem letzten Krieg überall in der Bundesrepublik und in Österreich aus dem Boden geschossen sind, die netten kleinen Häuschen und die Autos, die vor diesen Häuschen stehen, und das vergleiche mit dem, was ich in den zwanziger Jahren in Böhmen gesehen habe, dann frage ich mich oft, wonach sie sich eigentlich zurücksehnen. Es erscheint mir ungereimt, sich aus dem Wohlstand der neuen Heimat in die Armut der verlassenen zurückzuwünschen. Allmählich wird es Zeit, dass man aufhört, mit dem Begriff »volksdeutsch« oder »vertrieben« politische Interessen durchsetzen zu wollen. Aber natürlich gibt es eine gefühlsmäßige Komponente, und die habe auch ich kennengelernt: dieses besondere Heimweh, das man empfindet, wenn man dorthin, wo man zu Hause ist, nicht gehen kann, die Sehnsucht nach den Bergen und Tälern, wo man geboren wurde, nach den Flüssen und Seen, aber auch nach den Friedhöfen. Carl Zuckmayer hat in der Emigration den schönen Satz geprägt, Heimat sei nicht das Land, wo man geboren wurde, sondern das, nach dem man sich sehnt, um dort zu sterben.

Politisch sind die Deutschen in der tschechoslowakischen Republik nie verfolgt worden. Weder von meinem Großvater noch von meinem Vater, die sich beide als »Deutsch-Böhmen« betrachteten, habe ich je etwas Derartiges gehört. Das, was die Deutsch-Böhmen – ich bleibe absichtlich bei diesem alten klassischen Wort – in eine solche Gegnerschaft zum tschechischen Staat gebracht hat, war ihr materielles Elend. Nun waren diese Gebiete zu einem großen Teil seit eh und je Elendsgebiete – man denke an die vielen Märchen um Rübezahl. Das Weberelend hat es seit langem gegeben, und wenn Heine 1844 in seinem berühmten Gedicht über die schlesischen Weber schrieb: »Deutschland, wir weben dein Leichentuch, wir weben hinein den dreifachen Fluch – Wir weben, wir weben!«, dann galt das gleichermaßen für die Weber in Böhmen. Es war die offenbare Unfähigkeit der tschechischen Wirtschaftspolitik der zwanziger Jahre, die Arbeitslosigkeit dort zu bekämpfen, während im tschechischen Kernland eine uns Österreichern unbekannte Prosperität herrschte.

Wann und wo meine Eltern sich zum ersten Mal begegnet sind, habe ich nie erfahren. Als sie 1909 heirateten, war mein Vater dreiunddreißig Jahre alt und hatte bereits eine gute Stellung in Wien. Meine Mutter, Irene Kreisky, geborene Felix, war, wie es sich gehört hat damals, acht Jahre jünger. Mein Großvater hatte jeder seiner Töchter eine beachtliche Mitgift mitgegeben, und sofern sie nach Wien heirateten, erhielten sie meist ein Mietshaus, von dem man damals sehr gut leben konnte. Unter den Häusern, die meinen Verwandten gehörten, waren einige der höchsten Wiens. Materielle Sorgen hat es in dieser Familie bis zu meiner Emigration nicht gegeben.

Meine Mutter war die jüngste Tochter von sechzehn Kindern, von denen ich selber noch neun gekannt habe: Karl, Fritz, Berthold, Julius, Robert, Rachelle, Therese, Berta und Eugenie.

Wie groß der Altersunterschied war, konnte man daran ermessen, dass die älteste Nichte meiner Mutter so alt wie sie selber war, was ich als Bub komisch fand. Meine Mutter war sehr sportlich erzogen worden, ist geritten und war eine gute Eistänzerin. Um Politik hat sie sich erst ganz spät ein bisschen gekümmert. Sie soll einmal bei einer Wahl aus lauter Abneigung gegen die Sozialdemokraten den bürgerlichen Schober-Block gewählt haben, aber nur deshalb, wie sie mir gestand, weil sie irritiert darüber war, dass ich nichts anderes im Kopf hatte als Politik.

Meine Eltern haben bei meiner Erziehung niemals zu körperlicher Züchtigung Zuflucht genommen. Nur ein einziges Mal ist meiner Mutter, wie sie sagte, die Hand ausgerutscht. Ich muss zugeben, dass mir diese Ohrfeige heute noch in Erinnerung ist: Als ich mich konsequent weigerte, meine Aufgaben zu machen, und trotz wiederholter Mahnungen immer weiter dummes Zeug trieb und dann noch eine vorlaute Antwort gab, ist ihr die Geduld gerissen. Sie hat das Strickzeug weggelegt und mir eine Ohrfeige gegeben, die sie aber nachher sehr viel mehr bedauert hat als ich. Ansonsten bewahre ich eine Erinnerung an eine gütige Frau, die 84 Jahre alt wurde und so manches schweigend erlitten hat. Sie hat den Verlust meines Vaters nie verwunden; in den letzten Monaten, als sie schon leicht geistig umnachtet war, hat sie mich immer für ihn gehalten und leicht vorwurfsvoll gefragt, warum ich denn so selten nach Hause komme. Meinen Cousin Herbert Felix hat sie damals für ihren im Konzentrationslager ermordeten Bruder gehalten. Vielleicht liegt in dieser sonderbaren Verwechslung eine versöhnliche Geste des Schicksals, denn so sind ihr die Liebsten wiedererstanden in uns: der Mann durch den Sohn und der Bruder durch den Neffen. Sie starb, wie alte Menschen oft sterben, eigentlich nicht an einer Krankheit, sondern an den Folgen eines gebrochenen Beins.

Meine Mutter war eine unendlich gütige Frau und ertrug fast alles mit Ruhe und Gleichmut. Sie hat gern gelacht und mit einer Herzlichkeit, die ich heute noch aus der Ferne zu vernehmen glaube. Sie hätte es mir sicherlich nicht verübelt, wenn ich in ihrer Gegenwart gesagt hätte, dass sie nicht den Ehrgeiz besaß, die intelligenteste unter ihren Schwestern zu sein. Sie selber war der Ansicht, dass diese oder jene viel intelligenter sei als sie. Es war ein Phänomen – und nicht nur unter den reichen jüdischen Familien –, dass in der zweiten und dritten Generation nicht alle mit herausragender Intelligenz gesegnet waren. Eine gewisse Problematik rührte auch daher, dass es nach jüdischem Religionsgesetz kein Ehehindernis zwischen Cousins und Cousinen gab. Religiöse Motive spielten aber in beiden Familien kaum eine Rolle; sie waren auf ihre Art liberal, und Heiraten mit Katholiken oder Protestanten stand nichts im Wege.

