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Notfall

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ucas starrte den Hörer in seiner Hand mit einem Gesichtsausdruck an, als ob er erwarten würde, dass dieser sich jeden Moment in eine Kobra verwandelte.

»Hey, was ist los? Hat’s dir die Sprache verschlagen?«, rief der Mann am anderen Ende der Leitung ungeduldig.

»Plague spricht nicht mehr. Ich hab ihn gekillt«, sagte Lucas mit tonloser Stimme. Dann wurde ihm bewusst, was er da gerade gesagt hatte und er schlug sich erschrocken die freie Hand vor den Mund. Die andere hielt immer noch das Handy an sein Ohr.

»Wie? Was is los? Wer ist da!?«, sagte der Mann immer noch laut, aber nun etwas überrascht.

Auf Lucas‘ Gesicht breitete sich ein kaltes Grinsen aus.

Bist du bekloppt? Leg auf!, schrie die Stimme in seinem Hinterkopf, aber er hörte nicht auf sie. Von einer morbiden Neugier auf die Reaktion seines Gegenübers gepackt öffnete er den Mund. Er brannte darauf, dem Unbekannten von den letzten Sekunden in Plagues Leben zu berichten – dem Mann, der seinen Mentor auf den Stufen der Berliner Siegessäule getötet hatte.

»Was glaubst du eigentlich, was du hier machst? Das ist hier ne Intensivstation! Hier sind Handys verboten!«, herrschte ihn plötzlich eine Stimme an.

Lucas fuhr erschrocken hoch und blickte in das verärgerte Gesicht eines Pflegers, der sich vor ihm aufgebaut hatte.

»Oh ... äh, Tschuldigung. Das wusste ich nicht«, murmelte er.

Der Pfleger zeigte nur stumm nach rechts, wo auf einem Schild die Worte zu lesen waren: »Achtung Intensivstation. Benutzung von Mobiltelefonen verboten.«

»Wennde det nich lassen kannst, dann sieh zu, dassde Land jewinnst«, ergänzte er und zeigte in Richtung der Lifttüren am anderen Ende des Flurs.

Lucas setzte sich in Bewegung. Dabei hob er die Hand mit dem Telefon, die er eben hatte sinken lassen, wieder ans Ohr.

»Wer zum Teufel bist du und wo hast du das gottverdammte Handy her?«, grollte die Stimme des Mannes erneut daraus hervor.

»Ich bin …«, begann Lucas, brach dann aber ab, weil in seinem Kopf so etwas wie eine Alarmglocke zu schrillen begonnen hatte. Doch etwas in ihm wollte sich nicht zum Schweigen bringen lassen. Etwas wollte davon berichten, wie jämmerlich dieser Typ auf der Flucht zugrunde gegangen war. Er hatte die friedliche Millenniumsfeier in ein Chaos verwandeln und dabei tausende unschuldiger Menschen zu Opfern bluttrinkender Vampire machen wollen. Aber schließlich endete er als Häufchen Asche.

»Ich bin jemand, der diesem Schwein das gegeben hat, was ihm zusteht«, sagte er mit fester Stimme, während er auf den Abwärts-Knopf des Aufzugs drückte.

… was?

»Okay jetzt hör‘ auf mit dem Quatsch und hol mir Plague ans Rohr«, grunzte der andere mit nur mühsam beherrschter Wut.

Ein Gong ertönte. Die Aufzugtüren öffneten sich. Entnervt trat Lucas in die Kabine und drückte den Knopf mit der ‘1‘. Er hoffte, dort weitertelefonieren zu können, weil sich in dieser Etage eine Cafeteria befand. Das Gespräch lief ganz und gar nicht nach seinem Geschmack, aber er hatte nicht vor, es dabei zu belassen. Die Türen schlossen sich. Der Lift begann, sich in Bewegung zu setzen.

