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4. Grenzen in der Erziehung

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Zum Wesen von Kindern gehört es, Grenzen erproben zu müssen. Im Zuge von Laissez-faire und dem Sog des antiautoritären Milieus der 68er war dies in Vergessenheit geraten. Die Nachwirkungen lassen sich bis heute beobachten. Kinder merken schnell, dass sie im Mittelpunkt stehen und wollen dort bleiben. Das kollidiert natürlich mit den Vorstellungen der Eltern. Viele von diesen versuchen es dann mit Diskussionen und wollen dem 6-jährigen Justin argumentativ aufzeigen, dass er dringend Schlaf benötige, um am nächsten Tag fit für den Unterricht in der Grundschule zu sein. Sie meinen es gut und sind sogar überzeugt, richtig zu handeln. Doch irgendwie klappt es nicht. Je mehr sie Justin vom Tag-Nacht-Rhythmus, Chronobiologie und Schlaf-wach-Physiologie erklären, umso uneinsichtiger wird er und möchte weiter unbedingt aufbleiben. Wenn Post-68er-Eltern Wochen und Monate nerven- und energieverzehrende Diskussionen mit ihren Sprösslingen führen, führt das schnurstracks zum Eltern-Burn-out. Warum es dennoch praktiziert wird? Weil das Einfachste übersehen wird. Ist wohl ein Signum der postmodernen Zeit, in der Selbstverständliches hinterfragt wird und es normal ist, dass nichts mehr normal ist. Schöne neue grenzenlose Welt, die nicht begreifen will, dass man mit 6-Jährigen schlicht nicht diskutieren kann. Ausflüge in die Neurobiologie mit akademischen Exkursen über Neuroplastizität, präfrontalem Kortex und limbischem System kann man sich schenken. Das ist einfach so! Zum Diskutieren gehören Zuhören, Hinterfragen, Abwägen von Argumenten, Perspektivenwechsel etc. Mit diesem Zauberkreis der argumentativen Vernunft sind Kinder überfordert. Um ihrer selbst willen brauchen sie klare Regeln und Grenzen. Gegen Grenzüberschreitungen helfen dann nur Konsequenzen. Nur so lernen Kinder die nötige Disziplin, um später im Leben klarzukommen und nicht jeder Bedürfnisbefriedigung ohne langfristige Strategie hinterherzuhecheln. Sicherlich kommen Kinder zunächst als bedürfnisgesteuerte, hilflose Wesen zur Welt, doch auch da gibt es Unterschiede. Im Vorschulalter sind Kinder in unterschiedlichem Ausmaß zu eigener Grenzziehung durchaus in der Lage. Der Psychologe Walter Michel hat das in einer jahrzehntelangen Studie nachgewiesen. Die Versuchsanordnung war denkbar einfach. Man stellte vier- bis sechsjährige Kinder vor die Wahl. Sie konnten ein Konfekt, einen Marshmallow (daher der Name Marshmallow-Test), sofort genießen, oder sie bekamen eine größere Belohnung, beispielsweise zwei Marshmallows, auf die sie aber warten mussten. Die Wartezeit, die bei max. 20 Minuten lag, war den Kindern nicht bekannt. Zwischen 1968 und 1974 nahmen über 550 Kinder an diesem Experiment teil. Die Nachbeobachtung reichte bis in das Jahr 2014. Wie würde sich das Leben der Kinder entwickeln, die eine zeitliche Umgrenzung der Bedürfnisbefriedigung gezeigt und auf die Belohnung gewartet hatten, verglichen mit den Kindern, die den Marshmallow sofort aßen? Die Kinder mit der inneren Grenzziehung zeigten im Erwachsenenalter eine deutlich bessere Lebensbewältigung, waren selbstbewusster, zielorientierter, rationaler und ließen sich auch bei erhöhten Anforderungen nicht leicht aus dem Konzept bringen. Im Gegensatz dazu war der Anteil der Lebensversager in der Gruppe der disziplinlosen Kinder deutlich höher.

