Читать книгу BAT Boy 2 - C. A. Raaven - Страница 8
Wundertüte
Оглавлениеn seinem Zimmer saß Lucas auf dem Bett und starrte einen Teller Nudeln an, so als ob dieser ihn soeben tödlich beleidigt hätte. Innerlich tobte ein Wettstreit aus Wut und Scham. Wut über das, was Ines eben gesagt hatte. Unbedacht oder nicht, wie konnte sie auch nur im Ansatz daran denken, dass er Neumanns Leben fahrlässig oder sogar absichtlich gefährdet hätte? In diesem Moment setzte die Scham ein und erinnerte Lucas daran, dass er es hätte überprüfen müssen. Hatte er sich denn sicher sein können, dass er bereits tot gewesen war, nachdem er die Treppe hinunterstürzte? Nein, das hatte er nicht. Diese Schuld würde Lucas von nun an sein ganzes Leben mit sich herumtragen müssen. Egal was sein Vater sagte. Auch wenn sein Mentor noch so tot ausgesehen hatte, als er dort auf dem Treppenabsatz lag. Neumann hätte auch nur bewusstlos gewesen sein können – sich dessen unbewusst, dass eine tödliche Gefahr in Form seines Schützlings auf ihn lauerte.
Lucas stöhnte, schob den Teller von sich weg und griff stattdessen nach dem Rucksack, den er seit Silvester mit sich herumschleppte. Irgendwie hatte dieses unförmige, NATO-oliv gefärbte Ding eine tröstliche Wirkung auf ihn, da ihm inzwischen klar geworden war, dass es Neumann gehört hatte. Lucas vergrub sein Gesicht in dem rauen Stoff. Dann fiel ihm etwas ein und er ließ den Rucksack aufs Bett sinken.
Wie kannst du eigentlich so sicher sein, dass es Neumanns Rucksack ist? Schließlich war da doch das Handy von dem Fiesling Plague drin, stellte die Stimme in Lucas‘ Hinterkopf diesen Einfall infrage.
Ist doch egal. Sie kommt mir einfach unheimlich bekannt vor. Das wäre ja wohl bestimmt nicht so, wenn es die von jemand anderem wäre, würgte er sich selbst gedanklich ab.
Aber woher kam das Handy denn dann?, beharrte die Stimme.
Wahrscheinlich hatte Plague selbst keine Tasche und hat es da eben mit reingepackt, brachte Lucas sie zum Schweigen.
Dann holte er tief Luft und tat etwas, das er – wenn er es recht bedachte – schon viel früher hätte tun sollen. Er öffnete den Rucksack und schüttete dessen Inhalt auf das Bett. Zum Vorschein kam außer einigen undefinierbaren Krümeln, Büroklammern und einer angefangenen Packung Kaugummis noch ein schwarzes Stück Stoff, das wohl ein Halstuch war. Außerdem sah Lucas eine Brieftasche, ein Schlüsseletui, einen kleinen Stecker mit einem daran befestigten Kabel und einen länglichen Gegenstand aus schwarzem Metall. Lucas besah sich zunächst das metallene Ding. Dieses war an der einen Seite griffartig geformt und hatte auf der anderen Seite ein leicht gegabeltes Ende, aus dem kurze glänzende Metallstifte ragten. Interessiert fuhr er mit dem Zeigefinger seiner linken Hand über einen der Stifte. Als er gerade dabei war, sie sich noch einmal genau aus der Nähe anzusehen, betätigte Lucas mit seiner Rechten versehentlich einen Schalter, den er nicht bewusst wahrgenommen hatte. Sofort gab das Gerät ein summendes Zischen von sich. Lucas wurde schmerzhaft geblendet.
Vor Schreck warf er es von sich und schlug stöhnend beide Hände vors Gesicht. Er schloss die Augen, aber die unregelmäßig gezackte Linie, die so plötzlich direkt vor ihm erschienen war, geisterte weiterhin in seinem Gesichtsfeld herum. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde das Geisterbild wieder schwächer. Auch der Schmerz ließ nach. Lucas bückte sich und nahm den Apparat erneut – diesmal aber vorsichtiger – in die Hand. Bevor er noch einmal auf den Schalter drückte, hielt er das andere Ende wohlweislich von sich weg. Wieder erklang das Summen, und Lucas konnte aus sicherer Entfernung einen Lichtbogen erkennen, der sich zwischen den Metallstäben bildete.
Wahnsinn, das muss so ein Elektroschocker sein, wie sie ihn auch in Filmen haben, dachte er fasziniert. Gleichwohl legte er das Gerät beiseite, um sich den beiden anderen interessant aussehenden Gegenständen zu widmen.
Die Brieftasche enthielt außer ein paar D-Mark-Scheinen noch diverse Plastikkarten für verschiedene Zwecke, einen Führerschein und einen Personalausweis. Voller Neugier öffnete Lucas zuerst den mehrfach zusammengefalteten, aus einem undefinierbaren grauen Material bestehenden Führerschein. Er musste unvermittelt lachen, als ihm das Gesicht eines ungefähr 18-jährigen Neumann entgegenblickte. In Gedanken verglich er das Foto mit dem Bild aus seinem Gedächtnis. Der junge Neumann hatte zwar noch keine langen, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare. Im Gegenteil, er hatte sogar Locken. Aber die raubtierähnliche Aura war selbst auf diesem kleinen Bild zu spüren. Immer noch schmunzelnd legte Lucas den Führerschein beiseite und nahm nun den Personalausweis zur Hand. Die Abbildung auf diesem Stück Plastik glich exakt seinem Mentor. Schlagartig wich seine gute Laune wieder der Trauer, die ihn schon seit Tagen begleitet hatte. Dumpf vor sich hinstarrend drehte er den Ausweis in seinen Fingern hin und her. Würde das wirklich niemals aufhören? Dann stutzte Lucas, weil er bemerkt hatte, dass auch auf der Rückseite des Ausweises etwas stand. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, welche Informationen auf so einem Dokument aufgeführt waren, denn selbst hatte er noch keinen. Also besah er sich die Angaben näher. Interessiert stellte er fest, dass dort nicht nur Größe und Augenfarbe, sondern auch die aktuelle Adresse aufgeführt waren. Sofort begann Lucas‘ Herz schneller zu schlagen, denn ihm war eine Idee gekommen. Er würde zu Neumann nach Hause gehen. Vielleicht konnte er dort etwas finden, das ihm helfen würde, die Beweggründe seines Lehrers zu verstehen. Das könnte ihm helfen, wieder Frieden mit sich und der Welt zu schließen.
