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Schlachtplan

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as erste, was Lucas wieder wahrnahm, war ein seltsames Geräusch. Er öffnete ganz leicht ein Auge und linste zu seinem Radiowecker hinüber. Dabei stellte er fest, dass es bereits nach zehn Uhr war, und dass das Radio gar nicht lief. Aber warum hörte er dann Gesang? Als die Erkenntnis ihn traf, war er schlagartig hellwach.

Ray, bist du das?, horchte er vorsichtig in sich hinein – immer noch halb befürchtend, dass er den Verlauf des gestrigen Tages nur geträumt hatte.

Ah, du bist wach, kam es prompt zurück. Prima. Mir ist langsam die Beschäftigung ausgegangen.

Oh, bist du etwa schon früh aufgewacht?

Na ja, wie man’s nimmt. Ich habe gar nicht geschlafen.

Was? Oh, sorry, das wollte ich nicht.

Du konntest ja nicht wissen, dass das nicht einfach so klappt. Aber es war auch gar nicht schlimm. Ich war nicht müde und bin’s jetzt auch nicht. Außerdem hatte ich so Zeit, um mir Gedanken über das zu machen, was ab jetzt passieren kann und sollte.

Erleichtert stieß Lucas die Luft aus, die er vor Schreck angehalten hatte. Dann fragte er: Und was genau soll jetzt passieren?

He, nun mal langsam, kam es von Neumann zurück. Du bist doch gerade erst wach geworden.

Ja stimmt, aber ich habe sowas von tief geschlafen und fühle mich so gut wie lange nicht mehr. Die Tatsache, dass du noch da bist, hat mich wahrscheinlich davor bewahrt, vor Trübsinn einzugehen.

Aha. Na, wenn du das so siehst, dann gäbe es auf jeden Fall ein paar Dinge, die zu erledigen wären. Aber vorher hätte ich gern noch ein bisschen Input von dir. Du hast mir zwar schon ne ganze Menge von dem erzählt, was zu Silvester abgegangen ist, aber eins fehlt mir noch. Du hattest da kurz was angeschnitten, von dem wir wieder abgekommen sind. Ich wollte dich zum Schluss nicht mit der Frage belasten, weil du so fertig warst.

Ähm, und was war das?

Du scheinst ja inzwischen herausgefunden zu haben, von wem du die Begabung hast. Das würde mich brennend interessieren, denn so viel ich auch recherchiert habe, ich habe nirgendwo einen Eintrag über dich oder deine Eltern finden können. Ist es nun deine Mutter oder dein Vater?

Lucas stockte überrascht, da er mit dieser Frage nicht gerechnet hatte. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er jemandem von seiner Herkunft erzählen wollte. Aber eigentlich war es doch Schwachsinn, damit hinter dem Berg zu halten. Und wenn es jemanden gäbe, dem er es erzählen sollte und auch wollte, dann war es Neumann.

Also dachte er – bevor er es sich anders überlegen konnte: Ehrlich gesagt sind es beide.

Prima, ich hatte mir doch gedacht, dass … Waas?!

In diesem Augenblick wurde es Lucas wieder klar, warum er es eigentlich niemandem anders, als den Personen, die es ohnehin schon wussten, hatte erzählen wollen. Aber jetzt war es heraus – unmöglich, es ungeschehen zu machen.

Nach einer Pause, die ihm endlos vorkam, meldete Neumann sich wieder zu Wort: Du verarschst mich doch jetzt nicht etwa. So als kleine Retourkutsche für den Schreck, den du meinetwegen erlitten hast?

Nee, keine Chance, antwortete Lucas, erleichtert darüber, dass sein Mentor es anscheinend doch nicht so schlecht aufnahm, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Die sind mir echt beide hinterhergeflogen und haben mich überrascht, als ich mit Harald gerade nen Plan machen wollte. Soweit ich es verstanden habe, sind sie beide zuerst total ahnungslos von dem gewesen, was sie sind. Meine Mutter hat wohl irgendwas geahnt. Als sie dann den Zettel gefunden haben, den ich zu Hause deponiert hatte, als ich weg bin, ist sie meinem Vater gegenüber damit herausgerückt. Ich muss sie echt mal fragen, warum sie mich nicht angesprochen hat, als ihr ein Verdacht kam. Stattdessen hat sie sich von meiner Oma – also ihrer Mutter – was über ihre Vergangenheit erzählen lassen, obwohl die davon eigentlich nichts mehr wissen wollte.

