Читать книгу Albtraum Grenzenlosigkeit - Burkhard Voß - Страница 10
1. Nur das Universum ist grenzenlos – oder?
ОглавлениеSchöpfungsmythen und moderne Naturwissenschaften sind in ihren Kernaussagen ähnlicher als man zunächst vermuten möchte. Zum Beispiel der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: dieser wurde in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts formuliert und besagt im Wesentlichen, jenseits von physikalischen Formeln und mathematischen Gleichungen, dass ein System ohne Zufuhr von äußerer Energie immer zum Zustand der maximalen Unordnung strebt. Das kann man in der Lebenswirklichkeit auf Schritt und Tritt beobachten. Wird ein Haus oder eine Villa nicht regelmäßig gesäubert und renoviert, werden nicht Unwetterschäden ausgebessert, so kommt es über Jahre und Jahrzehnte zu Verstaubungen, Verschmutzungen, und am Ende stehen Verrottung und Verfall. Im Zeitraffer illustriert dies die gleichnamige Verfilmung von H. G. Wells Roman „Die Zeitmaschine“. Die Reise durch die vierte Dimension Zeit beginnt in einer Londoner Villa Silvester 1899. Jahrzehnte später beherrschen Zentimeter dicke Staubschichten und Spinnweben das Bild und das Gebäude wird durch ein Abbruchunternehmen dem Erdboden gleichgemacht. Jahrtausende später ist auch die zellulosehaltige Grundstruktur von übrig gebliebenen Büchern völlig aus der Form geraten, ein kleiner Händedruck reicht aus und ein Buch zerbröselt in Millionen kleine Partikel. Eben das christliche Vergänglichkeitsmantra von Asche zu Asche, Staub zu Staub. Genauso prognostiziert es auch die moderne Physik. Diese überall zu beobachtende wachsende Unordnung, wenn die Dinge sich selbst überlassen werden, heißt im Fachjargon Entropie. Letztlich ist sie es, die für Krankheit und Tod verantwortlich ist. Um diesen zunehmenden Grad an Unordnung abzubremsen ist immer Energie notwendig, die auf zellulärer Ebene in molekularen Reparaturprozessen transformiert wird. Das funktioniert eine gewisse Zeit, Unsterblichkeit ist nicht vorgesehen, sieht man einmal von bestimmten Einzellern und pathologischen Krebszellen ab.
Was das alles mit Schöpfungsmythen zu tun hat? Auch hier bedarf es Energie, um in einen ungeordneten, chaotischen Urzustand mit hoher Entropie eine gewisse Struktur hineinzubringen, den Verfall gewissermaßen umzukehren. Bei Naturvölkern sind es mythologisch überhöhte Tiere, die aus amorpher Erde oder Lehm die Erdkugel und weitere Himmelskörper erschaffen. In der griechischen Mythologie erzeugt die Erdgöttin Gaia Meer und Himmel, bei den alten Griechen Pontos und Uranos genannt. Aus der Verbindung Gaia und Uranos entstanden die zwölf Titanen, die Vorläufer der Götter. Im Alten Testament ist es Gott, der Himmel und Erde schuf. Er ist es auch, der Tohu (wüst) und Bohu (wirr) – daher das Wort Tohuwabohu – in geordnete Verhältnisse umwandelt. Ob mythisch überhöhte Tiere oder Götter, das Prinzip ist nicht nur die Schaffung von Neuem aus dem Nichts oder aus dem Chaos durch übernatürliche Energie, sondern die damit unmittelbar verbundene Grenzziehung. Denn nur so kann das eine von dem anderen überhaupt qualitativ unterschieden und erkannt werden.
Ursuppen sind unterschiedslos, erst die Grenzen ermöglichen Vielfalt. Und das von Anfang an.