Lucas sprang auf und blickte zur Uhr an der Wand. Halb Vier – noch nicht zu spät, um einen Spaziergang oder –flug zu machen. Aber Moment, wie sollte er denn dort hinein … Er fuhr herum und schnappte sich das Schlüsseletui vom Bett. Mit zitternden Fingern öffnete er es. Erleichtert ließ Lucas die Luft entweichen, von der er sich gar nicht bewusst gewesen war, dass er sie angehalten hatte. Im Etui befand sich außer mehreren Schlüsseln für Haustüren und einem kleinen Kästchen mit einem Druckknopf auch ein Schlüssel mit der Aufschrift Yamaha. Daran war ein silbern glänzender Anhänger aus den Buchstaben VMAX befestigt. Das mussten Neumanns Schlüssel sein. Lucas konnte sich nur zu gut an die berauschenden Fahrten als Sozius auf seinem Motorrad erinnern. Was für ein Gefühl musste es erst sein, selbst Herr über die unbändige Kraft dieser Maschine zu sein. Als er zusammen mit seinem Vater beim Kartfahren gewesen war, hatte Lucas es schätzen gelernt, als Lenker eines Gefährts im Rausch der Geschwindigkeit seine Runden zu ziehen. Wäre es nicht cool, auch mal auf der VMAX zu fahren? Wenn er doch nur … aber er konnte es doch! Gänsehaut bildete sich auf seinen Unterarmen, als er den Schlüssel aus dem Etui nahm und den Anhänger vor seinen Augen baumeln ließ. Er musste doch nur herausfinden, wo die Maschine am Silvesterabend geparkt worden war. Dann konnte ihn im Prinzip nichts mehr daran hindern, es zu tun.
Hast du sie noch alle? Du weißt doch nicht einmal, wie man so‘n Ding fährt, ließ sich die Stimme in seinem Hinterkopf vernehmen.
Ach was. Feinheiten. So schwer kann das doch nicht sein. Irgendwo finde ich bestimmt ein Buch, wo das drin steht, beendete Lucas die Diskussion mit sich selbst.
Dann machte er sich auf nach unten, um möglichst unauffällig nach einem Stadtplan zu suchen. Die Frage seiner Mutter, ob er ein Stück Kuchen haben wollte, verneinte er mit dem Hinweis darauf, dass er gerade erst die Nudeln gegessen hätte und daher keinen Appetit habe. Dabei bemerkte Lucas, dass er tatsächlich sogar ziemlich großen Hunger hatte. Wieder in seinem Zimmer angekommen nahm er sich daher den Teller, der er vorhin stehengelassen hatte. Sie waren natürlich inzwischen kalt, aber Lucas stopfte sie trotzdem in sich hinein. Danach breitete er den Stadtplan auf seinem Bett aus und suchte nach der Adresse. Kurze Zeit später hatte Lucas sie gefunden – mitten in Kreuzberg am Landwehrkanal gelegen. Das bremste seinen Elan ein wenig, denn Kreuzberg galt nicht unbedingt als das beste Pflaster in Berlin. Aber dann zuckte Lucas für sich mit den Schultern. Er hatte ja schließlich nicht vor, dort umherzuwandern. Er würde fliegen. Schnell schnappte er sich das Meta-Suit, das er am Neujahrsmorgen in seinem Zimmer in die Ecke gefeuert hatte, und zog es an. Ein paar normale Klamotten packte er zusammen mit dem Schlüsseletui in den kleinsten Rucksack, den er finden konnte. Schließlich wollte er nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregen, wenn er damit durch die Lüfte flog. Zufrieden stieg Lucas die Treppe hinunter und wollte gerade in Richtung Haustür gehen, als ihn eine Frage seines Vaters stoppte.
»Na Luky? Geht’s dir langsam besser?«, sagte Paul, der seinen Kopf aus der Küchentür in den Flur streckte.
»Na ja, muss ja«, erwiderte Lucas. »Morgen geht schließlich die Schule wieder los.«
»Stimmt. Mama und ich hatten schon überlegt, ob wir dich nicht besser noch ein-zwei Tage zu Hause lassen sollen.«
»Hmm, weiß nich«, meinte Lucas.
»Willst du dich nicht doch noch ein bisschen zu uns setzen?«, fragte Betty, die nun ebenfalls aus der Küche trat.
»Wisst ihr, ehrlich gesagt wollte ich gerade noch mal raus. Das vorhin mit Ines ist nicht ganz so gelaufen, wie ich es gehofft hatte, und …«
»Nee, okay, alles klar«, sagte Paul. »Mach ruhig. Aber sei zum Abendessen bitte zurück. Dann können wir ja noch einmal wegen morgen sprechen.«
»Danke«, sagte Lucas. Er war erleichtert darüber, sich nicht auch noch den Fragen, die sie bestimmt hatten, stellen zu müssen, bevor er – hoffentlich – einen Modus für sich gefunden hatte, um mit alledem umzugehen.
