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Ein Brief von Marietta
ОглавлениеAb und zu kam es vor, dass Kommunikation wie im Mittelalter über Briefe oder, besser gesagt, eine Art Flaschenpost statt fand. In jeder größeren Stadt gab es ein Briefzentrum, wo die wenigen Fremden, die sich auf beschwerliche Reisen gemacht hatten, Nachrichten mitbrachten und hinterließen oder welche mitnahmen. So war auch auf dem Marienplatz in Weilheim eine Ruine, die nachträglich mit einem schiefen Wetterschutz ausgerüstet worden war, als Möglichkeit Nachrichten zu versenden. Jeder, der zufällig in der Nähe war, schaute ab und an dort nach, ob es etwas für sich oder seine Nachbarn dort gebe. Jeder, der auf eine Reise ging, nahm mit, was in seine Richtung wies.
So war ich eines Tages sehr erstaunt, dass mir ein netter Nachbar – eben jener mit dem Traktor-Paco – aus der Stadt einen Brief mitbrachte. Ich öffnete den braunen Pappdeckel: Marietta hatte ihn unterschrieben. Ich setzte mich ans Fenster, da es jetzt allmählich dunkel in der Stube wurde, und während ich im Geiste Mariettas tiefe Stimme zu mir sprechen hörte:
Liebe Mary Lou,
ich hoffe nur, dass Dich mein Brief erreicht. Hier ist alles so anders und doch ähnlich wie bei Euch in Polling. Die Strahlenschäden sind ganz genau-so. Wir haben einen Unterschlupf im Nebengelass einer alten Schule in einem wunder-schönen Tal gefunden, durch das ein Flüsschen mit Namen ‚Orla‘ fließt. Diese ist etwa so tief wie unser Tiefenbach und fließt in Orlamünde in die Saale, so wie unser Bach dann in die Ammer. Die Schule steht auf einer Anhöhe, und man kann von dort über das ganze Tal blicken. Vor der Katastrophe war das einmal ein schönes Anwesen gewesen, und Langenorla war bestimmt nicht weniger verschlafen als unser Polling. Aber die Zerstörungen sind durch einen Bombeneinschlag in Jena ähnlich wie bei Euch um München herum, denn Jena liegt nur etwa 30 km nördlich von uns. Der Weg hierher war in vielen Etappen sehr beschwerlich gewesen. Überall die gleiche Elende, Not und das allgemeine Leiden und Sterben. Die Einschläge in Ingolstadt, Nürnberg und Bamberg mussten wir weiträumig um wandern, weil wir ausdrücklich vor der tödlichen Strahlendosis in diesen Zentren gewarnt wurden. Über den Thüringer Wald war es dann etwas einfacher. Die tiefen Täler schirmen die Strahlung etwas ab. Deshalb haben sich hierher mehr Menschen als anders wohin geflüchtet. Ich glaube, ‚überbevölkert‘ ist inzwischen schon der richtige Ausdruck dafür, und die Kriminalitätsrate übersteigt das eh schon angestiegene Maß um ein Vielfaches. Prompt hat man uns ausgeraubt und entführt. Obwohl sich Hannes tapfer gewehrt hatte, haben sie uns alles abgenommen, was wir noch an Wertvollem besessen hatten. Dann sind wir hier in unserem lieblichen Tal halb verhungert und auch sonst ziemlich abgerissen angekommen. Es ist zwar nahe an Jena, aber eben auch nahe an Rothenstein, wo diese Geburtsklinik liegt, die es doch tatsächlich gibt! Es war also kein Gerücht, sondern eine Tatsache, und ich bin froh, dass wir trotz allen Hindernissen und Entbehrungen hier-her gekommen sind. Die Strapazen sind jetzt schon fast vergessen, denn Hannes kann beim Nachbarn gegen Essen arbeiten, und ich hatte bereits eine erste Untersuchung im ‚Berg‘, wie wir die Klinik nennen. Der Arzt dort war sehr nett und meinte, dass ich bald ein Kind empfangen könne, sobald sie einen freien Platz hätten. Stell Dir vor, ich stehe auf der Warteliste schon auf Platz 49! In den nächsten Monaten wäre ich dann an der Reihe. Ich freue mich schon wahnsinnig, obwohl es mir auch davor graut, neun Monate lang dort in den Katakomben leben zu müssen, ohne Sonne und mit nur wenig Licht. Aber das muss wohl so sein, um den Embryonen genug Schutz vor der Strahlung zu bieten.
Leider hat die Sache noch einen Haken: Hannes kann wohl nicht der Vater sein! Ich wurde belehrt, dass wohl überwiegend alle Männer inzwischen unfruchtbar sind. Nur künstlich befruchtete Embryonen haben überhaupt eine Chance, gesund heran zuwachsen.