Na gut. Dann bist du also ein Doppel. Hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas erleben würde.

Lucas hatte das Gefühl, die gleiche Fassungslosigkeit zu erleben, die sein Mentor empfand. Dann meldete sich noch ein anderes Gefühl, nämlich Hunger. Er stand auf, um sich in der Küche etwas zum Essen zu machen. Dort fand er auch einen Zettel seiner Mutter, auf den sie geschrieben hatte, dass sie wegen einer Konferenz leider erst gegen fünfzehn Uhr wieder zu Hause sein würde. Im Grunde genommen passte das aber sehr gut, da Neumann ihm zwischenzeitlich erzählt hatte, was er an diesem Tag möglichst noch in Erfahrung bringen oder sogar erledigen wollte. Sie würden zuallererst in die BAT gehen, um in der Bibliothek nach dem Buch zu suchen, aus dem Lucas die Informationen über die Merger hatte. Vielleicht würde dort auch etwas darüber stehen, ob man Neumann gefahrlos wieder aus ihm herauslösen konnte. Wenn dem so wäre, würden sie es versuchen, aber nicht in der BAT, wo zunächst niemand etwas davon mitbekommen sollte, dass Neumann noch lebte. Irgendwie würden sie zu Neumann nach Hause kommen müssen, um das Buch studieren zu können. Lucas rieb sich die Hände, denn er konnte es kaum erwarten, wieder in den coolen Loft zu kommen. Dann jedoch fiel ihm etwas ein, das seine Euphorie wieder bremste.

Sag mal, wie sollen wir das denn eigentlich alles schaffen, bevor meine Ma wieder zurück ist? Ich hab ehrlich gesagt keinen Bock drauf, sie schon wieder anzuschwindeln. Wenn ich mir aber überlege, wo wir überall hin wollen, dann bliebe nur fliegen, um das einigermaßen in der Zeit zu schaffen. Nur fliegen geht ja auch nicht, wenn wir womöglich mehrere Bücher mitschleppen müssen. Das fällt am helllichten Tag doch auf.

Oh, mach dir darüber mal keine Sorgen, antwortete Neumann vergnügt. Dazu ist mir auch schon was eingefallen. Wir werden fahren.

Ich hab doch schon gesagt, dass das mit den Öffentlichen …, begann Lucas, wurde aber sofort von Neumanns Gedanken gestoppt.

Ich habe nix davon gesagt, dass wir mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Das tun wir auch nicht – zumindest nicht nur.

Hä?, machte Lucas.

Wir fahren bis zum Großen Stern und nehmen dort meine Maschine. Die steht bestimmt noch da, wo ich sie stehengelassen habe.

Und wie willst du die fahren?

Och, ich dachte mir, dass du das machst.

»Was?«, rief Lucas laut. Dann ergänzte er in Gedanken: Gei … oh verdammt.

Er war eben dabei gewesen, sich etwas Tee einzugießen und hatte sich diesen nun – abgelenkt durch die Idee seines Mentors – über die Finger geschüttet. Vom Schmerz wieder ernüchtert, fragte Lucas: Aber wie soll ich das Ding denn fahren?

Du hast mir doch irgendwann was davon erzählt, dass du Kartfahren warst. So viel schwerer ist Motorradfahren auch nicht.

Denkst du wirklich, dass ich das hinbekomme?

Du bist ein vielfältig talentierter junger Mann. Warum solltest du das nicht schaffen? Ich vertraue dir da vollauf.

Okaaay.

Lucas fühlte sich ob der Tatsache, dass Neumann ihm tatsächlich seine kostbare Maschine anvertraute, enorm geschmeichelt.