Lucas verließ das Haus, wandte sich aber sofort nach rechts und ging um die nächste Hausecke. Dort legte er die Kleidung, die er über dem Meta-Suit trug, ab. Er hockte sich hin, um sich gleich darauf als Rabe mit dem Rucksack in den Krallen in die Luft zu erheben. Lucas hatte bewusst diese Gestalt gewählt. Zum einen stellte er sich einen Raben am nachmittäglichen Himmel unverfänglicher vor, als beispielsweise einen Uhu. Zum anderen war ihm aufgefallen, dass sich Neumanns Wohnung ziemlich in der Nähe des Deutschen Technikmuseums befand. Dorthin hatte ihn seine erste nächtliche Exkursion als Rabe geführt. Seine Einschätzung erwies sich als richtig, denn es wurde niemand auf ihn aufmerksam. Die Orientierung anhand abgespeicherter Landmarken aus seinem Gedächtnis machte es ihm leicht, das Haus zu finden, das der Adresse aus Neumanns Ausweis entsprach. Nach einer kurzen Runde, über die Häuser und Straßen in der Umgebung fand der Vogel auch eine uneinsehbare Nische. Dort konnte er sich verstecken, um wieder menschliche Gestalt anzunehmen und sich anzuziehen. Dann trat Lucas vor die Häuserfront, um den Eingang zu suchen. An der angegebenen Hausnummer stutzte er allerdings, da sie fast vollkommen von einem Ladengeschäft eingenommen wurde. Lediglich auf der linken Seite des Geschäfts befand sich eine durch ein massives Tor verschlossene Einfahrt. Lucas trat an diese heran. Er fand dort ein Paneel aus Stahl mit der Aufschrift ‘X-Berg Lofts’. Es bot außerdem Platz für eine Zahlentastatur unter einem quadratischen, mit Schlitzen versehenen Bereich, neben dem sich fünf beschriftete Schildchen befanden. Auf den vier unteren waren Namen geschrieben, die auf irgendwelche Firmen hinwiesen, aber ganz oben stand einfach nur »B.N.«.
Bingo, ich hab dich, dachte Lucas zufrieden und holte das Schlüsseletui hervor.
Bereits kurze Zeit später war die Zufriedenheit jedoch der Frustration gewichen, da sich nirgendwo im Tor ein Schlüsselloch finden ließ. Aber dann kam ihm eine Idee und er drückte auf den Knopf des kleinen Kästchens, das sich ebenfalls im Etui befand. Nun ein weiteres Mal zufrieden, beobachtete Lucas das Tor, wie es fast lautlos nach innen schwang. In dem Durchgang, der so freigegeben wurde, brannte bereits die Beleuchtung. Auf der linken Seite des breiten Ganges wartete die geöffnete Tür eines Industrie-Fahrstuhls darauf, dass Lucas sie durchschritt. Nachdem er dies getan hatte, blickte er sich dort um. Er entdeckte ein weiteres Paneel mit fünf Namensschildern und daneben angebrachten Schlössern. Also zückte er nacheinander die Schlüssel aus dem Etui und probierte sie aus. Schon der zweite Schlüssel passte. Als Lucas ihn nach rechts drehte, schlossen sich die Türen des Lifts, und er setzte sich in Bewegung. Lucas konnte nicht sagen, ob es die Vibrationen des Liftmotors waren oder seine eigene Anspannung. Während der Zeit, die der Fahrstuhl bis zu seinem Ziel benötigte, wurde er immer kribbeliger, sodass er fast heraussprang, als sich die Türen schließlich wieder öffneten. Er trat in einen fast leeren Vorraum, dessen Wände aus rohem Ziegelmauerwerk bestanden. Wenn nicht die zwei blitzblanken Lichtelemente aus gebürstetem Edelstahl gewesen wären, dann hätte man denken können, dass sich alles noch im Bau befand. Auf beiden Seiten der gegenüberliegenden schwarzen Tür sandten sie gebündelte Lichtstrahlen nach oben und unten und verliehen dem Raum so ein eindeutig bewohntes Aussehen. Nun sah Lucas sich etwas genauer um. Er stellte fest, dass auf der rechten Seite des Raumes ein Bereich war, in dem wohl normalerweise Neumanns Motorrad stand. Es war mit mehreren Metallschränken und einer kleinen Werkbank ausgestattet.
Direkt bis vor die Wohnung fahren. Wie cool ist das denn?, dachte Lucas, wandte sich aber wieder der Tür zu. Er probierte dort noch einmal den Schlüssel aus dem Lift. Die Tür öffnete sich bereitwillig. In dem Moment, als Lucas Neumanns Wohnung betrat, flammten überall um ihn herum die verschiedensten Lampen auf. Sie tauchten den Raum vor ihm in ein angenehmes Licht. Bei dem, was er nun durch die Beleuchtung erkennen konnte, klappte ihm der Unterkiefer herunter. Das Schlüsseletui entglitt seinen Fingern und fiel zu Boden.
»What the f …«, entfuhr es Lucas‘ Mund, aber in diesem Moment fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, und er fuhr erschrocken herum. Niemand stand hinter ihm. Es war nur die Tür gewesen, die mit einem automatischen Schließmechanismus ausgestattet war. Langsam drehte er sich wieder dem Raum zu und versuchte dabei, alle sich ihm bietenden Eindrücke aufzunehmen. Direkt zu seiner Linken war ein abgeteilter Bereich, in dem Lucas das Bad vermutete. Der restliche Raum, der sich über die komplette Etage erstreckte, war ein einziges offenes Areal. Auf der rechten Seite waren große Rundbogenfenster in die Dachschräge eingelassen. Durch sie hatte man selbst im Winter und trotz des vorherrschenden Nebels, einen eindrucksvollen Blick über den Landwehrkanal und das dahinter liegende Kreuzberg. Hier befand sich in der vorderen Region eine Art Sportstudio mit Laufband, Hantelbank und Fitnessgeräten. Von Lucas aus gesehen hinter den Sportgeräten war ein Küchenbereich durch mehrere Schränke in verschiedenen Höhen abgeteilt worden. Vor der freistehenden Kochinsel war dieser in den Raum hinein durch einen breiten Tresen mit Barhockern davor begrenzt. Am gegenübergelegenen Ende des Zimmers befand sich auf einem durch drei flache Stufen erreichbaren Podest das, was man in einer normalen Wohnung als Wohnzimmer bezeichnen würde. Allerdings kam Lucas dieser Begriff angesichts der Ausdehnung von bestimmt fünfundzwanzig Metern Länge und zehn Metern Breite wie eine ziemliche Untertreibung vor. Eine große bequem aussehende Sitzgruppe umrahmte einen flachen Tisch. An der Wand dahinter war neben einem großen offenen Kamin der größte Flachbildfernseher angebracht, den Lucas außerhalb der BAT jemals gesehen hatte. Dieser Bereich wurde von einer Zwischendecke überspannt, an der vorn helle Stoffbahnen so angebracht waren, dass sie alles, was dahinter lag, abschirmten.
Wird wohl das Schlafzimmer sein da oben.