Ich war das zweite Kind meiner Eltern, und der Liebling meiner Mutter war eigentlich mein zwei Jahre älterer Bruder Paul, der sich aufgrund einer Kinderlähmung kurze Zeit nach seiner Geburt geistig nur sehr langsam entwickelte. Man kann das ja oft beobachten, dass leidende Kinder zu Lieblingskindern werden. Mein Bruder lebte als alter Mann in Israel und bereitete mir durch seine Absonderlichkeiten große Sorgen. Die Springer-Presse und andere haben meinen Bruder immer wieder gegen mich auszuspielen versucht, vor allem in Israel. Regelmäßig ließ die Springer-Presse Reporter ausschwärmen, und manche Israelis halfen ihnen dabei, diesem kranken Mann einzureden, er müsse diese oder jene Erklärung abgeben. Einmal hat man ihm eine hohe Gage versprochen für seine Mitwirkung in einem Film, in dem er einen Bettler an der Klagemauer darstellen sollte. Das Foto ist dann durch die gesamte Presse gejagt worden: Der Bruder des österreichischen Kanzlers bettelt an der Klagemauer! Ich scheue mich nicht, zu sagen, dass ich meinem Bruder neben seiner kleinen österreichischen Pension jährlich einen Betrag zukommen lasse, der dem Bezug eines Rentners entspricht, und alle Spesen übernehme. Unlängst hat er wieder eine Erbschaft gemacht, und zudem bezieht er die israelische Altersrente. Man kann also nicht behaupten, dass mein Bruder am Hungertuch nage. Nur hat er zu Geld überhaupt keine Beziehung; am dritten Tag hat er es entweder verschenkt, verborgt oder verspielt. Der Zeuge für meine Angaben ist der österreichische Generalkonsul in Tel Aviv, der im Übrigen berechtigt ist, meinem Bruder in urgenten Fällen kleinere Beträge auszuzahlen.

Meine Mutter war mir schon deshalb eine große Hilfe, weil sie immer wieder meine Jugendstreiche deckte. Sie wusste mit fast instinktiver Sicherheit, wann ich in der Schule war und wann nicht. Sie merkte, wenn ich mit meinem Taschengeld am Ende war, und erwartete meine Anleihen. Im Haushaltsbuch, das sie nur widerwillig, dem Ordnungssinn meines Vaters zuliebe führte, notierte sie die Groschen, die sie mir gab, einfach als Ausgaben und Trinkgelder. Sie spielte gern Bridge, zwar nicht sehr gut, aber doch blieb von ihrem Spielgeld genug übrig, um kleinere Beträge für mich abzuzwacken. Ich habe ihr davon nie etwas zurückgezahlt. Dass sich mein Vater jemals das Wirtschaftsbuch angeschaut hat, glaube ich nicht. Es war dies eine jener sinnlosen Einrichtungen, die sich aus übertriebenem Ordnungssinn ergeben haben. Meine Mutter hat ihr Haushaltsbuch bis zuletzt geführt, lange unter dem Druck meines Vaters, so wie sie bis zuletzt die großartigen Bäckereien und Torten nach dem Kochbuch ihrer Mutter und Großmutter machte.

Ich war immer wieder darüber erstaunt, dass sie sich das Rezept der Panamatorte in all den Jahren nicht hat merken können. Das Kochbuch war handgeschrieben, und alle Rezepte begannen mit: »Man nehme«. Immer wieder war im Familienkreis von diesem legendären Kochbuch die Rede, und sooft eine neue, wunderbare Speise aufgetischt wurde, mussten die Tanten und Onkel das Rezept erraten. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren war dieses Kochbuch allerdings nicht in Gebrauch, denn es verlangte opulente Zutaten. Eines Tages machte sich eine meiner frechen Cousinen, die in Wien Kunstgewerbe studierte, über das Kochbuch her und korrigierte es auf die denkbar einfachste Weise: Sie reduzierte wichtige Ingredienzen kurzerhand auf ein Zehntel, und es stellte sich heraus, dass die Torten fast ebenso gut schmeckten wie zuvor. Alle sprachen nur noch vom »Republikanischen Kochbuch«. Einer der Gründe, warum diese Köstlichkeiten so köstlich schmeckten, war der, den auch Torbergs Tante Jolesch nennt: Es war nie genug da.

Ich erinnere mich noch sehr genau an das Zeremoniell eines damaligen Wochenendes. Am Samstag hat man noch bis in den Nachmittag hinein gearbeitet, so dass das eigentliche Wochenende für die meisten bürgerlichen Menschen erst am Spätnachmittag oder frühen Abend des Samstags begann. Für das Abendessen mit Verwandten und Freunden war schon während der Woche sehr viel Mühe aufgewendet worden. Wenn der »Speisezettel« feststand, führte die Köchin ihre Bestellungen bei den Kaufleuten in der Umgebung durch. Manchmal zogen Hausfrau und Köchin gemeinsam in entlegene Bezirke, weil dort zum Beispiel das Rindfleisch von besonderer Qualität war. Am Samstagabend gab es allerdings kein Rindfleisch, das vom Zeremoniell her eine traditionelle Mittagsspeise war: In manchen Häusern – so auch bei uns – bekam man viermal in der Woche zu Mittag Rindfleisch, meistens gekocht mit Beilagen.

Vom Sonntagsessen erzählte man, dass es in den Bürgerhäusern und in den Adelshäusern das Gleiche gewesen sei und dass es auch in etwas besser situierten Arbeiterfamilien nichts anderes gegeben habe. Zum sonntägigen Mittagessen wurde die Familie eingeladen, Söhne, Töchter und Enkelkinder. Von besonderer Bedeutung aber war die Sonntagsjause. Nach dem Essen hielt man in einem bequemen Fauteuil ein kleines Nachmittagsschläfchen, das dreißig Minuten nicht überschreiten sollte, und zwischen drei und halb vier trafen die Gäste ein. Bei uns waren gelegentlich Musiker eingeladen – es waren fast immer Philharmoniker oder ehemalige Philharmoniker –, und nach einer halben Stunde setzte sich einer von ihnen ans Klavier und begann zu spielen. Gegen halb fünf wurde zur Jause aufgefordert. Sie bestand in der Regel aus einem Wiener Kaffee mit ein bisschen Obers – sehr elegante Leute tranken nur Tee, eine Gewohnheit, die von den ursprünglichen Wiener Familien allerdings nicht goutiert wurde –, und dazu gab es herrliche, selbstgemachte Bäckereien, für die Hausfrau und Köchin entsprechend gelobt wurden.

Die Jause wurde meistens dadurch beendet, dass man zum Nachtmahl rüstete. Weil man sozial mitfühlend war und den Hausangestellten für den Abend freigegeben hatte, damit sie sich im Prater oder irgendwo am Land bei einem Kirtag belustigen, war es meist ein »kaltes Nachtmahl«. Man nahm dann vorlieb mit dem, was die benachbarten Selchermeister und Delikatessengeschäfte zu bieten hatten. Manchmal machte man auch einen kleinen Ausflug zum guten Wirten in der Nachbarschaft. Die Kinder freilich blieben zu Hause; für sie war das sogenannte »gute Gasthaus« eine verschlossene Welt, deren Genüsse ihnen versagt blieben. Es gab noch eine zweite Alternative für den Sonntagabend: Man ging ins Theater. Normalerweise ist man in bürgerlichen Familien jedoch wochentags ins Theater gegangen; die Samstag- und Sonntagabende waren den anderen Bürgern, sofern sie kunstbeflissen waren, vorbehalten.