»Zum letzten Mal«, blaffte Lucas den Unbekannten an. »Plague ist Toast! Wenn du willst, dann kannst du den Rest von ihm vom Boden in der Siegessäule abkratzen.«

… nein … nicht …

Aus dem Hörer war mit einem Mal ein seltsames Geräusch zu hören, aber Lucas war jetzt voll in Fahrt. Er schrie seine ganze Wut und Trauer darüber hinaus, dass Neumann nicht mehr lebte, stieß Beschimpfungen über Plague und seine Horde von Monstern aus.

… nicht weiter …

»Doch«, bellte Lucas. »Ich mach weiter! Ich …«

... bitte Lucas … nicht … noch … weiter …

Lucas verstummte. Er blickte auf das Display des Telefons, das ihm sagte, die Verbindung sei unterbrochen. Aber woher kam dann diese Stimme? Diese erschreckend vertraute Stimme.

»Ines?«, hauchte er.

… Lucas … ich geh … kaputt – ein schwaches Flüstern.

Seine Beine gaben nach, und Lucas rutschte an der Kabinenwand herunter in eine hockende Position. Was mochte es zu bedeuten haben, dass er sie hören konnte? Völlig verwirrt wanderte sein Blick vom nutzlosen Handy in seiner Hand in der Aufzugskabine umher, bis er an der sich ständig verändernden Stockwerksanzeige hängen blieb.

Ich halt nicht mehr lange – kaum noch wahrnehmbar.

In diesem Moment traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er sprang auf, stopfte das Handy in seine Tasche und hämmerte wie wild auf der Tastatur des Aufzugs herum. Es war alles so klar. Wie hatte er es nur übersehen können? Es musste immer noch ein kleiner Teil von Ines in ihm geblieben sein. Deshalb wachte sie nicht auf. Als sie vorhin hinter dem Krankenwagen hergefahren waren, hatten sie an einer roten Ampel halten müssen und den Wagen daher aus den Augen verloren. Nachdem sie kurz darauf im Krankenhaus eingetroffen waren, hatten Ines‘ Eltern erzählt, dass sie kurz vor der Ankunft des Krankenwagens in der Klinik plötzlich einen Kreislaufzusammenbruch gehabt hätte. Also konnte man den Teil von Ines, den Lucas noch in sich trug, nicht beliebig weit vom Rest entfernen. Es war wohl wie bei einem Gummiband, das riss, wenn es zu stark gespannt wurde. Aber wie weit war zu weit? Er war in der siebten Etage losgefahren und nun war er schon fast in der zweiten Etage angekommen.

… Lucas …

Er hämmerte an die Tür – wohl wissend, dass es niemanden gab, der in einem Aufzug dafür sorgte, dass sich auf ein Klopfen hin Türen öffneten. Und doch kam der Lift zu einem Halt. Die Türen glitten sanft auseinander. Lucas fiel mehr durch den sich öffnenden Spalt hindurch, als dass er lief. Unvermittelt stand er vor einer Krankenschwester, die ihn entgeistert anstarrte.

»Treppenhaus«, keuchte Lucas.

»Äh, wie?«, stammelte die Schwester.

»Treppenhaus! Wo?«, rief er ungeduldig.

»Ach, warum fahren Sie denn mit dem Lift, wenn Sie wissen, dass es Ihnen nicht bekommt?«

Lucas bemerkte, wie sich die Präsenz von Ines, die er kurz vorher noch gar nicht wahrgenommen hatte, zu flackern begann, wie eine Kerze in einem starken Luftzug. Tränen begannen, ihm in die Augen zu steigen.

»Treppenhaus, bitte«, sagte er flehentlich.

»Da vorn«, sagte sie und zeigte nach rechts.

Zum Glück nicht noch weiter weg von ihr. Lucas rannte los.