Das wirst du nie herausfinden, wenn du weiter wie angewurzelt hier herumstehst, bemerkte die Stimme aus seinem Hinterkopf.
Erst in diesem Moment stellte er fest, dass er sich wirklich noch keinen Schritt fortbewegt hatte. Auch die Schlüssel lagen immer noch dort auf dem Boden, wo er sie fallen gelassen hatte. Lucas bückte sich, hob sie auf und ging langsam weiter in die Wohnung hinein. Die ganze Zeit über ging ihm eins nicht aus dem Kopf: Alles, was er sah, musste eine Unmenge an Geld gekostet haben, selbst wenn es sich um eine Mietwohnung handelte. Woher hatte Neumann nur so viel Geld? Eigentlich war er doch total abgebrannt. Das musste er sein, denn warum hätte er sich sonst auf diese Sache mit Plague einlassen sollen? Langsam begann sich Lucas zu fragen, ob er diesen, trotz allem, was er über seinen ehemaligen Mentor wusste, überhaupt kannte. Alles um ihn herum schien so gar nicht zu ihm zu passen, aber irgendwie doch. Verwirrt schüttelte Lucas den Kopf und sah sich dann weiter um. Jetzt erblickte er auch den Grund dafür, warum es trotz der bereits fortgeschrittenen Dämmerung noch so viel Tageslicht in dem riesigen Raum gab. Das gesamte Dach auf der linken Seite war entfernt und durch eine aufwändige Konstruktion aus Stahl und Glas ersetzt worden. Die komplette Hausseite wirkte so wie ein einziges enormes Fenster. Innen war an der Glasfassade eine Stahltreppe angesetzt worden, über die man die obere Etage erreichen konnte. Außen befand sich eine gewaltige Dachterrasse mit Sonnenliegen und sogar einem kleinen Swimmingpool. Völlig entgeistert kletterte Lucas die Stufen der Treppe hinauf. Dabei fragte er sich erneut, ob er den Menschen, der hier wohnte, jemals auch nur ansatzweise gekannt hatte. Oben angekommen stellte er fest, dass er mit seiner Annahme, sowohl falsch, als auch richtig lag. Hier war zwar ein Schlafbereich, aber außerdem auch eine Art Bibliothek in einem stylisch eingerichteten Büro. Lucas blieb im vorderen Bereich, weil er sich, trotzdem er ja ganz allein war, nicht so recht traute, dieses privateste aller Zimmer zu betreten.
Wen soll das denn bitte stören?, merkte seine innere Stimme leicht belustigt an.
Ist mir egal. Auch wenn Ray nicht mehr auf dieser Welt ist, will ich da nicht rein, machte er sie mundtot.
Ein weiterer Grund dafür, im Büro bleiben zu wollen, war der Computer oder vielmehr die Computer, die auf dem großen Schreibtisch aufgebaut waren. Gleich zwei ein wenig unförmig aussehende Geräte aus leicht durchscheinendem blauen Material standen dort. Dazu noch ein großer Flachbildmonitor. Einer davon ließ an einem auf dem Monitor angezeigten Farbwechselspiel erkennen, dass er sogar eingeschaltet war. Lucas trat näher an den Schreibtisch heran und setzte sich auf den davor stehenden Chefsessel. Nun konnte er auch einige auf dem Schreibtisch verteilte Papiere – teils selbst beschrieben, teils ausgedruckt – sehen. Die Handschrift war größtenteils unlesbar – wahrscheinlich eine Art Kurz- oder Geheimschrift. Nur an den dazwischen befindlichen Skizzen konnte Lucas erkennen, dass sie sich mit dem Y2K-Projekt beschäftigen mussten. Da war zum Beispiel die Zeichnung des Großen Sterns mit der Siegessäule, die Neumann bei dem Telefonat mit Plague, das Lucas belauscht hatte, angefertigt hatte. Außerdem eine grobe Skizze des Gerätes, das sie als Bombe bezeichnet hatten, sowie einige sehr kompliziert aussehende Schaltpläne, auf denen ein paar rote handschriftliche Markierungen zu sehen waren. Ohne richtig zu wissen warum, griff Lucas nach der Computermaus und zog sie ein Stück zu sich heran. Sofort erwachte der Computer aus seinem Halbschlaf und zeigte einen mit diversen kleinen Icons übersäten Desktophintergrund, über den jedoch ein Fenster geblendet war. Dieses Fenster enthielt außer einem martialisch aussehenden Logo mit den danebenstehenden Buchstaben C. A. T. sowie dem Wort »Anmeldung« noch ein leeres Feld, in dem ein Cursor blinkte. Was Lucas auch versuchte, das Fenster ließ sich nicht schließen, um den Blick auf das, was dahinter lag, freizugeben.
Mist, ohne Passwort komme ich hier nicht weiter. Er runzelte genervt die Stirn.
Aber Lucas wollte unbedingt in die Tiefen dieses Rechners vordringen. Er hatte das Gefühl, dass er dort Antworten erhalten würde, die er weder auf dem Schreibtisch, noch irgendwo anders in der Wohnung finden könnte. Also begann er aufs Geratewohl, Passwörter einzugeben. Diese wurden immer umfangreicher und komplizierter, je länger sie ohne Erfolg blieben. Zwischendurch warf Lucas immer wieder hektische Blicke auf seine Uhr. Er hatte sich eine Deadline gesetzt, um rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein zu können. Schließlich waren es nur noch zwanzig Minuten, bis er seine Suche abbrechen musste. Vor lauter Verzweiflung gab Lucas als letzten Versuch eine Zeichenfolge ein, die er wegen ihrer Einfachheit als mögliches Passwort bisher ausgeschlossen hatte.
R-A-Y
Plong.
Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das aber sofort wieder verschwand, weil sich auf dem Bildschirm doch nichts getan hatte.
Aber woher war dann …?
Plong.
Lucas sah auf, denn ihm war bewusst geworden, dass das Geräusch nicht vom Rechner herrührte, sondern von weiter oben und zu seiner Linken gekommen war. Dort erblickte er sich selbst, denn durch die draußen inzwischen herrschende Dunkelheit wirkte die neben dem Schreibtisch befindliche Glasscheibe wie ein Spiegel. Er stand auf, ging zwei Schritte bis zum Fenster und schaute angestrengt nach draußen. In diesem Moment tauchte ein Schemen, der noch dunkler als die Umgebung war, direkt vor seinem Gesicht auf und flog gegen die Scheibe.