Grenzen und Grenzenlosigkeit spielen auch eine wichtige Rolle in der aktuellen kosmologischen Forschung. Das Universum ist unendlich. Der Kosmos gilt als Synonym für Unendlichkeit. Oder ist das Universum vielleicht doch nicht unendlich? Hat es am Ende sogar Grenzen, wie letztlich alles, woraus der Kosmos besteht? Galaxien, Planetensysteme, einzelne Planeten, Sterne, die in der Frühphase der Entstehung als rote Riesen, in der Endphase als weiße Zwerge bezeichnet, Asteroiden, Sternschnuppen, Gesteinssplitter, einzelne Moleküle oder Atome – sie alle haben Grenzen, sind endlich. Wenn sie hinaus zum nächtlichen Sternenhimmel blicken, sind fast alle Menschen davon überzeugt, in die Unendlichkeit zu schauen. Wenn irgendetwas unendlich sein soll, dann das Universum. Dass es Unendlichkeit theoretisch gibt, beispielsweise in Form einer unendlichen Zahlenfolge, davon sind nicht nur Mathematiker überzeugt. Beim Universum war sich nicht nur Albert Einstein nicht so ganz sicher. Auch einige seiner heutigen Kollegen haben Zweifel. Viele Kosmologen sind von dessen Unendlichkeit überzeugt. Auf die Frage: „Woher wissen wir denn, dass das Universum unendlich ist?“ antwortete Prof. Dr. Achim Feldmeier vom Institut für Physik und Astronomie der Universität Potsdam: „Das wissen wir gar nicht. Es gibt sogar die Vermutung, dass es – da es um 13. Mrd. Jahre alt ist – möglich auch nur 13. Mrd. Lichtjahre groß ist … wir können nur so weit sehen, wie sich das Licht seit dem Urknall zu uns hat ausbreiten können. Und das sind eben die 13. Mrd. Lichtjahre.“ Also auch hier wieder eine Grenze, der sogenannte Ereignishorizont (event horizon). Wir können aus physikalischen Gründen prinzipiell nicht dahinterschauen.
Ursuppen sind unterschiedslos, erst die Grenzen ermöglichen Vielfalt.
Damit der Mensch metaphysisch eine klare Orientierung und ein festes Bezugssystem habe, ging schon Aristoteles (384-322 v. Chr.) von einem endlichen Universum aus. Doch wenn der Kosmos eine Mauer oder einen Rand hat, was ist dahinter? Hier eine Endlichkeit zu postulieren, ist dem gesunden Menschenverstand nur schwer bis gar nicht nachvollziehbar. Das haben jedoch viele Erkenntnisse der modernen Physik – wie die Einstein’sche Relativitätstheorie und die Quantenphysik – gemeinsam. Trotzdem stimmen sie. Zum Beispiel Zeit und Lichtgeschwindigkeit: Dass die Zeit bei Erreichen der Lichtgeschwindigkeit (ca. 300.000 km/s) stehenbleiben soll, ist für uns Menschen nicht vorstellbar. Das liegt wahrscheinlich daran, dass solche Geschwindigkeiten jenseits unseres Erfahrungshorizonts liegen. Unabhängig vom gesunden Menschenverstand ist diese Aussage der Relativitätstheorie jedoch experimentell exakt nachgewiesen. Schwer vorstellbar auch, dass es eine Minustemperatur geben soll, die prinzipiell nicht weiter unterschritten werden kann. Dies ist jedoch ein Faktum, wird absoluter Nullpunkt genannt und liegt bei -273,15 0C. Vorstellbar wird es, wenn man Temperatur immer im Kontext von Reibung und insbesondere von Bewegung sieht, je höher die Bewegung von Teilchen, umso höher die Temperatur und umgekehrt. Noch stiller stehen als bei völligem Stillstand geht einfach nicht. Der völlige Stillstand liegt temperaturmäßig eben bei -273,15 0C. Ein nachvollziehbarer Gedanke. Deutlich mehr Gehirnakrobatik erfordert jedoch der Gedanke, dass das Universum eine Grenze hat, nach der sich per definitionem nur noch das Nichts befinden kann. Nach der Zahlen- und Formelakrobatik für viele Astrophysiker in sich logisch und plausibel. Andere Astrophysiker und der gesunde Menschenverstand kommen zu gegenteiligen Ergebnissen.
Fazit: So wenig Zweifel am Ursprung des Universums durch den Urknall bestehen, so wenig beantwortbar ist derzeit die Frage nach den Grenzen des Universums. Viele Elemente des Universums wie Planeten, Monde und Galaxien, bewegen sich in geordneten Bahnen. Grenzen und geordnete Bahnen haben mehr Verbindendes als Trennendes. Beide bilden etwas Konstantes, Feststehendes, eine gewissermaßen eherne Struktur in einem Raum, trennen innen von außen. Dass Planeten in gesetzmäßigen Abständen und Geschwindigkeiten um die Sonne kreisen, beschrieb als erster der deutsche Astronom Johannes Kepler (1571-1630). In akribischer Kleinarbeit wertete er die Messungen der Marspositionen aus und machte die bedeutsame Entdeckung, dass die vorher vermutete Kreisbahn falsch war. Der Mars beschrieb mit seiner Bahn um die Sonne eine Ellipse. Ebenso wie alle anderen Planeten auch. Das erste Keplersche Gesetz. Die elliptische Bahn beschreibt eine imaginäre Grenzkurve, die ein Innen zur Sonne hin von einem Außen zum Kosmos trennt.
Auf einem Planeten unseres Sonnensystems entstanden vor ca. 3,85 Mrd. Jahren nicht nur imaginäre Grenzen, sondern ganz konkrete.