Es kam immer wieder vor, dass die Jausengesellschaft so animiert war, dass die Dame des Hauses die Gäste aufforderte, doch noch zu bleiben. »Wir haben genug vorbereitet.«–»Habt ihr wirklich genug?« war die entsprechende Antwort, und dann entspann sich eine Situation, für die es den schönen Wiener Ausdruck gibt: »Halt’ mich, ich bleib’ gern!«. Das waren die in Tausenden Familien gebräuchlichen Formen, in denen sich die Samstag- und Sonntagabende abspielten. Dann saß man noch lange beisammen, und die sogenannten feinen Leute sind meist erst sehr spät nach Hause gekommen; sie hatten am nächsten Tag die Möglichkeit, eine halbe Stunde länger zu schlafen oder ein Nachmittagsschläfchen zu halten.

Während des Krieges musste meine Mutter sich oft, zusammen mit der Köchin und der Hausgehilfin, um Lebensmittel anstellen, weil die Versorgung immer schlechter wurde. Und da sind unsere mährischen Verwandten auf die glorreiche Idee gekommen, in die großen Brotlaibe kleine Schinken einzubacken. Viel später habe ich erfahren, dass das eine Delikatesse ist; ich bin sicher, dass sie von meiner Familie erfunden wurde.

Das Kochen war für meine Mutter ein sehr spannendes Erlebnis. Die Güte der Mahlzeit war in meiner Jugend sehr viel unberechenbarer als heute. Das fing bereits damit an, dass man im Herd Feuer machen musste. Ob der Herd genug Zug hatte, das wiederum hing vom Wetter ab.

Wenn das Feuer im Herd zu stark wurde, ist so manches Gericht angebrannt. Später kam der Gasherd, aber auch hier ist nicht immer alles gelungen. Meiner Mutter standen eine Köchin und eine Hausgehilfin zur Verfügung. Es waren lange Zeit zwei böhmische Schwestern, später junge Frauen aus Kärnten, die immer aus derselben Familie stammten. Sie waren alle echte Familienangehörige. Man lachte mit ihnen, bei besonderen Anlässen tanzte man mit ihnen, schließlich weinte man mit ihnen, und es gab während des Krieges viel Anlass zu Trauer, auch später wieder, als Hitler kam. Die Böhminnen stammten aus einem kleinen Dorf, und obwohl es 70 Jahre her ist, kann ich mich an die beiden gut erinnern. Meine Eltern sprachen mit ihnen tschechisch, was ihnen den Aufenthalt in Wien sehr erleichterte. Tschechisch war für meinen Vater und für meine Mutter die zweite Sprache, obwohl sie sich als deutsch sprechende Österreicher empfunden haben. Marie und Julie waren unentbehrlich, und wir liebten sie. Wie sehr sie zur Familie gehörten, beweist ein abscheuliches Bild, das zum Hochzeitstag meiner Eltern bei einem Fotografen gemacht wurde. Marie sitzt in der Mitte, links und rechts von ihr mein Bruder Paul und ich: zwei ausgehungerte Buben, den total unterernährten Körper in Ruderleiberln, in Schuhen und Hosen, die auf Wachstum eingerichtet sind, und kahlgeschoren, weil das nach Auffassung meines Vaters sehr gesund war.

Der böhmischen Marie und der böhmischen Julie, aber auch Frau Josefine Hoffmann und den drei Schwestern aus der Hafnerfamilie Jobst in Hermagor, ihnen allen bewahre ich eine lichte und freundliche Erinnerung, denn sie alle haben es mit uns immer gut gemeint und besonders mit mir. Sie haben vieles für mich getan und manches verheimlicht, zum Beispiel, dass unsere beiden Dobermänner während eines Opernbesuchs meiner Eltern in deren Betten lagen und, als man sie hinaustrieb, aus Schreck sich nicht gut benahmen. Marie und Julie haben auch viel zu meiner Erziehung beigetragen; sie besaßen den gesunden Instinkt zweier junger bäuerlicher Wesen.

Die hübsche Julie ging mit mir regelmäßig in den Park, der neben der zum Militärspital umgewandelten Mollardschule lag. Sie setzte sich immer auf dieselbe Bank und fand Kavaliere, meist sogenannte vojáks, Soldaten aus dem Spital, die rekonvaleszent waren und mittags in den Park gehen durften. Es waren meist Tschechen, und sie verstanden sich ausgezeichnet. Ich war sehr glücklich über den Anschluss, den unser Kindermädchen fand, denn so besaß ich vollkommene Freiheit in diesem Beserlpark und konnte mir meine Freunde aussuchen, ohne dass sie mir zurief, dass ich mit dem oder jenem nicht spielen dürfe. Andere kleine Bürgerkinder haben oft stark gelitten unter den ständigen Ermahnungen ihrer Aufpasserinnen, und wenn sie sie befolgten, waren sie für uns der Anlass zu sehr viel Spott. Dann liefen sie zu ihren Fräuleins, beklagten sich über uns und heulten. Das herrliche Leben im Park haben sie nie wirklich genossen.


»Maria sitzt in der Mitte, links und rechts von ihr mein Bruder Paul und ich: zwei ausgehungerte Buben, den total unterernährten Körper in Ruderleiberln.« Ein Foto, das zum Hochzeitstag der Eltern entstand.

Sehr viel später waren die Hausgehilfinnen die Verbündeten unserer ersten kleinen Affären. Man ging ins Kino; als besonderes Zeichen der Vertraulichkeit galt es, wenn einem die Freundin ihren Handschuh in die Tasche steckte. Ich erinnere mich noch an den strengen Blick der Köchin, die mir sagte: »Bruno, hier ist ein Damenhandschuh«, worauf ich meinte: »Na und, was ist da dabei?« »In der andern Tasche war auch ein Handschuh.« »Zwei gehören ja wohl zusammen.« »Aber es waren verschiedene.« Sie hat auf diese Art ihre Missbilligung darüber zum Ausdruck gebracht, dass ich damals im Alter von fünfzehn, sechzehn Jahren mit verschiedenen Mädchen ins Kino ging. Später, als ich im Gefängnis saß, hat sie immer irgend etwas Besonderes für mich gebacken, was mir meine Mutter dann mitbrachte.

Dank der leidenschaftlichen Satzanalysen meines Großvaters hatte ich sehr rasch lesen gelernt. In der Schule genierte ich mich dessen, zum einen, weil das so aussah, als wolle ich meine Künste vor der ganzen Klasse demonstrieren, zum anderen, weil ich glaubte, meine Lehrerin, ein adeliges Fräulein, könnte sich bei mir überflüssig vorkommen. Fräulein Helene von Valčic und anderen meiner Lehrerinnen tat es sehr weh, als sie eines Tages das »von«, das offenbar ihre Väter als Offiziere erworben hatten, nicht mehr gebrauchen durften. In den ersten beiden Jahren meines Schullebens konnten sie es noch verwenden, dann musste es plötzlich wegbleiben. Die Deutschen haben es viel klüger gemacht und das Adelsprädikat zu einem Teil des Namens erhoben. Mich hätte das »von« in Österreich nie gestört. Wenn nur sonst dem Gleichheitsbegriff der Demokratie stärker Rechnung getragen worden wäre in der Ersten Republik.