Nachdem die grundsätzlichen Dinge damit geklärt waren, machte Lucas sich flugs fertig, packte Plagues Rucksack wieder ein und verließ das Haus. Einen Zettel hinterließ er nicht, da er sich sicher war, dass er vor seiner Mutter wieder zurück sein würde. Die Fahrt mit Bus und Bahn zum Großen Stern kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, da es nichts gab, was man unterwegs noch hätte tun können, um sich abzulenken. Aber dann waren sie angekommen. Während Lucas die Stufen vom Bahnsteig der Station »Tiergarten« hinunterstieg, erklärte ihm Neumann, wo er hingehen musste, um zu dem abgestellten Motorrad zu kommen. Er wandte sich, der Beschreibung folgend, nach rechts und ging bis zur nächsten Kreuzung, wo er wiederum rechts abbog und unter den Bahngleisen hindurch ging. Hinter der Unterführung befand sich eine kleine Grünanlage, die allerdings im Moment alles andere als grün war. Lucas ließ seinen Blick über die kahlen Bäume und den matschigen Boden schweifen. Dann entdeckte er die in verwaschenen Tarnfarben gehaltene Persenning, unter der die VMax auf sie wartete. Schnell hatte Lucas die Befestigungshaken gelöst, die Plane abgenommen und in der seitlich angebrachten Tasche verstaut. Danach stand er vor dem Boliden und blickte ihn etwas ratlos an.

Und jetzt?

Na Schlüssel rein, starten und ab geht’s, kam es gut gelaunt von Neumann zurück.

»Spinnst du?«, entfuhr es Lucas. Erschrocken über seine eigene laute Stimme zuckte er zusammen. In Gedanken ergänzte er: Ich kann mich doch nicht einfach auf dieses Monster setzen und losfahren. Ich wüsste nicht mal, wo Gas und Bremse sind. Da lande ich doch direkt am nächsten Baum.

Ich verarsch dich doch bloß, erwiderte der Mann in seinem Innern mit schmunzelndem Geist. Pass auf. Ich hatte es mir so vorgestellt, dass du dich erst einmal draufsetzt. Ich erkläre dir die grundlegenden Dinge. Wenn’s klappt, dann fahren wir vorsichtig los. Wenn nicht, dann würde ich dich um einen Gefallen bitten.

Gefallen?

Ja. Ich glaube, dass du mir die Kontrolle über deinen Körper zumindest so weit überlassen könntest, dass ich anstatt von dir fahre. Wenn du mir so weit vertraust.

Habe ich das nicht schon im letzten Jahr getan, als ich mit dir in diesen seltsamen BAT-Club gegangen bin?

Wenn du das so siehst, dachte Neumann zufrieden. Aber ich möchte trotzdem erst einmal schauen, ob du’s auch selbst hinbekommst. So ganz geheuer ist es mir nämlich nicht, einen anderen Körper, in dem ich selbst drin stecke, fernzusteuern.

Und das taten sie dann auch. Trotz allen Respekts, den Lucas vor der brachialen Gewalt des Motorrads hatte, übte er fleißig mit Kupplung und Gas, bis er nicht mehr abwechselnd den Motor zum Aufbrüllen brachte, oder ihn abwürgte. Ein Blick auf seine Uhr beruhigte ihn insofern, als dass dieser Crashkurs bisher nur ungefähr eine halbe Stunde gedauert hatte. Wenn alles weiter so glatt lief, war noch genug Zeit, um die restlichen Dinge zu erledigen, die sie schaffen wollten.

Eine Weile später dachte Neumann: Okay. Das Wichtigste hast du einigermaßen drauf. Jetzt können wir da vorne vorsichtig auf die Straße rollen, damit du das Hochschalten und Bremsen angehen kannst.

Bist du sicher?, fragte Lucas, dem sofort angsterfüllte Schauer über Rücken und Arme liefen.

Du kannst mir ruhig glauben. Ich merke schon, wenn jemand mein Baby richtig oder falsch behandelt. Und du hast ein gutes Händchen. Außerdem bin ich ja noch da, um dir beim Fahren Tipps zu geben.

Also fuhr Lucas vorsichtig über den Bürgersteig und von dort auf die kleine Nebenstraße, die bis auf ein paar geparkte Autos völlig verlassen war. Nachdem auch die nächsten Übungen zur Zufriedenheit seines Lehrers verlaufen waren, machten sie sich auf den Weg nach Friedrichshain. Lucas konzentrierte sich darauf, Gas, Kupplung und Bremse richtig zu bedienen. Ansonsten ließ er sich von Neumanns Anweisungen leiten. Es dauerte nicht lange, bis er in der Lage war, die Fahrt zu genießen, aber da kamen sie auch schon in der Straße an, in der die BAT zu finden war.

Gut. Jetzt lass die Maschine mal lieber ein Stückchen weiter weg stehen. Ich will nicht, dass sie jemand erkennt.