Bereits auf dem übernächsten Treppenabsatz verfluchte er seine Entscheidung, nicht einen anderen Aufzug gerufen zu haben, der nach oben fuhr. Seine Beine fühlten sich an, als ob sie jeden Moment platzen wollten. Das Herz hämmerte wie wild in seiner Brust. Aber Lucas beschloss, es zu ignorieren, weil Ines‘ Präsenz immer schwächer wurde. Er ignorierte auch das Stechen in seiner Seite, während er Stufe um Stufe erklomm. Dann erspähte Lucas die ersehnte Sieben über einer Tür. Er machte noch einen mächtigen Satz, drückte den großen Entriegelungsbügel dabei hinunter und prallte mit voller Wucht dagegen. Der Aufprall presste die Luft aus seinen Lungen. Lucas taumelte rückwärts und kam sehr unsanft auf seinem Hintern zu sitzen. Japsend starrte er die Tür an.

… bitte … ich … kann … nicht …

Ines‘ Stimme schwebte als gepresstes Flüstern durch seinen Kopf – verbunden mit einem übelkeiterregenden Schwindelgefühl. Lucas spürte in seinem – oder ihrem? – Innern eine lauernde Dunkelheit, die danach trachtete, ihrer beider Bewusstsein zu umfangen. Er wusste, dass diese Umarmung zumindest für Ines eine endgültige sein würde. Das brachte ihn dazu, sich aufzuraffen und die Tür erneut zu bestürmen. Sie wollte sich nicht öffnen, so sehr er auch drückte und stieß. In diesem Moment meldete sich noch eine weitere Stimme in seinem Hinterkopf. Vielleicht war sie auch schon die ganze Zeit über da gewesen, nur hatte er sie in seiner Panik nicht bemerkt:

Hör auf, du Idiot. Das ist ne Fluchttür! Wohin wird die sich wohl öffnen?!

Aufstöhnend drückte Lucas den Bügel hinunter und zog an der Tür, die sich widerspruchslos öffnete. Er stürzte in den Gang, der nun nicht mehr so still und scheinbar friedlich dalag, wie er es gewesen war, als Lucas ihn verlassen hatte. Am entfernten Ende pulsierte hinter der Glastür ein rotes Licht. Ohne genau hinsehen zu müssen, wusste Lucas, dass dieses Alarmzeichen über der Tür von Ines‘ Zimmer leuchtete. Vor der Glastür, die den Zugang zur Intensivstation versperrte, stand eine Menschentraube, in der sich auch die Eltern von Ines befanden. Sie alle wollten hindurch, wurden aber von dem stämmigen Pfleger daran gehindert, der beschwörend auf sie einredete: »Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Sie können Ihrer Tochter jetzt nicht helfen. Das Notfallteam tut alles menschen… Hey, was soll das?«

Lucas war in vollem Lauf in die Menge hineingestürmt. Dann hatte er sich blitzschnell fallen lassen, um auf dem glatten Boden unter den ausgebreiteten Armen des Pflegers hindurchgleiten zu können. Er rutschte noch ein Stück weiter, nutzte die nächstgelegene Wand, um sich abzustoßen. Wie ein menschlicher Querschläger schoss er in Ines‘ Zimmer, das in diesem Moment von mehreren Personen bevölkert war. Eine davon hatte ihren Blick starr auf einige Anzeigen eines Gerätes über dem Kopfende ihres Bettes gerichtet und verlas laut die angezeigten Werte. Die zweite Person – eine Krankenschwester – fummelte an einem Tablett mit Fläschchen herum, aus denen sie Flüssigkeiten auf Spritzen zog. Die Dritte schien ein Arzt zu sein. Sie war dabei, zwei etwa handtellergroße metallische Gegenstände, die durch Kabel mit einem auf einem Rollwagen befindlichen Gerät verbunden waren, hochzunehmen. Sie alle stoppten abrupt, als Lucas mit einem lauten »Nein!« zwischen sie fuhr. Bevor einer von ihnen auch nur »Was zum Teufel …« sagen konnte, war er näher an Ines‘ Bett herangetreten und sah sie an. Sie sah erschreckend klein aus, so wie sie dort lag. Ihr Körper war fast komplett unter der Bettdecke verborgen, mit der man sie vor Auskühlung schützen wollte. Nur ihr Kopf und ein Arm schauten darunter hervor.

