Читать книгу Albtraum Grenzenlosigkeit - Burkhard Voß - Страница 12
3. Vom Baby zum Erwachsenen – Abgrenzung macht’s möglich
ОглавлениеWie sagte einmal ein genervter Neurowissenschaftler zu einer Mutter, die sich auf der Jagd nach der besten Erziehungsmethode befand: „Ziehen Sie Ihr Kind nicht in einem Schrank auf, lassen Sie es nicht verhungern und schlagen Sie ihm nicht mit der Bratpfanne auf den Kopf.“ In der Tat spielt die Befriedigung der Grundbedürfnisse die entscheidende Rolle in den ersten drei Lebensjahren. Im Mittelpunkt stehen Nahrungsaufnahme, Zuwendung und Fürsorge von Mutter und Vater. Neben Motorik, Wahrnehmung und der Differenzierung von Gesichtern entsteht das Urvertrauen, die Basis aller tieferen inneren Beziehungen zu den Menschen, die einem im Laufe der Zukunft noch begegnen können. Symbiose ist das Stichwort der ersten Lebensphase bis zum Alter von drei Jahren.
War die Nahrungsaufnahme in dieser oralen Phase, neben der Schaffung des Urvertrauens, ein wesentlicher Bestandteil, so werden in der folgenden analen Phase Nahrungsausscheidungen in Verbindung mit Lust- und Kontrollempfinden, Geben und Nehmen, zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die Symbiose bröckelt, erste triebgesteuerte Abgrenzungen kommen auf. Ab dem 4. Lebensjahr beginnt die ödipale Phase, nach der griechischen Sagengestalt Ödipus, der unwissend seine eigene Mutter heiratete und seinen Vater tötete. Dies beschreibt in überspitzter Form die Psychodynamik, bei der das Kind nicht nur seine Genitalien entdeckt, sondern auch um den gegengeschlechtlichen Elternteil wirbt. Der andere wird als Rivale empfunden. Es dominieren Bindungen und Grenzziehungen. Auch Nicht-Analytiker haben an dieser Deutung wenig Zweifel. Wenn jedoch Mädchen entdecken, dass ihnen der Penis fehlt und darauf angeblich mit einem Penisneid reagieren, so handelt es sich bei dieser Deutung um psychohistorische Kuriositäten, die heute nur noch von gerontokratischen Analytikern geglaubt werden.
Zwischen dem 7. und dem 12. Lebensjahr tritt die sexuelle Dynamik zurück, verschwindet aber nicht komplett, sondern bleibt latent vorhanden, daher der Name Latenzzeit für diese Entwicklungsphase. In körperlicher Hinsicht kommt es zu einem vermehrten Längenwachstum, im psychischen Bereich zur Ausbildung von kognitiven Funktionen, beispielsweise zur Erkennung und Wahrnehmung von Raum und Zeit. Erkennung, Unterscheidung und Grenzziehung zwischen real und irreal werden zumindest teilweise möglich.
In der anschließenden Pubertät kommt es nicht nur zu hormonellen Umstellungen, erneuter Aktivierung der sexuellen Dynamik und Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale, sondern auch zur Entwicklung des abstrakten Denkvermögens, der Loslösung vom rein sinnlich Erfahrbaren und Konkreten. Wörtlich übersetzt heißt Abstraktion Abziehung. Dazu gehört auch die Abziehung bzw. Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen. Nicht alles lässt sich einebnen und hat die gleiche Bedeutung, auch wenn das in der Toleranzkultur oft gepriesen wird.
Die Entstehung von Individuen ist nur durch Abgrenzung zu anderen möglich.
Bei aller berechtigten Kritik an der Psychoanalyse ist diese skizzierte Freud’sche Entwicklungstheorie im Wesentlichen heute noch gültig. Alternative Theorien weisen lediglich Akzentverschiebungen auf. Das Entscheidende bei allen Theorien ist die Entwicklung von Identität als Kernaufgabe. Diese Selbstwerdung kann nur durch Abgrenzung zu anderen entstehen.
In der Persönlichkeitsentwicklung von der Geburt bis zum Erwachsensein findet sicherlich eine Hinwendung zur Gesellschaft, zum Kollektiv, zum Anderen statt. Dies ist verbunden mit dem partiellen Herausfallen aus der Primärfamilie, dem Knüpfen neuer Kontakte und Bindungen – jedoch nicht bis zum uferlosen Eintauchen in die Masse. Individuation sticht Assimilation. Persönlichkeit steht für das Eigenständige und Unverwechselbare. Nicht nur der Fingerabdruck ist einmalig. Die Entstehung von Individuen ist nur durch Abgrenzung möglich. Niemand will beliebig austauschbar sein. Wenn nicht wenige Psychotherapeuten meinen, dass es heutzutage um die Überwindung von „Identitätszwängen“ und die Eröffnung der Möglichkeit gehe, ergebnisoffene und stetig wandelbare Identitätskonstruktionen zu schaffen, haben sie die Essenz der Identität nicht begriffen.