Die Ärzte sagen, dass diese eine besondere Strahlenresistenz aufweisen würden und eine natürliche Empfängnis habe nur eine viel zu geringe Chance, ein gesundes Kind zu zeugen. Deshalb verweigern sich die Ärzte, ein solches Risiko einzugehen und sagen, dass es ansonsten Vergeudung von Ressourcen wäre.
Hannes war stinksauer, als er davon hörte. Du weißt ja, dass er schnell jähzornig werden kann, und ich habe ihn mit vielen sanften Tönen davon abhalten können, hier im Berg eine größere Randale zu veranstalten. Jetzt gehe ich vorsichtshalber immer allein dahin und sage ihm auch nicht immer Bescheid. So läuft es – glaube ich zumindest – jetzt am besten.
Ich denke so oft an Dich und daran, was Du für ein Glück hattest, ein gesundes und begabtes Kind zu finden. Dieser Gedanke gibt mir Kraft, denn ich denke, selbst wenn ich jetzt ein Kind gebären sollte, ist es dennoch so ähnlich wie mit Dir und Deinem Golie. Damit habe ich mich abgefunden, und auch Hannes steht letztendlich dahinter. Was soll er auch anderes tun? Das ist wohl die Tragik unserer Zeit. Dass tut schon weh! Aber es ist eben so!
Jetzt habe ich einfach so in den Tag geplappert und weiß gar nicht, ob Dich der Brief erreicht und Du diese Zeilen jemals lesen kannst, ganz zu schweigen davon, ob Du das alles verstehst, was in mir vorgeht. Aber Du bist und bleibst meine beste Freundin, und ich weiß, dass Du mit mir mitfühlst, wenn dich dieser Brief je erreicht. Mit diesem Wissen geht es mir schon besser!
Versuche doch auch, mir zu schreiben. Ich würde gerne mit Dir in Kontakt bleiben, vor allem, wenn ich jetzt so lange im Berg bin!
Außerdem will ich, dass wir uns natürlich auch einmal wiedersehen, egal wo und wann, Hauptsache überhaupt!
Es grüßt und küsst Dich Deine
Marietta
Das Papier am Ende wellte sich an einigen Stellen, als ob jemand Tränen darauf vergossen hätte. Aber das alles lag jetzt auch schon einige Zeit zurück. Mag auch sein, dass der Brief monatelang unterwegs gewesen war und wo anders Nässe abbekommen hatte.
Trotzdem waren auch mir beim Lesen die Augen über gequollen. Ich blieb lange still sitzen. Statt einer Antwort nahm ich nur mein inzwischen großes ‚Baby‘ in die Arme und drückte Golie fest an mich. „Wie schön, dass ich Dich habe“, war alles was ich jetzt noch schluchzend sagen konnte.
Obwohl ich Innerlich völlig aufgewühlt war, setzte ich mich dennoch an meinen Tisch und versuchte eine angemessene Antwort zu formulieren:
Liebe Marietta,
ich habe hier auch niemanden, dem ich meinen Herz ausschütten könnte. Aber ich kann meine angestauten, zwiespältigen Gefühle nicht mehr zurückhalten!
Du wirst nicht glauben, was in diesem kleinen Polling vor sich geht!
Ein Fremder kam, um Steffens Orgel zu spielen, und ich habe Angst, mich ihm völlig auszuliefern! Du kennst mich in unserer gemeinsamen Zeit als selbstbestimmte starke Frau. Aber das ist weg! Ich bin jetzt seine Sklavin! Es ist mir unmöglich, unabhängig und frei zu denken. Ich bin total zerrissen zwischen dem Mutter-Sein und der Rolle, seine liebende Frau, ja sogar seine Sklavin zu werden.
Wo ist mein Ausweg?
Stell dir vor, er spielte auf der Orgel und ich trat für ihn den Blasebalg, nackt, gefesselt, mit verbundenen Augen.
Er spielt Chopin und ich spürte, nicht mehr auf der Erde zu sein. Ich vergaß alles, Golie, die Katastrophe und in Gedanken sah ich nur ihn, ob-wohl ich im Orgelkasten weit weg war.
Zuvor neckte ich ihn und spielte die Unerreichbare. Er hat mich dann brutal mit seiner Reitpeitsche gezwungen, die er immer mit sich herum trägt. Aber vor allem mit seinen Augen, die wirkungsvoller als seine Gerte waren, hat er mich regelrecht nieder gerungen, willenlos werden lassen, so das ich mich vor ihm nackt auszog. In der Kälte genoss ich auch noch das Brennen auf meiner bloßen Haut! Er fesselte mich, verband mir die Augen und dann nach einer unendlich langen Zeit, hörte ich plötzlich seine Musik…
Sie untermalte diese schönen Schmerzen von ihm!
Ich weiß, ich bin verrückt! ...
Ich konnte nicht weiter schreiben. Meine Beschreibung des intensivsten Moments in meinem ganzen Leben hatte mich noch einmal überwältigt.
Ich zerknüllte das Papier und warf es in meinen Ofen.