Hautkontakt. Ich brauche Hautkontakt, überlegte er fieberhaft. Also schied der Arm aus, denn er befand sich auf der falschen Seite des Bettes. Aber Lucas hatte keine Zeit mehr für große Überlegungen, denn in diesem Moment hatten die Drei ihre Überraschung überwunden. Auch der Pfleger trat aus dem Gang mit finsterer Miene durch die Tür. Lucas wollte mit zwei schnellen Schritten die kurze Distanz bis zum Kopfende des Betts überwinden, blieb aber an einem herumliegenden Kabel hängen. Er stolperte, fiel und landete mit seinem Gesicht mitten auf dem von Ines, wobei seine Lippen nur knapp die ihren verfehlten. Seine Hände suchten Halt, fanden aber nichts, um sich abzustützen, und so knallte er hart gegen die Metalleinfassung des Betts.

»Hast du den Verstand verloren?«, herrschte der Arzt Lucas an, während dieser auf Ines zu liegen kam.

Aber Lucas hörte ihn nicht, denn er war vollauf damit beschäftigt, das allerletzte Stückchen von Ines zu finden und es dorthin zu führen, wo es hingehörte.

»He, hast du mich nicht gehört?«, schnauzte der Arzt erneut, da Lucas keine Reaktion zeigte.

»Der hat vorhin schon Ärger gemacht«, meldete sich der Pfleger zu Wort. »Hat einfach telefoniert. Direkt unter dem Verbotsschild.«

»Aha, hmmm«, machte der Arzt, ohne jedoch seinen Blick dem Pfleger zuzuwenden. Fasziniert starrte er das Pärchen an, das dort vor ihm auf dem Bett lag – sie fast unter der Decke verborgen, er halb vom Bett herunterhängend. Was wollte dieser junge Kerl denn bezwecken? Stürmte hier herein und stürzte sich auf die Kranke. Dachte er etwa, dass er sein Mädchen wie der Prinz Dornröschen durch einen Kuss von den Toten erwecken könnte? Er wollte gerade die Paddles des Defibrillators beiseitelegen, um dem Unsinn ein Ende zu machen, als etwas geschah, das ihn diese Paddles komplett vergessen ließ. Sie entglitten seinen Händen und fielen zu Boden.

Sämtliche Warntöne, die eben noch das bevorstehende Multi-Organversagen der Patientin angekündigt hatten, verstummten mit einem Mal.

Dann gab sie einen unartikulierten Laut von sich, der kurz darauf zu einem »Lucas, wie konntest du!« wurde.

Er versuchte mühevoll, sich in eine senkrechte Position hochzustemmen, sodass er nicht in der Lage war, sich abzuwenden.

Die linke Hand des Mädchens traf ihn und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Vom Schwung, mit dem sie ihn schlug, löste sich sogar das Pulsoximeter von ihrem Zeigefinger. Es flog durch die Luft, bis es vom daran befestigten Kabel gebremst wurde.

Aber anstatt überrascht oder gar verärgert zu reagieren, sah Lucas sie nur traurig an.

Er murmelte: »Ja, tut mir leid, aber du weißt ja warum.«

Dann drehte er sich wortlos um und schlurfte mit hängendem Kopf nach draußen auf den Gang. Nicht einmal der Pfleger hielt ihn auf, denn er war viel zu sehr damit beschäftigt, mit offenstehendem Mund auf das Mädchen zu starren. Sie hatte sich aufgesetzt und schickte dem Jungen wütende und zugleich verwirrte Blicke hinterher. Dann schien sie sich ihrer Umgebung bewusst zu werden und fuhr zusammen.

»Huch, was ist los? Wo bin ich?«

Als wären diese Fragen ein Startschuss gewesen, erwachten die vier Personen aus ihrer Starre.