Zu Hause machte ich von meinen Lesefähigkeiten reichlich Gebrauch. Unsere tschechische Köchin konnte die in Fraktur gedruckten Zeitungen nicht lesen, und so musste ich ihr die wichtigsten Tagesereignisse vorlesen. Das hatte übrigens einen erfreulichen Nebeneffekt. Die Köchin und ich wurden dadurch sozusagen Komplizen, und das hat mir manche Gerichte, die ich nicht gern aß, erspart. Eines Tages hatte ich von mir aus das Bedürfnis, Marie einen Artikel vorzulesen. Ich ging in die Küche, wo sie gerade mit dem Schmirgeln des Ofens beschäftigt war. Dabei mussten wir ihr gelegentlich helfen. Die Küchenherde hatten an der Seite eine Stahlplatte, auf die man die fertigen Speisen zog; daneben war ein Stangen angebracht, auf das man die Tücher hängen konnte. Das Schmirgeln des Ofens war eine anstrengende, eintönige Beschäftigung.

Es war am letzten Tag des Krieges, und während Marie den Ofen saubermachte, habe ich ihr den Leitartikel Das Ende des Krieges aus der Neuen Freien Presse vorgelesen. Mit siebeneinhalb Jahren ist mir das Lesen dieses furchtbar langen Artikels sicher nicht leichtgefallen. Plötzlich merkte ich, dass Marie gar nicht zuhörte. Ihr genügte die Mitteilung, dass nun der Friede gekommen sei. Ich werde nie ihre Worte vergessen, dass ich das Lesen einstellen könne: »Wer weiß, für was gut ist!« Sie hat sich vom Frieden keine sehr deutlichen Vorstellungen gemacht und verwendete eine Formulierung aus dem Wienerischen, die nicht ganz passte. Damit wollte sie ausdrücken, dass eigentlich jeder Zustand schlecht und jede Veränderung positiv sei. Ein vier Jahre dauernder Krieg mit all dem Leid, das er verursachte, wurde von vielen Menschen offenbar als etwas Unabänderliches akzeptiert.

Weder in den Staaten, die den Krieg verloren hatten, noch bei den Siegern kam Freudenstimmung auf. Restlos glücklich war man nur in den neutralen Staaten.

Ich habe viel gelesen in meiner Kindheit. Merkwürdigerweise nie eine Zeile von Karl May, was ich später sehr bedauert habe, da ich die Geheimsprache meiner Schulkameraden kaum verstand. Ich las auch keine für Kinder präparierten Detektivgeschichten, dafür aber sehr gerne Märchen. Am liebsten die von Andersen, dessen Hintergründigkeit ich sehr früh verstand. Die Geschichte von Des Kaisers neuen Kleidern begleitet mich heute noch. Auch Das hässliche Entlein traf meine sich behutsam entwickelnde soziale Ader. Von den Grimm’schen Märchen schätzte ich besonders Hans im Glück. Er war für mich der Inbegriff des Menschen, der immer wieder alles falsch macht. Ich erinnere mich an einen Wortwechsel im Parlament, als ich die wirtschaftlichen Erfolgszahlen meiner Regierung vorlas und irgendein bäuerlicher Abgeordneter dazwischenrief: »Glück ham’S gehabt!«, und wie ich mich unterbrach und zu ihm sagte: »Ja, Herr Abgeordneter, aber was macht der Dumme mit dem Glück?«

Mein Interesse am Lesen war so auffällig, dass mein Vater sehr früh begann, mir Bücher zu schenken, vor allem Geschichtsbücher, und die Bücher, die ich meinem Vater schenkte – dabei ließ ich mich beraten von einem benachbarten kleinen Buchhändler, dem buckligen Herrn Ferber –, habe ich regelmäßig zunächst selber gelesen. An meinem 14. Geburtstag bekam ich von meinem Vater, als Krönung sozusagen, eine antiquarische Ausgabe der sehr teuren und kostbaren Ullstein’schen Weltgeschichte. Ich hätte zwar lieber ein Fahrrad gehabt, aber sehr bald schon liebte ich diese sechs Bände über alles, nicht wegen der langen und für mich damals schwer verständlichen Aufsätze, sondern wegen der wunderbaren Reproduktionen, von denen ich manche vorsichtig herauslöste und sie an gute Freunde weitergab.

Stundenlang habe ich diese Bände durchgeblättert, bis ich alle Abbildungen im Kopf hatte. Ich erinnere mich noch heute, zum Beispiel an das Bild »Napoleon betrachtet den Brand von Moskau«; in diesem Prachtgemälde enthüllte sich mir die ganze Tragik des Franzosenkaisers. Vielleicht bin ich deshalb nie ein Bewunderer Napoleons geworden, obwohl er sich in meiner Familie einer gewissen Wertschätzung erfreute, vor allem, weil er die Emanzipation der Juden so energisch vorangetrieben hat. Das hat nicht nur meine Vorfahren, sondern offenbar auch die von Marx und Heine an ihm beeindruckt. Noch heute klingt mir das Heine-Gedicht Die Grenadiere im Ohr, das mir mein Onkel Oskar, der literarisch besonders interessiert war, immer wieder vorgelesen hat: »Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!«

Später habe ich auch die Texte der Ullstein’schen Weltgeschichte gelesen, denn ich wollte immer dem Unterricht voraus sein, in der Klasse ging mir alles viel zu langsam. Allerdings war ich hierbei sehr wählerisch. Ich habe nicht gelesen, wie man ein Buch normalerweise liest, sondern mal hier, mal dort, und eher von hinten nach vorn. Den großartigen Aufsatz von Felix von Luschan über Rassen und Völker habe ich auch später bei vielen Gelegenheiten herangezogen. Dort heißt es an einer Stelle: »Von einem arischen Typus oder einem arischen Schädel zu sprechen, ist genau so töricht, als wenn man von einer blauäugigen oder von einer langköpfigen Sprache reden wollte. Der anatomische Begriff der Rasse und der linguistische Begriff der Sprachenfamilie dürfen nicht miteinander verwechselt werden.«

Natürlich hat mich, so wie meine ganze Generation, das Buch Onkel Toms Hütte von Beecher-Stowe ungeheuer beeindruckt. Ich fühlte ganz mit den Schwarzen, wenngleich ich heute weiß, dass die kämpferischen Schwarzen, die sich um meinen Freund Jesse Jackson scharen, dieses Buch nicht gerade als Inbegriff der civil rights betrachten. Aber auch wenn ich erst sehr viel später erst begriffen habe, welche materiellen Hintergründe der Amerikanische Bürgerkrieg und die Befreiung der Schwarzen hatten und dass dies eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung Amerikas zur Industrienation war, so habe ich das Ende der Sklaverei doch immer als eine der großen historischen Leistungen angesehen.