Plong.
Erschrocken prallte Lucas zurück, aber als sein Gehirn ihm weitere Information zu dem eben Geschehenen lieferte, wandelte sich sein Schreck in Erstaunen. Es war eine Fledermaus.
Mehrere Stufen auf einmal nehmend lief Lucas nach unten, um durch die unter der Treppe liegende Tür auf die Terrasse zu gelangen. Er schob sie auf und sprang nach draußen, um nach dem geflügelten Besucher Ausschau zu halten. Lange musste er nicht suchen, denn die Fledermaus hatte offensichtlich bemerkt, dass er nach draußen gegangen war, und kam nun auf ihn zugeschossen. Lucas wich nicht zurück, sondern streckte beide Hände zu einer Fläche zusammengelegt nach vorn aus. Jämmerlich fiepend ließ sich das kleine Tier darauf nieder und bewegte sich danach nicht mehr. Sofort machte Lucas kehrt und lief damit quer durch den großen Raum, bis er die Kochinsel erreicht hatte. Dort legte er das winzige Bündel vorsichtig ab und schaltete das Licht in der Abzugshaube ein. Als die Strahler die Kochfläche in gleißendes Licht tauchten, konnte Lucas den Grund für das Fiepen erkennen: Dort, wo sich normalerweise die Hinterbeine befinden würden, war nur ein undefinierbarer Klumpen, der entfernt an ein Stück schwarzen Stoffes erinnerte. Vorsichtig berührte Lucas das Material. Sofort begann die Fledermaus wieder zu fiepen. Es klang in seinen Ohren eindeutig schmerzerfüllt. Schnell ließ Lucas wieder los, denn er hatte herausgefunden, was er wollte. Bei dem Stoff handelte es sich um ein Stück eines Meta-Suits. Lucas holte tief Luft. Dann nahm er die Fledermaus von der Herdfläche herunter und legte sie auf den Küchenboden. Er kniete sich hin und beugte sich über sie. Nach einem weiteren tiefen Luftholen legte Lucas seine Hände vorsichtig auf das Tier und schloss seine Augen. Es erwies sich als weiser Entschluss, dass er sich zusammen mit dem Tier auf den Küchenfußboden begeben hatte. Als die Verbindung nach einer kurzen Konzentrationsphase hergestellt war, brandeten plötzlich heftige Schmerzen durch sein Bewusstsein. Hätte er noch gestanden, so wären ihm in der unvermittelt einsetzenden Agonie bestimmt die Beine eingeknickt. Wer weiß, was dann passiert wäre? Bei dem, was als Nächstes geschah, kam seine Konzentration allerdings arg ins Wanken, sodass er die Verbindung um ein Haar verloren hätte.
Lucas … Gott sei Dank!, erklang die Stimme von Balthasar Neumann in seinem Kopf.
Ray?! Aber du … wieso … Lucas konnte es nicht verhindern, dass seine Kinnlade vor Entgeisterung heruntersank und der Mund offen stehen blieb.
Später, kam es angestrengt von Neumann zurück. Kannst du mich aus diesem Körper rausholen? Ich … schaffe es … nicht.
Ohne weitere Zeit mit Worten zu verschwenden, vertiefte Lucas seine Konzentration und bemerkte nach einer Weile, wie der Widerstand des anderen schließlich versiegte. Erleichtert stellte er fest, dass in dem Maße, wie der Körper der Fledermaus in seinem eigenen aufging, auch der brutale Schmerz nachließ, bis er zuletzt ganz verschwand.
Danke, erklang Neumanns Stimme. Lucas hatte das Gefühl, dass sie von einem tiefen Seufzer begleitet wurde.
Er wartete noch eine Weile, um das Chaos seiner Gedanken und Gefühle zu ordnen, bevor er sich an Neumann wandte.
Ähm, Ray? Hast du ne Ahnung, was da auf der Siegessäule abgelaufen ist? Ich meine … du warst doch tot … oder?
Nein, Lucas. Das war ich zum Glück nicht.
Aber Plague hat doch … der Sturz … und dann hast du völlig leblos auf dem Treppenabsatz gelegen.
Stimmt. Plague hat mich frontal erwischt. Ich bin von dem Schwung ins Stolpern gekommen und rückwärts die Treppe hinuntergekullert. Allerdings hatte ich noch ein As im Ärmel – nämlich eine ganz besondere Art von Meta-Suit, das nur für besondere Einsätze vergeben wird. Es ist in der Lage, harte Schläge oder sogar abgefeuerte Kugeln durch eine schlagartige Verhärtung aufzufangen und abzuleiten. Das hat mich vor dem Tritt bewahrt und auch die Folgen des Sturzes gedämpft. Allerdings hält die Verhärtung einen Moment lang an, sodass man sich in der Zeit nicht bewegen kann. Außerdem hatte ich mir den Kopf gestoßen und war ziemlich benommen.
»Aha«, machte Lucas und erschrak über den geäußerten Laut selbst. Dann sammelte er sich wieder. Aber danach … der Blitz. Du warst doch … eingeäschert. So wie Plague.
Du hast ihn erwischt? Lucas bemerkte Triumph und Erleichterung in Neumanns Stimme.
Ja, genauso wie dich. Dachte ich.
Was war das eigentlich, was du da gemacht hast?
Ich hab zusammen mit Harald und meinem Vater einen Zitteraal erstellt und einen Stromstoß ausgelöst.
Moment. Du hast zusammen …? Und was hat dein Vater …? Ach, ist er derjenige, von dem du’s hast?
Ähm, ja, auch … Aber mir fällt da gerade etwas ein. Ich muss zum Abendessen zu Hause sein. Das schaffe ich nur, wenn ich sofort losfliege. Was machen wir denn jetzt?
Einen Moment lang überlegten die zwei Personen im Körper von Lucas fieberhaft, wie das neue Problem gelöst werden konnte. Dann ließ sich Neumann als Erster vernehmen.