»Mach dir keine Sorgen. Wir tun das Menschenmögliche, dass es dir bald wieder besser geht«, sagte der Arzt. Er war automatisch auf eine der Floskeln verfallen, die er in seinem Job schon zu so vielen Menschen gesagt hatte.

»Wieso besser? Mir geht’s gut«, antwortete sie. »Wann kann ich hier raus?«

»Na ja, ganz so schnell wird das nicht gehen«, gab er zurück. »Immerhin wärst du eben fast …«

Dann verlor sich seine Stimme, denn ihm wurde bewusst, was er eben – überrumpelt von der plötzlichen Verbesserung des Zustandes – zu einer Minderjährigen gesagt hätte.

Aber das Mädchen enthob ihn eines Erklärungsnotstandes, denn sie sprudelte plötzlich los: »Aber das war doch bloß, weil Lucas … Ich war doch noch in … ähm …« Ihr Blick verlor sich.

In diesem Moment bahnten sich zwei Personen ihren Weg durch die Menschenmenge, die sich zwischenzeitlich auf dem Gang vor dem Krankenzimmer gebildet hatte. Die beiden stellten sich als die Eltern des Mädchens heraus. Der Arzt war froh darüber, ihnen von der erstaunlichen Genesung seiner Patientin berichten zu können. Das war endlich wieder ein Metier, das er verstand. Er hielt es auch nicht für nötig, ihnen von der Episode mit dem Jungen zu erzählen. Das würde nur zu unnötigen Fragen führen, die er weder beantworten konnte, noch wollte.

Mit unbewegter Miene trottete Lucas den Flur des Krankenhauses entlang in Richtung Lift. Innerlich tobte ein Chaos aus widerstreitenden Gefühlen. Triumph, weil er herausgefunden hatte, woran es gelegen hatte, dass Ines nicht aufgewacht war. Erleichterung, darüber, dass es geklappt hatte, das letzte Stückchen von ihr aus sich herauszulösen. Horror über das, was hätte passieren können, wenn er es nicht mehr rechtzeitig geschafft hätte. Enttäuschung über Ines‘ Reaktion. Aber hatte er denn überhaupt eine andere Reaktion erwarten können? Mit Sicherheit nicht. Im Verlauf des Abends hatte Ines bestimmt mehrfach Angst oder sogar Panik ausstehen müssen, zum Teil auch durch ihn selbst verursacht. Trotzdem musste Lucas zugeben, dass er darauf gehofft hatte, dass sich alles wieder einrenken würde, wenn Ines erst mal vollständig in ihren eigenen Körper zurückgekehrt wäre.

So viel zum Thema Wunsch und Wirklichkeit, dachte er resigniert. Dann kam er am Lift an und drückte auf den Äbwärts-Knopf. Er wollte nun endlich in die Cafeteria. Zwar hatte sich das mit dem Telefonieren inzwischen erledigt – das Gespräch kam ihm schon völlig unwirklich vor. Aber er wollte sehen, ob er seine Eltern fand, weil er sich danach sehnte, endlich nach Hause zu kommen. Vielleicht würde er im Schlaf etwas Vergessen finden können. Der Gong ertönte. Die Türen glitten auseinander. Überrascht stellte Lucas fest, dass er sie bereits gefunden hatte, denn sie standen in der Kabine.

»Luky, was …«, begann Betty, aber er trat nur zu ihnen in die Kabine und drückte wortlos auf den Knopf für das Erdgeschoss.

»Heißt das, Ines ist …?«

»Aufgewacht. Lasst uns fahren«, brummte Lucas.

»Ähm, Moment mal«, sagte Paul verwirrt. »Wie ist das denn passiert?«

Lucas blickte seinen Vater müde an.

»Ich kann jetzt nicht. Ich will auch nicht«, murmelte er. »Bitte. Ich will nur noch nach Hause.«

»Oh, ich dachte, du wolltest …«, setzte Paul an, aber Betty legte ihm die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf.