Habent sua fata libelli, heißt es, aber Bücher haben nicht nur ihre Schicksale, sondern sie gestalten auch das Schicksal derer, die sie lesen. Ich könnte ein Buch nach dem andern aus meiner Jugendzeit nennen, das mich beeinflusst und geformt hat. Wenn ich heute eines dieser Bücher aus dem Regal ziehe und die vielen Eselsohren sehe, dann fühle ich mich zurückversetzt in eine Zeit, in der es so vieles zu entdecken gab. Hier und da habe ich die Seiten auch mit Anmerkungen vollgeschrieben, allerdings nur, wenn es sich um wissenschaftliche Bücher handelte, die ich immer anders betrachtet habe als Bücher der sogenannten »schönen Literatur«.

Es gibt Bücher, die ich mehrmals gelesen habe und auch heute immer wieder lese. Eines meiner Lieblingsbücher ist Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Ich gehöre, das kann ich wohl sagen, zu den wenigen, die Musils Werke schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg gut kannten, und mit meinen Hinweisen auf ihn habe ich meinen Teil zur Musil-Renaissance beigetragen. In Schweden habe ich mich sogar als Übersetzer versucht, bin aber nach wenigen Absätzen gescheitert, weil die Sprache Musils in keinem Verhältnis zu meinen damaligen Kenntnissen des Schwedischen stand. Romane habe ich immer gern gelesen, aber ich gebe zu, dass ich sie mir mit sehr viel Bedacht ausgesucht habe, damit ich mir nicht am Ende die Frage stellen musste: Wozu hast du so viele Stunden in die Lektüre dieses Buches investiert?

Eine Facette meiner Zuneigung zu Büchern ist meine große Lust, selbst zu schreiben und zu fabulieren. Dieser Lust am Schreiben hätte ich in besonderer Weise huldigen können, wenn es zur Erfüllung meines ursprünglichen Berufswunsches gekommen wäre: Journalist zu werden. Eine große Zahl heute sehr bekannter amerikanischer Schriftsteller hat so angefangen, mit Reportagen, die sie mit einer immer größeren literarischen Fähigkeit verfassten, bis sie schließlich aufgehört haben, Journalisten zu sein und nur mehr Schriftsteller, ja Dichter waren. Zu ihnen zählt Hemingway mit seinen Reportagen aus Spanien – bis hin zu seinem großen Roman Wem die Stunde schlägt. Oder John Steinbeck, der über das Elend der amerikanischen Farmer berichten sollte und dieses aufwühlende Werk Früchte des Zorns schrieb, einer der großen Schriftsteller unserer Zeit.

Ein anderer ehemaliger Journalist war Arthur Koestler, der ebenfalls als Reporter nach Spanien ging. Auch wenn nicht alle seine Bücher Meisterwerke waren, so habe ich doch sein Spanienbuch Spanish Testament gelesen. Auch Erich Kästner begann als Journalist und war bald einer der meistgelesenen Lyriker unserer Zeit. Obwohl manche Banausen die Nase über seine Art von Gedichten rümpfen: Er hat kein einziges Gedicht geschrieben, das unkritisch gewesen wäre.

Im Laufe meines Lebens, vor allem während meiner Gefängniszeit, habe ich viel über das Erbgut nachgedacht, das in mir steckt. Heute kommt es mir so vor, dass ich beiden Familien manches verdanke. Zur Formung meines Charakters hat natürlich auch der Umstand beigetragen, dass ich jüdischer Herkunft bin. Um so lächerlicher sind die teils versteckten, teils offenen Vorwürfe, ich versuchte, mich meines Judentums zu entledigen.

Ein wichtiges Erbteil meiner väterlichen Familie ist mein Sinn für das Politische. Der Bruder meiner Großmutter, mein Großonkel Joseph Neuwirth, hat fast genauso lang dem österreichischen Reichsrat angehört wie ich dem österreichischen Nationalrat – nur fast hundert Jahre vor mir. Er starb am 20. Mai 1895. In einem Nachruf hieß es damals: »Seit dem Jahre 1873 vertrat Joseph Neuwirth die Brünner Handelskammer im Abgeordnetenhause, woselbst er in kurzer Zeit in die Reihe der hervorragendsten Mitglieder trat. Es war ihm als volkswirthschaftlicher Schriftsteller ein bedeutender Ruf vorangegangen, den er durch seine parlamentarische Thätigkeit vollauf rechtfertigte. In den vielen wichtigen Fragen wirthschaftlicher Art, deren Lösung die Volksvertretung in den letzten Decennien beschäftigte, konnte Abgeordneter Neuwirth sein großes Wissen, seine klare Auffassung und seine genaue Kenntniß der wirthschaftlichen Verhältnisse aufs glänzendste bethätigen … Seine Reden zeichneten sich stets durch eine Fülle von Inhalt und durch großen Ernst in der Auffassung aus. Zahlreiche wichtige Referate, darunter auf dem Gebiete der socialpolitischen Gesetzgebung, waren ihm anvertraut und insbesondere im Budgetausschusse … war er einer der unermüdlichsten Arbeiter. Neuwirth war ein treuer, überzeugter Anhänger der liberalen Partei von entschieden fortschrittlicher Gesinnung, die er jederzeit offen zur Schau trug. Sein Tod hinterlässt eine große Lücke, die schwer auszufüllen sein wird.«

Joseph Neuwirth war einer der bedeutendsten unter meinen väterlichen Vorfahren und wurde in der Familie dementsprechend verehrt. Er hat viel für die Familie meines Vaters getan. In seinem Testament von 1889 bat er seine »geehrten Freunde und Kollegen, Abg. Dr. Ernst von Plener«, den späteren Finanzminister, »und Dr. Guido Freiherr von Sommaruga«, seinen »verwaisten Kindern auf ihrem Lebensweg nach Kräften schützend und fordernd beizustehen«. Überdies sprach er in diesem Testament den »Wunsch aus, dass meinen beiden Schwestern Katharina Kreisky in Kaladey«– meine Großmutter –»und Lina Bratmann (in Iglau Mähren) jener Erziehungsbeitrag für ihre zahlreichen Kinder, welchen sie seit einer langen Reihe von Jahren von mir bezogen haben, in gleicher Weise wie bisher, fortan seitens meiner Kinder zugewendet werde«. Joseph Neuwirth war kein reicher, aber auch kein armer Mann. Er stiftete Legate nicht nur für die sechzehn Kinder seiner Schwestern, sondern auch für das Dienstpersonal sowie für die Armen in Triesch, seinem Geburtsort in Mähren, die Armen in Meran, Obermais, Brünn und Linz.