Kannst du mich noch länger in dir behalten?
Keine Ahnung, aber ich wüsste nicht, warum das nicht gehen sollte.
In diesem Moment fiel Lucas etwas ein und er stutzte.
Sag mal, woher weißt du eigentlich, dass ich ein Merger bin?
Ach, so nennt man das. Ich habe irgendwann mal in der Bibliothek nach etwas gesucht. Dabei habe ich zufällig gehört, wie du dich mit jemandem über die erfolgreiche gemeinsame Erstellung eines Löwen unterhalten hast. Ich wollte dich dann eigentlich drauf ansprechen, aber bei all dem, was Ende letzten Jahres so los war, hab ich’s dann doch vergessen.
Das erinnerte Lucas daran, dass er sich gerade nicht nur mit einem Totgeglaubten, sondern auch mit einem Verbrecher oder zumindest Mittäter unterhielt.
Ray, kannst du mir bitte erklären, warum du zusammen mit diesem Monster …
Ja, Lucas, das kann ich. Und glaube mir. Auch wenn das jetzt abgedroschen klingt, aber es ist nicht so, wie du denkst. Das ist allerdings nichts, was ich jetzt in aller Schnelle erzählen will. Lass uns erst mal losfliegen.
Und so erhob Lucas sich vom Küchenfußboden, ging zur Terrassentür, um sie zu schließen und verließ das Haus, um so schnell er konnte nach Hause zu fliegen.
Das Essen stand schon auf dem Tisch, als Lucas durch die Haustür in die Diele trat.
»Ach, prima, da bist du ja«, rief Betty. »Wir wollten gerade schon bei Ines anrufen, um Bescheid zu sagen, dass wir so weit sind.«
»Hä? Wieso Ines?«, rutschte es Lucas heraus.
»Wieso? Warst du nicht nochmal drüben?«
»Nee, ich war … spazieren. Ich musste mir über ein paar Sachen Gedanken machen.«
»Spazieren? Bei dem Schweinewetter?!«, bemerkte Paul erstaunt.
»Ach, na ja, so kalt war’s nicht. Ich hab auch gar nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Aber jetzt bin ich doch ganz schön kaputt. Macht’s euch was aus, wenn ich nur schnell was esse und mich dann hinhaue?«
Paul und Betty wechselten einen Blick. Dann sagte Betty sanft: »Klar Luky. Und morgen bleibst du noch zu Hause.«
»Huch, wieso …«, begann Lucas, aber sein Vater sah ihm tief in die Augen.
»Glaub mir, du brauchst den freien Tag. Du hast mit mehr klarzukommen, als wir alle ermessen können.«
Wie sehr du doch recht hast.
Das Essen war erwartungsgemäß schnell vorüber. Trotzdem hatte er Mühe gehabt, seine Neugier und Ungeduld auf das, was er heute noch erfahren würde, zu bezähmen. Mit einer Schale Nachtisch in der Hand stieg Lucas danach leise, aber doch so schnell wir möglich, die Treppe hinauf und begab sich in sein Zimmer.
Ray, bist du noch da?
Na klar. Wo soll ich denn sonst sein?, kam die Antwort mit einem Grinsen in der Stimme.
Ach, weißt du, ich habe mich zwischendurch schon gefragt, ob ich das alles nur geträumt habe.
Nö, es ist alles wahr. Du warst bei mir zu Hause und hast mich aus diesem Gefängnis in Form einer Fledermaus befreit.
Warum war das eigentlich so? Und warum bist du nicht …
Tot?
Ja. Ich kann mir das einfach nicht erklären. Wir haben doch den Haufen Asche da liegen sehen, als wir wieder hoch sind.
Richtig. Da lag Asche. Aber es hätte mehr sein müssen.
»Hä?«, machte Lucas laut und erschrak erneut über das plötzliche Geräusch. Das rief ihm ins Bewusstsein, dass ansonsten völlige Stille herrschte, was in seinem Zimmer normalerweise nicht der Fall war. Also schaltete er das Radio ein, auch wenn ihn nicht interessierte, was dort lief.
Okay, jetzt nochmal. Was war das mit mehr Asche?
Der Haufen, den ihr gesehen habt, waren nur meine Klamotten. Kurz bevor mich dein Blitz getroffen – oder eher gerade so verfehlt – hat, war ich wieder so weit, dass ich einigermaßen klar denken und mich bewegen konnte. Meine Idee war, schnell zur Fledermaus zu werden und oben raus zu fliegen, um hinter Plague herhetzen zu können. Ich war mitten in der Umwandlung, aber ein kleines Teil des Spezialsuits an meinem Bein war noch nicht wieder flexibel und verhakte sich irgendwie, sodass ich weder vor, noch zurück konnte. Dann kam der Blitz, und nur der Berg von Kleidung, unter dem ich begraben war, bewahrte mich davor, ebenfalls ausgelöscht zu werden. Aber ein Teil meines Fußes – so klein er auch war – hat noch etwas von dem Stromstoß abbekommen und eine heftige Verbrennung davongetragen. Das waren die Schmerzen, die du vorhin gespürt hast.
Ach so. Aber warum sind die eigentlich jetzt weg?
Frag mich was Leichteres. Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade nur als Teil von dir existiere.
Okay, das heißt, dass die wiederkommen, wenn ich dich hier rauslasse?
Auch das kann ich dir nicht sagen, antwortete Neumann nachdenklich. Ich hoffe, dass es nicht so ist, aber wissen kann ich’s nicht.
Aber wir können doch nicht ewig so bleiben.
Nee, keine Angst. Ich habe nicht vor, das so zu lassen. Aber das ist nichts, was wir jetzt noch klären können. Etwas anderes können wir allerdings sehr wohl jetzt klären, und du hast jedes Recht darauf, es zu erfahren.
Lucas holte tief Luft und hielt einen Moment lang den Atem an. Jetzt ging es also los. Spontan fragte er sich, ob er denn wirklich wissen wollte, was Neumann ihm zu erzählen hatte. Jedoch dauerte diese Unsicherheit nur wenige Sekunden. Natürlich wollte er wissen, wie sein Mentor – der Mann, von dem er geglaubt hatte, ihn zu kennen – an diesen Irren namens Plague geraten war. Und er wollte eine Erklärung dafür haben, warum dieser zumindest billigend in Kauf genommen hatte, dass Berlin mitten in der Millenniumsfeier in Angst und Chaos versinken würde. Lucas setzte sich auf sein Bett und wartete gespannt auf Neumanns Erklärung.