»Lass gut sein Paul. Wir sollten wirklich besser fahren. Guck dir Lucas doch an. Der ist völlig fertig. Wer sollte es ihm auch verdenken. Er hat heute immerhin eine ganze Menge Menschenleben gerettet.«


Damit schloss sie Lucas in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich. In diesem Moment war es ihm, als ob ein Damm tief in ihm bräche und er sackte schluchzend zusammen. Von der Fahrt nach Hause bekam Lucas fast nichts mit. Er dämmerte auf dem Rücksitz des Autos vor sich hin. Als sie schließlich angekommen waren, stieg er ohne noch etwas von sich zu geben die Treppe hinauf, ließ sich auf sein Bett fallen und hieß dankbar die Schwärze des Schlafs willkommen.

»Mann Mäuschen, da hast du uns aber nen ordentlichen Schrecken eingejagt«, sagte Tom, Ines‘ Vater.

»Ähm«, machte Ines.

»Was ist denn bloß passiert?«, fiel ihr Diana ins Wort.

»Also …«, begann sie erneut.

»Nun lass sie doch mal ausreden«, sprudelte Tom gleichzeitig hervor.

Ines sah ihre Eltern an. Dann brachen alle drei in erleichtertes Gelächter aus.

»Okay, jetzt nochmal von vorn«, sagte Tom, nachdem sich alle lachend umarmt hatten. »Was ist denn bloß los gewesen und warum hast du uns nicht Bescheid gesagt?«

»Ja, also«, begann Ines, die froh darüber war, dass sie durch das Gruppenkuscheln noch ein wenig mehr Zeit gehabt hatte, ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen. Seit sie von Lucas aus dem dunklen Loch geholt worden war, in dem er sie eingekerkert hatte, war sie krampfhaft darum bemüht gewesen, mit dem klarzukommen, was sie in den letzten Stunden gesehen hatte. Aber viel mehr noch beschäftigte sie das, was sie nicht mehr sehen konnte. Dieses Nichts, in dem Lucas sie abgeladen hatte, war fast nicht zu ertragen gewesen. Kein Wort, kein Geräusch wahrzunehmen und noch dazu blind zu sein, hatte ihre Nerven fast zum Zerreißen gebracht. Viel schlimmer noch war jedoch das Gefühl gewesen, plötzlich zu fallen und immer weniger zu werden. Zum Glück hatte Lucas sie noch rechtzeitig bemerkt und aufgefangen. Irgendwie hatte er sie gerettet. Dafür musste sie ihm wohl dankbar sein, aber trotzdem würde sie es nicht vergessen, dass er sie so einfach mir nichts, dir nichts weggesperrt hatte.

»Ja, Maus?«, riss ihre Mutter sie aus den Gedanken.

»Ach, ich weiß auch nicht«, sagte Ines und versuchte, dabei möglichst müde zu klingen.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie es ihren Eltern erklären konnte, dass sie sich ohne ihr Wissen nachts allein in Berlin herumgetrieben hatte – ganz davon abgesehen, dass sie zwischendurch entführt worden war. Dann fiel es ihr plötzlich ein. Das mussten sie gar nicht wissen! Für die beiden galt immer noch, dass sie bei ihrer Freundin übernachten wollte. Jetzt stand nur noch zu hoffen, dass sie nicht dort angerufen hatten, und Tina ahnungslos gewesen war.

Okay, Augen zu und durch, sagte sie sich.

»Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich dabei war, mich für Tina fertigzumachen. Dann wurde mir mit einem Mal ganz komisch. Ich dachte, dass ich mich nochmal kurz hinlegen könnte. Ja und dann bin ich hier aufgewacht.«

In diesem Moment wurde Ines der Fehler in ihrer Story bewusst. Sie hatte ja gar keine Ahnung, wo, wie und von wem sie gefunden worden war. Vorsichtig blickte sie ihre Eltern an, innerlich darum betend, dass es doch funktionieren würde.