Lucas machte ein enttäuschtes Gesicht, dass sein Mentor freilich nicht sehen konnte. Gleichwohl ergänzte dieser: Ich kann ja verstehen, dass es dir Spaß macht, jetzt wo du den Bogen einigermaßen raus hast, aber um die paar Meter geht’s doch nun wirklich nicht. Außerdem kannst du ja gleich wieder rauf auf den Hobel, wenn wir hier fertig sind.

Hast ja recht. Lucas hätte dabei geseufzt, wenn das in Gedanken möglich gewesen wäre.

Er lenkte das Motorrad vorsichtig an den Straßenrand und stellte es ab. Lucas ging auf die andere Straßenseite und lief dort noch ein wenig weiter. Dann war er an der Stelle angekommen, wo er erneut die Straße überqueren musste, um den Durchgang zum Hof zu erreichen, in dem sich der Eingang zur BAT befand. Verlassen und irgendwie unwirklich kam ihm dieser Hof vor, jetzt, wo keine Menschenseele hier war. Aber genau das war der Grund, warum sie vor der eigentlichen Öffnungszeit hergekommen waren. Auf diese Art und Weise würde die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu treffen, der nichts vom derzeitigen Gesundheitszustand Neumanns erfahren sollte, sehr gering sein. Lucas hielt auf den Eingang zu, über dem das Schild mit der Graffiti-Schrift vermeldete, dass sich hier der BAT-Club befände. Jedoch wurde er von dem Mann in seinem Innern gebremst.

Lass uns mal lieber durch den Seiteneingang gehen. Wenn wir vorne reingehen, müssen wir durch die Tür mit dem Retina-Scanner. Die registriert dann, dass du hier warst.

Oh, machte Lucas im Geist. Dabei musste er unwillkürlich grinsen. Wie schnell es einem doch in Fleisch und Blut überging, sich nur noch innerlich zu unterhalten, sodass er sogar ein so einfaches Geräusch nicht mehr laut äußerte.

Am seitlichen Eingang angekommen, kramte Lucas im Rucksack nach Neumanns Schlüsselbund. Dann schloss er die kleine unscheinbare Tür auf, die einen direkten Zugang ins Herz der Akademie ermöglichte. Am Fuß der Treppe, die er zuletzt hinuntersteigen musste, wandte er sich nach rechts und ging am Kollegiumsraum vorbei direkt zur Bibliothek. Dort hielt sich Lucas ebenfalls nicht lange auf, da er wusste, wonach er suchte. Das kleine Büchlein, aus dem er schon so viele wichtige Informationen entnommen hatte, stand immer noch genau dort, wo er es das letzte Mal hingestellt hatte. Lucas schnappte sich den dünnen Band und steckte ihn in den Rucksack.

Brauchen wir sonst noch was?, fragte er Neumann.

Hmm, glaub‘ nicht. Ich denke, wir sollten jetzt erst mal schnellstmöglich zu mir fahren und schauen, ob wir mein Problem gelöst bekommen. Wenn nicht, dann müssen wir zur Not nochmal her.

Lucas warf im Gehen einen Blick auf seine Uhr. Das könnte knapp werden, falls sie tatsächlich noch einmal hierher mussten. Aber darüber könnten sie sich ja immer noch Gedanken machen, wenn …

»Allo, ähm Lucas. Was machste du denn ier?«, erklang hinter ihm plötzlich eine Stimme.

Er fuhr herum und hob – obwohl er die Stimme eigentlich erkannt hatte – abwehrend die Hände. In diesem Moment bemerkte Lucas, dass er in der Linken immer noch seinen Motorradhelm hielt. Schnell ließ er sie wieder sinken.

»Herr Bragulia«, brachte er mit belegter Stimme hervor. In ihm wütete ein Chaos aus eigenen Gedanken und denen von Neumann, das es ihm unmöglich machte, mehr zu äußern.

»Si, si«, erwiderte Vincente di Bragulia, der Leiter der Akademie. Er blickte ihn freundlich, aber auch neugierig an. »Willste du schon übe für die neue Kurse? Und wie war deine Silvester?«

Inzwischen hatten sich die Gedanken in Lucas‘ Kopf wieder so weit beruhigt, dass er in der Lage war, zu antworten.

»Ach, wissen Sie, ein neues Jahr ist doch irgendwie wie das andere. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum die um dieses Millennium so einen Rummel gemacht haben.« Da ihm in diesem Moment eine Idee gekommen war, ergänzte er: »Und nein, ich bin nicht zum Üben hier. Herr Neumann hatte mich im letzten Jahr gebeten, ihm seinen zweiten Helm mitzubringen, den er mir mal geborgt hatte.«

Dabei hob er erneut die linke Hand.