Die Kinder mit der inneren Grenzziehung zeigten im Erwachsenenalter eine deutlich bessere Lebensbewältigung.

Mentale Grenzziehungen sind somit nicht die schlechteste Wahl. Was im günstigsten Fall herauskommt, wenn systematisch das Gegenteil gewählt wird, lebt uns die „Generation Doof“ vor, so genannt nach dem gleichnamigen Buch aus dem Jahre 2008. Gemeint sind die antiautoritär erzogenen Kinder der linksübersteuerten 68er, die in der Erziehung für jede Regel mindestens acht Ausnahmen zuließen und somit den Weg freimachten für Regel-, Grenz- und Disziplinlosigkeit. Sie meinten es gut, doch wie nahezu immer kam das Schlechteste dabei heraus, eine Generation der Unentschlossenen, die hier, jetzt und sofort alles haben möchte, aber keine Entscheidung treffen und schon gar nicht die damit verbundenen Konsequenzen will. Allein das Wort Konsequenz, wenn es den Weg von der Ohrmuschel in die höheren neuronalen Sphären geschafft hat, bereitet physische Übelkeit. Als Mittel gegen Übelkeit und vorerst letzten psychologischen Trick dienen Prokrastinationsambulanzen. Das Wort Ambulanz ist klar, Prokrastination kommt aus dem Griechischen und bedeutet Aufschiebeverhalten. Die erste Ambulanz für psychologische Hochartistik der neuen Art wurde an der Uni Münster eingerichtet. Von grandiosen Erfolgen wurde noch nicht berichtet. Stattdessen beschleicht immer mehr Abiturienten das Gefühl, ihre Hochschulreife nur bekommen zu haben, damit Burn-out-Lehrer endlich ihre Ruhe haben. Die tatsächlich qualifizierten Schul- und insbesondere Hochschulabsolventen wandern aus nach Kanada, USA, Australien oder Neuseeland. Das nennt man die Abstimmung mit den Füßen. Und da soll es ein noch schlechteres Szenario geben? Gibt es. Das Ungünstigste ist nachzulesen in dem Roman „Herr der Fliegen“ von William Golding. Eine Grenzenlosigkeit der anderen Art mit anderen Konsequenzen. Der Titel ist die Übersetzung des hebräischen Wortes Beelzebub. Dieser ominöse Herr ist der erste Dämon des Neuen Testaments, das anthropologische Böse schlechthin, welches auf die schrankenlose Vernichtung aus ist. Das Werk erschien 1954, wurde zweimal verfilmt und erzählt die Geschichte einer Gruppe Jugendlicher zwischen 6 und 12 Jahren, die nach einem Flugzeugabsturz auf einer tropischen Insel landen. Ab sofort sind sie ohne Erwachsene, ohne Zivilisation, ohne Autorität, ohne Regeln. Auf sich alleine gestellt setzen die Halbwüchsigen eigene Regeln fest, die aber nur kurze Zeit eingehalten werden. Nach deren Zerfall setzen sich mehr und mehr irrationale Ängste und archaische Verhaltensmuster durch. Zwei Gruppen bilden sich, zwischen denen es zu einem Machtkampf kommt. Der Häuptling einer Gruppe lebt seine Jagdleidenschaft hemmungslos aus, tötet ein säugendes Schwein mit Jungen und der Zivilisationsprozess läuft rückwärts ab. Am Ende dominieren Mord und Totschlag. Diese Grenzüberschreitungen des Animalischen werden erst durch das zufällige Eintreffen eines Marineoffiziers beendet. Erst durch seine Autorität wird eine Renaissance der Zivilisation möglich gemacht. Ohne klare Regeln und Grenzen ist diese nicht möglich. Noch genauer formuliert: Die innere Entwicklung von Grenzen ist ohne äußere nicht möglich.

Die innere Entwicklung von Grenzen ist ohne äußere nicht möglich.

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