Bei seiner Bestattung, so verfügte Joseph Neuwirth in seinem Testament, sollte auf »religiöse Zeremonien irgendwelcher Art« verzichtet werden. Weil er konfessionslos war, soll er von Kaiser Franz Joseph einmal aus einer vorgelegten Ministerliste gestrichen worden sein. Man hatte ihn für den Posten des Finanzministers vorgeschlagen. Der Kaiser hörte sich die Vorschläge an, nahm die Mitteilung der Meriten der einzelnen Herren gnädig zur Kenntnis und stellte schließlich die obligatorische Frage nach ihrer Konfession. Fast alle dürften römischkatholisch gewesen sein; beim Finanzminister Joseph Neuwirth stockte der designierte Ministerpräsident einen Augenblick und sagte schließlich: »Konfessionslos.« Der Kaiser horchte auf und soll der Überlieferung zufolge gesagt haben: »Ja, was ist denn das?« Als er die entsprechende Aufklärung erhielt, soll er den Namen ausgestrichen haben mit der Bemerkung: »Da wär’ mir schon lieber, er wär’ ein Jud’.«

Diese kleine Anekdote wurde oft in meiner Familie erzählt. Trotz ihrer Neigung, konfessionslos zu werden, weil das ihrer liberalen und agnostischen Einstellung entsprach, wurden viele Mitglieder meiner Familie aufgrund dieser Anekdote sonderbarerweise religiös. Joseph Neuwirth spricht in seinem Testament daher auch die Hoffnung aus, dass seinen Kindern, die dem römisch-katholischen Glauben angehören, aus dem Umstand, dass er sich »religiöse Zeremonien irgendwelcher Art« ausdrücklich verbittet, keine Probleme erwachsen.

Von der großbürgerlichen Familie Felix habe ich wahrscheinlich die Neigung mitbekommen, ungeachtet meiner politischen Gesinnung jenen Lebensstil beizubehalten, den ich von zu Hause kannte. Die Männer in der Familie Felix waren meist Bonvivants, die Frauen durchwegs sehr noble, intelligente Personen. Ebenso wie die Brüder meines Vaters spielten fast alle Mitglieder der Familie Felix in meinem Leben eine große Rolle.

Das erste Dokument, in dem einer meiner Vorfahren erwähnt wird, stammt aus dem Jahre 1694. Es ist ein Empfehlungsschreiben der Reichsgräfin Zierotin für ihren Bader Felix Sachs – ein Zuname, der später nicht mehr auftaucht. Nachdem Felix Sachs acht Jahre unter ihrer Herrschaft gearbeitet hatte, wollte er sein Glück offenbar anderswo suchen und bat um ein Zeugnis.

Sowohl mein Urgroßvater als auch mein Großvater waren sehr unternehmerische Leute und haben das Neue stets sofort erfasst. Mein Großvater, Moritz Felix, der ein knorriger, sehr selbstbewusster Mann gewesen sein muss, machte aus der Spiritusbrennerei eine Likörfabrik und errichtete außerdem eine Konservenfabrik in Znaim.

Das tschechischsprachige Trebitsch war ein schönes Städtchen in Mähren, das zu meiner Zeit 13.000 Einwohner zählte. An einem dieser ungeheuer großen Plätze, wie es sie nur im alten Österreich gegeben hat, besaß die Familie seit vielen Generationen ein stattliches Haus. Während mir die deutschen Städte im Kern immer als etwas eng erschienen, hatte man in Böhmen und Mähren den Eindruck, dass alle Bürger um den zentralen Platz herum lebten, was ursprünglich bei der Anlage solcher Plätze vielleicht auch beabsichtigt gewesen ist. Im Haus der Familie Felix in Trebitsch verlebte ich den Großteil meiner Ferien, und es war für mich sehr schmerzlich, als das Haus nach dem Krieg von der tschechischen Regierung in brutaler Weise erst zur städtischen Wasserverwaltung umfunktioniert und in den Siebzigerjahren schließlich weggerissen wurde. Seither habe ich mich geweigert, jemals wieder nach Trebitsch zu fahren. Denn seitdem es das Haus nicht mehr gibt, sind die schönsten Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend verloren.

Das großelterliche Haus lag im Herzen der Stadt und direkt neben dem Rathaus, was eine gewaltige Ausnahme darstellte, denn die Juden wohnten in der Regel in eigenen Vierteln außerhalb der Stadtmauern. Die Judenstadt von Trebitsch lag auf der anderen Seite der Iglau. Oberhalb der Judenstadt lag das Schloss der Grafen Waldstein. Man musste also durch die Judenstadt zum Schloss hinauf, und ich erinnere mich sehr gut an diesen Weg, weil ich dort oben immer Tennis spielte. Eine alte Gräfin Waldstein hat mir einmal erzählt, dass ihr Vater Leute auf einem Turm postiert hatte, die ihm mitteilen mussten, wann mein Großvater sein Haus verließ. Dann hat sich der Graf aufgemacht, um ihm zufällig zu begegnen, weil er wissen wollte, wie die Kurse an der Börse in Prag notierten.

Aus Trebitsch stammt auch der berühmte Schuhkönig Bat’a, der in meiner Familie eine gewisse Rolle spielte, weil man an seinem ersten großen wirtschaftlichen Erfolg nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Bat’a stellte damals Hausschuhe vom Fließband her; die Patschen bestanden aus einem besonderen Wollgemisch und hatten eine Ledersohle. Die Idee war völlig neu, und niemand wollte dem Bat’a das Leder für die Sohlen kreditieren.

Schließlich hat der Mann der ältesten Schwester meiner Mutter, der eine große Lederfabrik in Znaim besaß, das Material zur Verfügung gestellt. Der Schuhkönig, der später ganz Zlín beherrschte und heute überall auf der Welt Schuhfabriken besitzt, hat meinem Onkel diese Geste nie vergessen und dieses bestimmte Leder immer bei ihm bestellt.

Zlín war ein amerikanisches Wunder mitten in Mähren. Im Warenhaus der Stadt, das ebenfalls Bat’a gehörte, konnte man von der Wiege bis zum Sarg alles bestellen. In der Haupthalle hing das Flugzeug, mit dem Tomás Bat’a abgestürzt ist. Die Lehrlinge bei Bat’a wurden in Massen aus den Dörfern des Balkans geholt – man kaufte sie ihren Eltern sozusagen ab – und in riesigen Schlafsälen untergebracht. In der Früh mussten sie sehr zeitig raus und zwecks moralischer Aufrüstung in Reih und Glied singend durch die Straßen Zlíns ziehen, Gott preisend und Bat’a als seinen Propheten. Auch die Mauern der Stadt waren mit Bat’afrommen Sprüchen verziert. Wahrscheinlich gab es in Zlín keine einzige Wand, an der man ein anders lautendes oder gar kritisches Plakat hätte anbringen können.

Als ich mir im Sommer 1933 diese sonderbare Stadt etwas genauer anschauen wollte – natürlich war das Hotel, in dem ich wohnte, ein Bat’a-Hotel –, wurde ich höflich, aber energisch veranlasst, Zlín binnen 48 Stunden zu verlassen, weil ich unfreundliche Artikel über den Bat’a-Konzern geschrieben und darin die raffinierten Ausbeutungsmethoden geschildert hatte, die an den Lehrlingen praktiziert wurden. In der tschechoslowakischen Demokratie besaß der Schuhkönig Bat’a sein eigenes Königreich.


Blick auf eine versunkene Welt: Bruno Kreisky mit Onkel Rudolf Kreisky, dessen Kindern Artur und Anka und dem Leiter des böhmischen Konsumvereins auf einer Wanderung im Böhmerwald.