»Ah, si, verstehe. Biste du verabredet mit Balthasar?«

»Öhm, nee. Ich wollte den Helm bloß hier lassen, damit ich ihn nicht wieder vergesse. Dann hatte ich noch spontan die Idee, mir vielleicht was zum Lesen mitzunehmen.«

Er machte eine vage Geste in Richtung der Bücherregale. Bragulia nickte.

»Iste immer gutt, von seine Wurzeln zu wisse. Na dann lass diech nicht aufhalte.«

Lucas hob die Hand zum Gruß und machte sich auf in die Richtung, aus der er vorhin gekommen war, als ihn Neumanns Stimme in seinem Kopf zusammenzucken ließ.

Stop!

Fast hätte Lucas laut nach dem Grund gefragt. Aber er konnte sich gerade noch beherrschen.

Was ist denn?, fragte er nun in Gedanken.

Du hast Vincente gerade erzählt, dass du mir den Helm hier lassen willst. Außerdem kommst du normalerweise nicht durch den Nebeneingang rein oder raus, nicht wahr?

Aber ich wollte doch bloß erklären, warum …

Ist ja auch in Ordnung. Gut, dass du so schnell reagiert hast. Aber jetzt sieh zu, dass du in den Kollegiumsraum gehst. Da müssen wir dann halt nen Moment warten, bis er weg ist, bevor wir wieder abhauen können.

So unauffällig wie möglich drehte Lucas sich in Richtung der Tür zu seiner Rechten und kramte dabei in seinem Rucksack herum. Er befürchtete, dass sein Verhalten von außen betrachtet zumindest seltsam ausgesehen haben musste. Daher versuchte er, durch das ausgiebige Herumkramen eine scheinbare Erklärung für sein Straucheln zu liefern.

»Brauchste du eine …«, kam es auch prompt von Bragulia.

»Nee danke, hab schon«, rief Lucas. Er zückte die Zugangskarte, die er schon die ganze Zeit in der Hand gehabt hatte. Dann zog er sie schnell durch den Leseschlitz und betrat den dahinter liegenden Raum – darum bemüht, nicht allzu hastig zu wirken. Drinnen angekommen schloss Lucas schnell die Tür und lehnte sich dagegen. Verdammt. Es war gar nicht so einfach, in jeder der Personen, die für ihn innerhalb des letzten halben Jahres zu Vertrauten, ja fast sogar zu Freunden, geworden waren, nun potentielle Verschwörer sehen zu müssen. Er brauchte unbedingt einen Plan, wie er mit alledem umgehen sollte. Die Idee, eine Art Geheimagent zu werden, die ihm gestern noch ziemlich cool vorgekommen war, stellte sich in der Praxis als komplizierter heraus, als er es sich gedacht hatte. Lucas nahm sich vor, seinen Mentor ausführlich nach möglichen Verhaltensweisen zu befragen. Dann stieß er sich von der Tür ab und ging auf die Sitzgruppe zu, die vor dem Großbildfernseher stand. Dort ließ er sich in einen der bequemen Sessel fallen.

Was machen wir denn jetzt, solange wir warten? Und wie lange wollen wir eigentlich warten?

Nach einer kleinen Pause kam die Antwort: Ich glaube nicht, dass wir besonders lange warten müssen. Vielleicht ne Viertelstunde. Bis dahin können wir ja schon mal in deinem schicken Buch stöbern.

In diesem Moment fiel Lucas etwas ein und er fragte: Kannst du eigentlich alles sehen, was ich sehe?

Ja, solange du die Augen offen hast und dich nicht gerade auf etwas ganz anderes konzentrierst, nehme ich das wahr, was deine Augen sehen.

Ähm, was meinst du denn mit konzentrieren?

Na ja, als du vorhin total auf die Kupplung konzentriert warst, da hat alles zuerst geflackert und ist dann verblasst. Ich habe weder etwas gehört, noch gesehen. Ich schätze, wenn du es wolltest, dann könntest du mich komplett abschotten.

Aha, machte Lucas. Dann fiel ihm ein, dass es letztens mit Ines genau so gewesen war und er ergänzte: Stimmt, das habe ich sogar schon mal gemacht.