Diana lächelte und strich Ines über die Wange.

»Na dann ist es ja gut, dass Lucas dich um Mitternacht besuchen wollte und er dich zusammen mit seinen Eltern gefunden hat. Ich glaub, der mag dich.«

»Was?«, fuhr Ines auf. Einerseits war sie froh, darüber, dass sie ihr die Geschichte abgekauft hatten, aber Lucas hatte sie aus dieser Sache möglichst heraushalten wollen.

»Huch, was ist denn mit dir? Ich dachte, du magst ihn auch«, sagte Diana mit einer beschwichtigenden Geste.

»Hmm … ja … nee … weiß nich«, grummelte Ines. »Aber was hat das denn mit heute zu tun?«

»Na ja, sie haben erzählt, dass Lucas dir eigentlich um Mitternacht ein gesundes neues Jahr wünschen wollte, weil er noch Licht bei dir gesehen hatte. Dann haben sie wohl gemerkt, dass irgendeine Tür offen war, sind rein und haben dich so gefunden. Wir sind dann kurz danach auch zu Hause angekommen, weil wir dich um zwölf nicht erreichen konnten. Blöderweise hatte Papa dann auch noch sein Handy vergessen, sodass wir Tinas Telefonnummer nicht dabei hatten. Kannst du dir das vorstellen? Papa ohne Handy? Na egal, auf jeden Fall haben sie dich mit dem Rettungswagen hergebracht. Und jetzt bist du wieder in Ordnung. Du fühlst dich doch okay?«

Den letzten Satz sagte ihre Mutter mit einem leicht flehenden Unterton in der Stimme, sodass Ines automatisch mit »Na klar« antwortete. Innerlich war sie sich dessen nicht so sicher. Irgendwie musste Lucas es geschafft haben, ein Stück von ihr mit sich herumzutragen. Was, wenn er nicht alles wieder zurückgegeben hatte? Und wieso zum Teufel hatte er es überhaupt gehabt? Alles, an das sie sich noch klar erinnern konnte, war gewesen, dass Herr Neumann und dieser Freak sie auf der Siegessäule gefangen gehalten hatten. Dann war Lucas gekommen – woher eigentlich? – und hatte sie anscheinend gerettet. Aber wie nur? Irgendwann zu dieser Zeit verlor sich ihre Erinnerung und wurde durch völlig abstruse Träume ersetzt – von Bomben … und Fischen … und Blitzen … und Drachen? Warum ausgerechnet Drachen? Und warum hatte sie das Gefühl, sie wäre dieser Drache gewesen? Sie mochte dieses ganze Fantasy-Gedöns nicht, also natürlich auch keine Drachen. Wieso sollte sie also davon träumen? Ines seufzte verwirrt.

»Ja, Maus?«, sagte Tom.

»Ach, Papi, ich bin doch ganz schön müde«, antwortete sie matt. »Ich glaube, ich lege mich noch ein bisschen hin.«

Ihre Eltern sandten hilfesuchende Blicke in Richtung des Arztes, der diskret ein wenig in Richtung Gang zurückgetreten war, um die Familie nicht zu stören. Dieser nickte beruhigend und antwortete auf die unausgesprochene Frage: »Keine Sorge. Jetzt kann nichts mehr passieren. Sie soll ruhig ein wenig schlafen. Wir müssen ohnehin noch ein paar Tests durchführen, um auszuschließen, dass es eine physische Ursache für den Zustand gibt, in dem ihre Tochter eingeliefert wurde. Die Ergebnisse erhalten wir frühestens morgen Vormittag. Wenn Sie möchten, dann können Sie gern nach Hause fahren. Oder wir besorgen Ihnen einen Ruheraum, wenn Sie gern hierbleiben wollen.«

»Ich geh hier nicht weg«, sagte Diana.

»Was meinst du?«, fragte Tom und drehte sich dabei zu seiner Tochter um.

Aber Ines war bereits eingeschlafen.

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