Mein Onkel, seine Brüder und Freunde waren leidenschaftliche Jäger, und aus uns wollte man das gleiche machen. Wir wurden also früh auf die Jagd mitgenommen. Die Ausfahrt mit kleinen Jagdwägelchen in guter Ordnung war für mich das Schönste, das Jagen selbst das am wenigsten Spannende und die Heimfahrt das Ekelhafteste. Die nassen Jagdhunde haben fürchterlich gestunken. Die kleineren Beutestücke, zum Beispiel Rebhühner, bekamen lederne Bänder um die Brust gelegt, und auf diese Weise mussten wir sie nach Hause tragen. Die langsam auskühlenden kleinen Vogelkörper, die glasigen Augen, das lässt sich in seiner ganzen Widerlichkeit gar nicht beschreiben. Noch heute habe ich eine Abneigung gegen die Jagd und esse sehr ungern Wild.

Wenn sich die Neffen und Nichten im Haus der Vorfahren in Trebitsch einfanden, klagte der Bruder meiner Mutter, Berthold, der vom Großvater das Trebitscher Unternehmen übernommen hatte, als erstes über die schlechten Zeiten. Aber jedesmal konstatierten wir Veränderungen, die auf wachsenden Wohlstand schließen ließen. Damit wir uns das Umsteigen nach Trebitsch ersparten, ließ er uns mit der Kutsche auf der Bahnstation Okrischko abholen. Aber eines Tages kam er selber mit einem Automobil vorgefahren. Aus den Ställen wurden Garagen, und jedesmal stand dort, trotz des Jammerns über die schlechten Zeiten, ein neues Automobil. Beim Abschiednehmen bekamen wir von ihm immer ein fürstliches Zehrgeld mit auf den Weg, und immer sagte er dann dasselbe: »Brav sein und sparsam!« Und wenn wir, die Neffen und Nichten, uns später begegneten, haben wir uns gleichfalls mit diesen Worten verabschiedet: »Brav sein und sparsam!« Berthold Felix ist eines sogenannten natürlichen Todes gestorben, das heißt, er hat sich bei der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei so aufgeregt, dass er einem Herzschlag erlag – ein gnädiges Schicksal, angesichts des Endes seiner Frau, seiner drei Kinder und Enkelkinder im Gas.

Ein weiterer Bruder meiner Mutter, Julius, war der große Kavalier der Familie. Er lebte in Mödling bei Wien das Leben eines österreichischen Grandseigneurs und ging immer mit einem dicken gelben Bambusstock spazieren. Ursprünglich war er ein hoher Richter – Bezirksrichter in Schärding und später Hofrat und Vizepräsident des Handelsgerichts –, hat sich dann aber als Advokat etabliert, und zwar ausschließlich zu dem Zweck, das Vermögen seiner Verwandten zu verwalten. Er war, weil er anders nicht Richter hätte werden können, aber wohl auch aus innerer Überzeugung, Katholik geworden. Nach dem »Anschluss« blieb er relativ lange unbeachtet, bis ihn eines Tages doch das Schicksal ereilte und er eine Vorladung der Gestapo erhielt. Er wusste, was ihm bevorstand, hat seinen besten Wein aus dem Keller geholt, ein paar Freunde eingeladen, und am nächsten Tag fand ihn die Wirtschafterin tot im Bett. Die Kirche gewährte Selbstmördern damals kein kirchliches Begräbnis, aber im Hinblick auf das Ansehen, das er genossen hatte, machte der Erzbischof von Wien, Kardinal Innitzer, eine Ausnahme.

Mich hat dieser Onkel zeitlebens freundlich, aber sehr distanziert behandelt, denn er hielt mich für ein auf Irrwege geratenes Familienmitglied. Er mochte »die Roten« nun einmal nicht, die Sozialisten waren ihm, wie übrigens allen Mitgliedern der Familie Felix, höchst suspekt. Ich bezweifle, dass er sie ernsthaft gehasst hat, denn seiner ganzen Lebensart nach war der Hass ein zu mühsames Gefühl für ihm. Mit mir fand er sich offenbar ab, weil er der Auffassung war, dass man sich bei einer so alten und großen Familie nicht wundem dürfe, wenn es hin und wieder skurrile Erscheinungen gäbe. Dennoch ist das Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern durch politische Zwistigkeiten niemals gestört worden. Es war eine Gemeinschaft von großer Harmonie und von einer Wärme, die ich noch heute nachempfinde.

Der jüngste Bruder meiner Mutter war Friedrich Felix, der Besitzer der Konservenfabrik meines Großvaters in Znaim. Auf den Ansichten von Znaim aus dem 19. Jahrhundert ist in der Mitte ein großer rauchender Schornstein zu sehen. Dieser Schornstein war der Stolz meines Großvaters, weil er das Zeichen dafür war, dass dort eine der frühen Dampfmaschinen betrieben wurde. Dieses Unternehmen, das von meinem Großvater vor mehr als einem Jahrhundert begründet worden war, ist heute in tschechischem Volkseigentum – eine Umschreibung für Konfiskation. Vom einstigen Glanz ist nichts geblieben.

Damals, zu meiner Zeit, waren die Konservenfabriken das Kernstück des Familien-Konzerns; ihre Erzeugnisse, vor allem die Znaimer Gurken, wurden nach vielen europäischen Ländern exportiert, unter anderem nach Schweden. Friedrichs Sohn, mein Cousin Herbert Felix, dem der Verkauf nach Schweden oblag und der mit einer Schwedin verheiratet war, ging sehr früh nach Schweden und hat nach dem Krieg zusammen mit seinem Schwiegervater unter dem Namen Felix eine der größten Konservenfabriken des Kontinents aufgebaut.

Herbert Felix war mir von allen Verwandten der liebste. Wir waren einander nahe wie zwei Brüder und haben uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit getroffen. Das letztemal 1973, wenige Tage vor seinem Tode, beim Skifahren in Lech. Ein prächtiger und sehr fähiger Mann. 1958 trafen wir uns in Bad Wildungen zu einem ernsten Gespräch. Er stellte mir zum letzten Mal die Frage, ob ich bereit sei – ich war damals Staatssekretär –, in seinen Betrieb als Partner einzutreten. Es schmerzte ihn ganz offensichtlich, als ich mich definitiv für die Politik entschied. Ob dann nicht wenigstens Peter, mein Sohn, dafür zu interessieren sei, fragte er. Als auch daraus nichts wurde, eröffnete er mir, dass er das Unternehmen dann nicht weiterführen und dem Wunsch seiner schwedischen Freunde folgen werde, ihnen seinen Anteil zu verkaufen. Allmählich zog er sich vollkommen aus der Firma zurück und übernahm einen sogenannten One-dollar-a-year-Job bei der FAO (Food and Agriculture Organization); ab 1965 kümmerte er sich innerhalb der UNO um die industrielle Verwertung von Agrarprodukten. Als er 1973 starb, hinterließ er ein beträchtliches Vermögen.