Na dann sollte ich dir wohl dankbar sein, dass du deine Sinne nach wie vor mit mir teilst, merkte sein Lehrer an.

Mach dich nicht lächerlich, antwortete Lucas sofort. Warum sollte ich das denn nicht tun?

Na, immerhin hast du mich ja noch bis gestern für nen Verbrecher gehalten – nen toten Verbrecher, um genau zu sein.

Diese Aussage traf Lucas ziemlich, zumal sie seinen eigenen Gedanken von gestern genau entsprach.

Oh, entschuldige, wenn ich irgendwie was Falsches gesagt habe, dachte Neumann.

Äh, wieso?

Du flackerst gerade.

Das klang für Lucas so seltsam, dass er unwillkürlich lachen musste.

So ist’s besser, dachte der Ältere erleichtert.

Lucas holte das Buch aus dem Rucksack. Er schlug es ungefähr in der Mitte auf, denn er wusste noch, dass sich der Hinweis auf die Merger in der hinteren Hälfte befunden hatte. Ein Inhaltsverzeichnis gab es seltsamerweise nicht. Nach einigem Blättern stieß Lucas wieder auf den Hinweis, der sein Leben innerhalb des letzten Jahres ein weiteres Mal grundlegend geändert hatte. Von einem eigenartigen Gefühl ergriffen, las er erneut die Zeilen, in denen von bei manchen Gestaltwandlern angeblich vorhandenen Fähigkeiten, andere Lebewesen in sich aufzunehmen, deren Eigenschaften anzunehmen und sogar Mischwesen aus mehreren verschiedenen Organismen zu erschaffen die Rede war. Dann kam das Ende des Teils, den Lucas damals geradezu verschlungen hatte. Was folgte, hatte ihn zu dieser Zeit nicht wirklich interessiert. Er war nur von dem Wunsch beseelt gewesen, etwas über Möglichkeiten und Gefahren des Aufnahme- und Herauslöseprozesses zu erfahren. Beim Gedanken daran musste Lucas schmunzeln, denn inzwischen hätte er durchaus ein weiteres Kapitel zum Thema Gefahren beitragen können. Man konnte offensichtlich auch Teile des anderen Organismus in sich behalten, obwohl die Gestalt desselben bereits wieder hergestellt war. Freilich bekam das diesem anderen Wesen nicht besonders gut – vor allem, wenn man sich zu weit voneinander entfernte.

Hey, Lucas. Schalt mal das Flackern ab. Ich kann nichts mehr erkennen.

Ertappt schüttelte Lucas kurz den Kopf, um seine abschweifenden Gedanken zu vertreiben. Er wandte sich wieder dem Text zu. Nach zwei weiteren Seiten wollte Lucas gerade einen Blick auf seine Uhr werfen. Es gab immer noch keinen Hinweis auf etwas, das ihnen bei der Frage, ob man seinen Lehrer gefahrlos herauslösen könnte, geholfen hätte. Doch erneut wurde er von einem Stopp! in seinem Kopf gebremst.

Schau doch bitte noch mal schnell ins Buch. Ich glaube, das könnte was sein.

Lucas tat wie ihm geheißen. Auf der rechten Seite, direkt unter der Überschrift »Mythen und Legenden«, entdeckte er einen Unterpunkt, der mit dem Titel »Heiler« versehen war. Der darunter stehende Text sagte ihnen beiden sofort, dass sie hier auf etwas Wichtiges gestoßen waren.

Auf den bisherigen Seiten haben wir uns zumindest noch in dem Bereich des Vampirismus bewegt, der durch wissenschaftliche Erkenntnisse – sollten sie sich auch auf noch so seltene Eigenschaften oder Fähigkeiten beziehen – belegt werden kann. Nun jedoch widmen wir uns einigen Gerüchten, die sich hartnäckig gehalten haben, obwohl bisher keinerlei Grundlage dafür gefunden werden konnte. Die Rede ist von besonderen Ausformungen der bereits in einem früheren Kapitel beschriebenen Merger oder Verbinder.