Na gut, begann dieser. Zuerst einmal musst du mir bitte verraten, wie du überhaupt auf die ganze Sache gekommen bist.
Na, das war damals, als Mandana mich die erste aktive Transmutation hat durchführen lassen. Sie wollte nach nem Ring in Eulenform suchen. Ich wusste nicht, wo sie hingegangen war und habe sie gesucht. Dabei bin ich zufällig zu der kleinen Kammer gekommen, in der du gesessen hast, um mit diesem Plague zu telefonieren.
Was, da hast du’s schon gewusst? Aber wieso ...
Moment, dachte Lucas. Ich hab ja nicht alles mitbekommen. Und deine Stimme habe ich nicht erkannt – sie kam mir nur irgendwie bekannt vor.
Aha. Und wie bist du darauf gekommen, ausgerechnet zu Silvester auf der Siegessäule aufzutauchen? Ich habe doch meine Notizen mitgenommen.
Als du weg warst, bin ich noch einmal zu der Kammer und habe da ein bisschen rumgeschnüffelt. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich auf der Schreibtischunterlage was durchgedrückt hatte. Das habe ich mit einem Bleistift, der da rumlag, einigermaßen sichtbar gemacht. Aber viel mehr, als die Skizze des Großen Sterns konnte ich nicht erkennen. Das war genauso mysteriös, wie dieses Wort.
Wort?
Ja. ‘Weitukäi’. Du glaubst ja nicht, wie lange ich gebraucht habe, um herauszufinden, dass es eigentlich ‘Y2K’ heißt. Später habe ich zufällig einen Nachrichtenbeitrag über die Aufbauarbeiten zur Millenniumsfeier gesehen und dabei die Struktur des Großen Sterns auf deiner Skizze erkannt. Da war mir mehr oder weniger klar, wann und wo da etwas abgehen würde. Doch ich glaube, dass ich letztendlich nichts unternommen hätte, wenn Ines nicht gewesen wäre.
Stimmt. Wo kam die eigentlich her?
Ich weiß auch nicht genau wie, aber sie ist auch in der BAT und hat dich und Plague ebenfalls belauscht, ohne euch erkennen zu können. Da habt ihr euch wohl genauer über das Wann und Wo unterhalten. Sie muss sich dann zu Silvester in der BAT auf die Lauer gelegt haben, ist dabei in den Lieferwagen geklettert und darin eingeschlossen worden.
Ach, deswegen. Du hättest mal mein Gesicht sehen sollen, als Plague sie vor sich her in den Vorraum der Siegessäule geschubst hat. Neumann konnte ein Glucksen nicht verhindern.
Okay, jetzt aber mal Butter bei die Fische. Was war da los?!, platzte Lucas heraus, der die innere Anspannung nicht mehr ertragen konnte.
Ist gut. Aber eins muss ich vorher noch sagen. Ich bewundere deinen Spürsinn und das, was du daraus gemacht hast. Nicht viele Jungen in deinem Alter wären mitten in der Nacht fast allein losgezogen, um sich einem potentiell gefährlichen Gegner entgegenzustellen.
Ach, na ja, dachte Lucas verlegen. Das war doch …
Nein, glaub mir. Das war alles andere, als normal. Ich kann das beurteilen, denn ich bin … verdeckter Ermittler bei der CAT.
What?!, dachte Lucas völlig perplex.
Tja, wieder so‘ne Abkürzung. CAT steht für ‘Control Authority for Transmutators’, also in etwa Kontrolleinrichtung für Transmutatoren. Das ist ne internationale Behörde, die seit ca. zwanzig Jahren dafür sorgt, dass möglichst alle, die die Begabung haben, nicht einfach damit machen können, was sie wollen.
Also ne Art Polizei für Trans …
... mutatoren, jep.
Warum denn nicht Transmutanten?
Wärst du gerne ein Mutant?
Nee, eigentlich nicht, dachte Lucas und musste schmunzeln. Und du bist da‘n verdeckter …
Ermittler. Genau.
Ist das so‘ne Art Geheimagent?
Na ja, ganz ruhig. Brauchst nicht gleich an James Bond zu denken, aber … ja irgendwie schon. Ich wurde vom Hauptquartier in Boston beauftragt, mich bei uns hier in Berlin umzusehen, ob ich Kontakt zu einer Gruppe bekommen kann, die irgendwas Schräges zum Millennium planen sollte.
Blood Pride, entfuhr es Lucas, dem plötzlich das Bild eines Sarges mit blutroten Buchstaben vor dem inneren Auge schwebte.
What the … wo hast du das denn her?!
War nur ne Idee wegen des Telefons.
Jetzt war es an Neumann, verwirrt zu sein.
Ähm, Moment mal. Was für‘n Telefon?
Ich hab deinen Rucksack oben auf der Säule gefunden. Den hattest du da wohl liegen lassen. Mit deinen Sachen drin. Und da hatte Plague anscheinend auch sein Telefon reingepackt. Ich habe das gar nicht richtig mitbekommen, aber als wir mit der tickenden Bombe abgezogen sind, da habe ich ihn auch mitgenommen. Dann, als eigentlich alles vorbei war, gab es plötzlich Probleme mit Ines. Wir sind alle zusammen ins Krankenhaus gerast. Als ich da so auf ner Bank sitze, höre ich mit einem Mal Musik. Erst nach ner Weile checke ich, dass die aus deinem Rucksack kommt. Ich mache ihn auf und finde so‘n Handy, aber eins, das es eigentlich gar nicht geben kann – so mit richtiger Musik und Farbe und zum Aufklappen. Das Ding hört nicht auf, zu klingeln. Also mache ich es auf. Auf dem Display innen ist ein Bild von nem Sarg mit der Aufschrift ‘Blood Pride‘. Dann geh ich dran, und ein Typ fragt Plague, warum irgendwas nicht geklappt hat.