Ich kann sagen, dass meine beiden Familien den Nazismus in seiner grauenhaftesten und umfassendsten Form erfahren haben und dass nur wenige von uns übrig geblieben sind. Über die Welt verstreut, trifft man hier und da den einen oder anderen. Jedesmal, wenn jemand herumzudividieren beginnt, ob das vier oder sechs Millionen gewesen seien, die dem Holocaust zum Opfer fielen, kann ich trotz eines gewissen Verständnisses für die Schwächen der Menschen nur sagen: Von den mir Nahestehenden wurden so viele umgebracht, dass Zahlen mich nicht mehr interessieren.

Die Brüder meiner Mutter sind allesamt zugrunde gegangen; auch einige Schwestern meiner Mutter und viele Cousins, die mir sehr lieb waren und sehr nahegestanden sind. Eine Cousine, Elfi Felix, kam als einzige aus der Hölle zurück, war aber wahnsinnig geworden. Vor ihren Augen hatte man ihre Tochter umgebracht. Sie überlebte den Krieg nur um wenige Wochen.

In einer Liste, die dem polnischen Botschafter in Wien, Karski, vom damaligen Direktor von Auschwitz übermittelt wurde, findet sich eine ganze Reihe meiner Verwandten: eine große Zahl von Angehörigen der Familie Felix, darunter mein Vetter Dr. Wilhelm Felix, ein strenggläubiger Katholik, der aufgrund der Gebote seines Glaubens die Eltern nicht im Stich lassen wollte, als diese nach Theresienstadt deportiert wurden. Er selber war Halbjude und stand den katholischen Neuländern nahe.

Auf jener Liste steht auch meine Tante Grete Felix, die verheiratet war mit dem Bruder meiner Mutter, der den Trebitscher Betrieb vom Großvater übernommen hatte, eine Frau von unendlicher Güte und außergewöhnlicher Schönheit. Auf der Liste stehen noch weitere Vettern von mir, alle aus der Familie Felix, auch Ernst Felix mit allen seinen Kindern. Dann kommen die Fischers, Berta Fischer, die Schwester meiner Mutter, mit ihren Kindern, und dann die Kreiskys, Otto Kreisky, Friederike Kreisky, Karl Kreisky, auch viele Kreiskys, von denen ich bis dahin nichts wusste. Aus der kleinen mährischen Stadt Trebitsch meldet der Bericht 650 Deportierte. Ich hatte einmal grob geschätzt, dass von unserer Familie aus Trebitsch über zwanzig der nächsten Angehörigen von den Nazis ermordet worden sind; als ich jedoch die Namen durchging, stellte sich heraus, dass es viel mehr waren. Aber ich habe nicht mehr die Kraft, diese Statistik des Grauens zu vervollständigen.


„So viele wurden umgebracht, dass Zahlen mich nicht mehr interessieren“: Bruno Kreisky im NS-Vernichtungslager von Auschwitz.

Diese Auslöschung hat so viele Zeugen gefunden, es gibt eine große Anzahl mehr oder weniger bedeutender Bücher, mehr oder weniger eindrucksvoll nachempfundener Filme und Theaterstücke, und dennoch zweifle ich manchmal, ob das alles ausreicht, die Menschheit vor Ähnlichem zu bewahren. Ich glaube es nicht. Der Massenmord hat seither nicht aufgehört, und in den letzten Jahren hat er eine so unfassbare Steigerung erfahren, dass ich mich immer wieder aufs Neue frage, ob der Kampf dagegen nicht vergeblich ist. Man kann einfach nicht überall dagegen ankämpfen; wenn man einiges Gehör finden will, muss man sich auf weniges konzentrieren. So lasse ich es bei einer sehr nüchternen Feststellung bewenden: Nur dann kann man die Menschen zu Mitgefühl und Einsicht bringen, wenn man irgendeine Saite ihres eigenen Schicksals zum Schwingen bringt. Deshalb habe ich oft gesagt, was 1938 für die österreichischen Juden begonnen hat, ging bald weit darüber hinaus. Erst kamen Juden anderer europäischer Nationen an die Reihe, dann die »Arier«, die Norweger, die Holländer, und eigentlich blieb niemand verschont. Ganz am Schluss stand die schreckliche Bilanz: Millionen Tote, Hunderttausende Vermisste, über Europa hin und her ziehend die Heere der Vertriebenen.

Es war für mich eine wirkliche Genugtuung, als ich nach dem Krieg den größten Wunsch meiner Mutter erfüllen konnte: ihre noch lebenden Schwestern nach Wien einzuladen. So gab ich ihnen noch einmal die Möglichkeit, einige Zeit miteinander zu verbringen. Aus England kam die älteste noch lebende Schwester meiner Mutter, Rachelle. Sie war die Witwe eines Mannes, der mir in meiner Kindheit ungeheuer imponiert hatte. Er war »Oberoffizial bei der k. k. privilegierten österreichischen Nordwestbahn« gewesen, ein stattlicher Mann, und in seiner roten Pelerine hatte er auf mich als Kind einen gewaltigen Eindruck gemacht. Außerdem hatte er immer sehr spannend von einem Freund erzählen können, der in der englischen Geschichte eine große Rolle gespielt hat, der berühmte Slatin Pascha. Der Sohn meines Onkels Gustl Herschmann war einer der erfolgreichsten Wiener Advokaten und vertrat zahlreiche Schauspieler des Theaters in der Josefstadt. Er hatte ein besonderes Faible fürs Theater. Als ich ihn das letzte Mal sah – er war an die neunzig und hatte ein sonderbar feines Gesicht –, hat er mir ganze Passagen aus dem Repertoire von Josef Kainz vorgetragen.

Die zweite Schwester, Eugenie Mayer, kam aus Israel, wo sie gar nicht gern lebte. Ihr Sohn war eines der Vorbilder meiner Jugend gewesen, ein schlanker, hochgewachsener Führer der Jugendbewegung »Blau-Weiß«. Er hatte sich früh dem Zionismus angeschlossen und war nach Palästina gegangen. Bei Kriegsende war er Major der britischen Armee. In der israelischen Armee wurde er später General der Pioniere. Seine Schwester, die mit einem polnischen Textilfabrikanten verheiratet war, »ging ins Gas«.

Die dritte Schwester, die überlebt hatte, war Therese Kantor, die reichste von allen, bei der ich die Stelle eines Wahlsohnes eingenommen habe – doch darüber später. Die vierte schließlich war meine Mutter. Als ich die vier Frauen nach Wien einlud, fürchtete ich, dass das Beisammensein überschattet sein werde von dem Gefühl, sich zum letzten Mal zu sehen. Wenn sie auseinandergehen, werden sie vom Abschiedsschmerz überwältigt sein, dachte ich mir. Aber das war ganz falsch. Die alten Damen waren alle froh, dass das Zusammensein, das sie sich doch so sehnlich gewünscht und auch genossen hatten, zu Ende war; endlich konnten sie wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückkehren. Wie ich überhaupt das Gefühl habe, dass Frauen mit zunehmendem Alter immer weniger sentimental werden, während alten Männern bei jeder Gelegenheit die Tränen kommen.

Erinnerungen

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