Angeblich soll es in früheren Zeiten Personen gegeben haben, die nicht nur in der Lage waren, sich mit anderen Menschen zu verbinden, sondern diese auch von vielfältigen Leiden zu befreien. Sie taten dies mutmaßlich, indem sie – z.B. bei schweren Knochenbrüchen – nach einer erfolgreichen Verbindung den ursprünglichen Zustand des Aufgenommenen wiederherstellten. Zu erklären wäre dies grundsätzlich dadurch, dass Knochenbrüche sich nicht in den Erbinformationen der Gene widerspiegeln. Es soll auch Hinweise darauf gegeben haben, in denen der Heiler sogar defekte Gene dergestalt verändern konnte, dass angeborene Blindheit oder andere körperliche Behinderungen verschwanden. Ein Beweis solcher Fähigkeiten würde ein völlig neues Licht auf Vorgänge werfen, die bisher nur als Wunder zu bezeichnen waren.

Lucas ließ das Buch sinken. Er keuchte auf. Hieß das etwa, dass …

Ähm, Lucas? Da du schon wieder flackerst, nehme ich an, dass du etwas Ähnliches wie ich denkst.

Kann sein. Selbst in Gedanken klang seine Stimme tonlos.

Aber wir sollten jetzt besser aufbrechen, damit unser Zeitplan nicht komplett durcheinander kommt.

Stimmt, bemerkte Lucas und erhob sich – froh über die Ablenkung. Er packte das Buch wieder zurück in den Rucksack, nicht ohne sich vorher die Seitenzahl, bei der er eben angekommen war, zu merken. Dann schulterte er den Beutel, griff sich den Helm und strebte auf die Tür zu. Als er seine Hand nach der Klinke ausstreckte, entfernte diese sich plötzlich und entzog sich so seinem Zugriff. Verständnislos starrte Lucas den Türgriff an, der mit einem Mal hinter etwas verschwand. Erst als er seinen Blick hob, stellte sich dieses Etwas als Gestalt von Ulrich Upuaut heraus. Dieser war mindestens ebenso erstaunt, direkt hinter der Tür auf jemanden zu treffen, wie Lucas es über den plötzlichen Rückzug der Klinke gewesen war. Einen Augenblick lang standen sich die beiden konsterniert gegenüber, dann lachten sie los.

»Hallo Lucas. Frohes neues Jahr«, begrüßte ihn Upuaut.

»Oh, danke Herr Upuaut. Für Sie auch«, gab Lucas den Gruß zurück. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fügte er hinzu: »Ich hatte gehofft, Herrn Neumann hier anzutreffen, denn ich schleppe schon ewig den Helm mit mir herum, den er mir mal geborgt hat.«

»Hmm, den habe ich schon eine Weile nicht mehr hier gesehen. Das sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich. Früher habe ich mal gedacht, dass er hier wohnt, weil er immer schon da war, wenn ich in die BAT kam«, erwiderte der stellvertretende Leiter der Akademie. »Und wenn gerade du nicht weißt, wo er ist, dann bin ich völlig ratlos. Du bist doch eigentlich fast immer mit ihm zusammen hier gewesen, seit du dabei bist.«

Lucas brachte äußerlich ein schiefes Grinsen zustande. Innerlich fragte er sich das Gleiche, das auch sein Mentor dachte: Was soll das denn heißen?

»Na dann werd ich mal …«, begann er, seinen Abgang vorzubereiten.

»Oh ja, schönen Tag noch«, sagte der andere augenzwinkernd. »Ich hab auch noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen.« Dabei wedelte er mit einer zusammengefalteten Ausgabe einer Boulevard-Zeitung. Als Lucas im Gehen aus dem Augenwinkel einen Blick auf den Teil der Hauptschlagzeile erhaschte, hätten ihm um ein Haar die Knie versagt. Er schaffte es jedoch, ein Pokerface zu bewahren, bis er draußen auf dem Gang war, und sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.

Froh darüber, es nicht laut aussprechen zu müssen, um nicht erneut unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, dachte er: Ray, wir müssen auf dem Weg zu dir unbedingt noch so eine Zeitung kaufen. Hast du mitbekommen, welche das war?

Ja, aber was ist denn los? Neumann klang besorgt.

Vielleicht nichts … erklär ich dir später.

Inzwischen waren sie wieder an der Seitentür angekommen und verließen die BAT, ohne noch jemandem zu begegnen.

In zwei verschiedenen Räumen einige Meter unterhalb von Lucas blickte jeweils ein Augenpaar auf einen kleinen Bildschirm, der eine schlanke Gestalt zeigte. Mit einem von der Schulter baumelnden Rucksack und einem Motorradhelm in der Hand ging diese langsam über den Hof in Richtung Straße.

BAT Boy 2

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