Mit einem Mal war Stille in Lucas‘ Kopf. Er konnte Neumann zwar nicht sehen, aber er wusste, dass dieser noch da war. Und er wusste, dass sich, wenn er ihm in diesem Moment in Fleisch und Blut gegenüberstehen würde, ein breites Lächeln auf dessen Gesicht zeigen würde.
Geil!, war das Erste, was Neumann dann wieder dachte. Du weißt ja gar nicht, wie groß der Dienst ist, den du uns allen in dieser Nacht erwiesen hast. Nicht nur, dass du dieses Tier in die ewigen Jagdgründe geschickt hast. Du hast uns auch noch einen Zugang zu seiner Horde von Freaks besorgt. Zeig mal her. Wo ist denn dieses Handy?
Hier in deinem Rucksack. Lucas griff danach und hob ihn hoch.
Ah, gut. Das ist übrigens der einzige Fehler, den du gemacht hast.
Äh, was?
Das ist Plagues Rucksack, nicht meiner. Anstatt dass er das Handy in meinen Rucksack gepackt hat, habe ich meine Sachen bei ihm verstaut. Ich wollte die beiden Rucksäcke dann irgendwie vertauschen, um an sein Zeug zu kommen. Das habe ich dann zwar nicht mehr geschafft, aber zum Glück hast du den richtigen gegriffen.
Zur Antwort erhielt Neumann nur Schweigen.
Ähm, Lucas?, fragte er nach einer Weile, bekam aber immer noch keine Antwort.
Langsam, aber sicher war der Ältere ernsthaft beunruhigt, fügte sich jedoch notgedrungen in sein momentanes Schicksal. Ohne Körper mit Augen und Händen, die er dazu hätte benutzen können, um Lucas‘ Zustand zu erkunden, blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass dieser sein Schweigen brach.
Der erste Laut, der schließlich über Lucas‘ Lippen kam, war ein Schluchzen.
Junge, alles okay? Was ist mit dir?
Nach einem weiteren Moment erklangen Lucas‘ Gedanken: Alles in Ordnung Ray. Das ist es ja gerade. Es ist wirklich alles in Ordnung. Plague ist weg, Ines ist wieder wach und auch die Bombe hat keinen großen Schaden angerichtet. Mir ist gerade klar geworden, dass die Trauer, die mich seit den Ereignissen auf der Siegessäule von innen zerfressen hat, jeglicher Grundlage entbehrt. Sie hing nur mit der Vermutung zusammen, dass du tot wärst.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus, der in ein übermütiges Gelächter überging. Neumann konnte nicht anders, als in Gedanken mitzulachen.
Wow, Wahnsinn, dachte Lucas, als sein Lachanfall geendet hatte. Ich fühl mich plötzlich, als könnte ich Bäume ausreißen. Jetzt können wir einfach so weitermachen, als ob zu Silvester nichts passiert wäre. Ich muss gleich nach unten und meinen Eltern sagen, dass ich morgen doch in die Schule kann.
Er sprang auf und lief in Richtung Tür.
Stop!, erklang da Neumanns Stimme in seinem Kopf.
Konsterniert blieb Lucas mit einem noch halb erhobenen Fuß stehen.
Was ist denn?
Na überleg mal. Was willst du denen denn erzählen? Dass du dich gerade in deinem Kopf mit dem Neumann unterhalten hast, von dem alle glauben, dass er tot sei? Auf die Art und Weise bekommst du bestimmt noch mehr als einen Tag Pause, und zwar in einer Einrichtung mit gepolsterten Wänden. Außerdem würde ich es ehrlich gesagt bevorzugen, offiziell als tot zu gelten. Das kann mir bei der Infiltrierung von ‘Blood Pride‘ einen Vorteil verschaffen.
Okay, aber wie wollen wir das machen?
Ganz einfach, indem wir nichts machen. Wenn ich nicht in der Schule erscheine, dann werden früher oder später Nachforschungen angestellt. Die werden ergeben, dass ich spurlos verschwunden bin.
Aber verschwunden heißt doch nicht tot, wandte Lucas ein.
Das ist mir, was Schule und BAT angeht, ziemlich egal.
In der BAT auch?, platzte Lucas enttäuscht heraus, da ihm klar wurde, dass so alles anders werden würde. Wer würde dann aber die Kurse geben? Und an wen sollte er sich wenden, wenn er Probleme hätte?
Hey, natürlich in der BAT. Gerade dort. Ich bin immer noch nicht durchgestiegen, wie die Leute da so ticken. Und jetzt überleg mal. Da du ja weiterhin dort bist, kannst du Augen und Ohren offen halten und mir berichten, wenn da was Seltsames vor sich geht.
Du meinst wohl, ich soll eine Art …
Agent für mich sein.
Cool … aber was ist, wenn ich Fragen habe? Und die Kurse – besonders Sport. Die brauchen dich doch. Ich brauche dich doch.
Ist doch kein Problem. Ich bin da für dich. Du kannst jederzeit bei mir auflaufen. Wenn du ne Frage hast, die sich nicht durch die Bibliothek klären lässt, dann stehe ich dir zur Seite – obwohl ich ja auch nicht allwissend bin. Und was Sport angeht; du hast ja gesehen, dass ich ne ganze Menge Platz habe. Da kannst du dich austoben, und ich kann dir noch das eine oder andere beibringen.
Aber wenn die dich doch suchen kommen, dann kannst du da nicht wieder hin.
Oh, keine Sorge. Die Adresse kennt keiner. Offiziell wohne ich in nem Ein-Zimmer-Wohnklo in Köpenick.
Lucas ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen und nickte dann. Als ihm bewusst wurde, dass Neumann es ja nicht sehen konnte, ergänzte er: Alles klar. Und was machen wir jetzt?
Ich schlage vor, wir … ähm du gehst jetzt schlafen.
Zuerst wollte Lucas protestieren, aber da bemerkte er, wie müde er war und so stimmte er zu. Er stand auf und ging ins Bad. Schon während des Zähneputzens fielen ihm die Augen zu. Den Weg zurück in sein Zimmer bewältigte er nur noch im Halbschlaf, der ihn bereits in dem Moment vollends übermannte, als sein Kopf das Kissen berührte.