Читать книгу Kann Mahler Monroe lieben? - C.-A. Rebaf - Страница 8
Der rote Paco-Paco
ОглавлениеEs war schon beinahe dunkel und ich konnte fast nichts mehr erkennen, als ich leichtfüßig durch das ehemalige Klosterdorf schritt. In den Ruinen des Klosterhofes erkannte ich dennoch den roten Paco mit der erlöschenden Glut unter dem Holzvergaser. War der Fremde etwa hier geblieben? Irgendwie hatte ich plötzlich Angst, und meine Genugtuung über den guten Handel mit Herrn Mayr war fast vergessen.
Zu Hause angekommen, wartete Golie schon auf mich. Er hatte den Abendbrottisch gedeckt und lachte, als er mich sah. Wir aßen zusammen, und ich brachte ihn anschließend ins Bett. Draußen war es bereits dunkel geworden. Ich legte in unserer Wohnküche noch einmal Holz in den Herd und schaute durch die Herdritzen verträumt in die Glut.
Ich hatte Gottlieb, wie er eigentlich hieß, als kleines Findelkind in München gefunden gehabt. Er hatte nur ein Schild um den Hals mit der Aufschrift getragen: ‚Ich heiße Gottlieb, erbarmt Euch meiner!‘ So etwas war seit der Katastrophe an der Tagesordnung. Seine Eltern waren wohl an den Spätfolgen gestorben. Da ganze Familien ausgelöscht wurden, gab es immer wieder den Fall, dass eine Hilfe innerhalb der gewohnten Umgebung nicht mehr möglich war, und so wurden Kinder von ihren sterbenden Eltern einfach ausgesetzt. Was sollten sie auch unternehmen in einer Situation, in der jegliche medizinische Versorgung völlig zusammen-gebrochen war?
Er war ein putziges Kleinkind mit hellbraunen Haaren und einem ewigen Lächeln auf den Lippen gewesen. Ich fühlte mich selbst gerade sehr verloren und hilflos. Eine spontane Zuneigung entstand. Ich beschloss, der Aufforderung auf dem Schild Folge zu leisten und mich seiner zu erbarmen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und ich habe es nie bereut, ihn mit zu meiner kleinen Wohnung genommen zu haben.
Anfangs war es für mich sehr ungewohnt, aber mit der Zeit wuchs ich schnell in meine Rolle als Mutter hinein, zumal ich mich mit meinem alten, dreirädrigen Kinderwagen nahtlos in das Stadtbild einfügte, den ich dank meiner guten Verhandlungskünste auf dem Markt hatte ergattern können.
Irgendwann beschloss ich dann, die Stadt zu verlassen und hinaus aufs Land zu ziehen. Eine gute Bekannte schwärmte mir von einem alten Roman vor und wollte mich begleiten. Bücher waren sehr, sehr rar, und nur solche, die die Brände der Katastrophe überstanden hatten, wurden auf den Märkten angeboten.
In ihrem zerfledderten Buch, der Autor war wohl ein gewisser Thomas Mann gewesen und der Titel nicht mehr entzifferbar, las sie von einem Ort mit Namen Pfeiffering südlich von München, der in den schönsten Farben geschildert wurde. Jemand hatte in der alten rororo-Taschenbuchausgabe meiner Freundin mit blauem Kugelschreiber an den Rand die Bemerkung:
Pfeiffering = Polling? und Waldshut = Weilheim?
geschrieben. Im Buch wurde des öfteren der Name ‚Doktor Faustus‘ erwähnt.
Irgendwann beschlossen wir, der Sache auf den Grund zu gehen und uns diese Gegend einmal anzusehen, wo die Orte sowohl einen realen als auch einen literarischen Namen trugen. Wir marschierten in einer schönen Sommerwoche immer an den zerstörten Gleisen der alten Eisenbahnstrecke nach Garmisch entlang und gelangten tatsächlich dorthin. Es war gefährlich, aber wir waren jung, unvernünftig und setzten uns der Strahlung aus. Am Abend schliefen wir in Kellern. Der See, den wir in Starnberg erreichten, lockte uns zwar sehr zu einem Bade, aber dieses Strahlenrisiko wollten wir dann doch nicht auf uns nehmen, und so genossen wir die Aussicht auf das Wasser mit den weißen Berggipfeln der Alpen im Hintergrund und marschierten am Ufer weiter. Meine Freundin hatte alle Stellen, die für unseren Ausflug touristisch wichtig waren, unter-strichen und missbrauchte diesen Roman über einen avantgardistischen Komponisten, mit Namen Adrian Leverkühn, als Reiseführer à la Baedecker.
Schließlich kamen wir in Weilheim an und sahen zu unserer Enttäuschung das Gleiche, was wir von überall her kannten: Ruinen, verbrannte Kultur und wenige Menschen, die, wie verscheuchte Ratten dort hausten und von einem Loch ins nächste huschten. Es war so trostlos, dass wir schnell an einem Flüsschen weiter nach Süden marschierten, dieses dann verließen und uns an einem kleinen Bach orientierten, um immer weiter in Richtung Berge zu gelangen. Bald darauf erreichten wir eine riesige Ruinenanlage, die wohl das alte Kloster gewesen sein musste. Ein herausragender, höherer Schutthaufen, den wir die ganze Zeit schon von Weitem gesehen hatten, musste wohl der alte Turm gewesen sein. Die alte Barockfassade mit dem runden Rosettenfenster, das völlig zerbrochen war und uns wie das Auge Polyphems anstarrte, war überraschenderweise noch erhalten. Zum ehemaligen Kirchenschiff hin überspannte ein Balken mit ein Zeltdach einen weiten Raum.
Spielte da jemand Orgel? Sollte diese etwa noch intakt sein? Wir standen gleichsam angewurzelt, und der kleine Golie, den ich über die weite Strecke auf meinem Rücken getragen hatte, vollführte dort einen merkwürdigen Tanz, als ob die Musik in ihm etwas ganz Besonderes entfachte. So konnte ich ihn nicht mehr lange halten und ließ ihn auf den Boden gleiten. Sofort robbte er auf dem Rücken dem schmalen, freigelegten Eingang zu, aus dem die Musik heraus schallte.
Meine Freundin und ich verstanden gar nichts mehr.
Im Inneren unter dem provisorischen Zeltdach blieb er erstarrt liegen, lauschte und war von uns nicht mehr von der Stelle zu bewegen, bis die Musik abbrach und der Organist, ein Mann um die vierzig, dem nur wenige blonde Haare um eine Halbglatze wehten, über eine Holzleiter vom Rest der Orgelempore kletterte. Hinter ihm folgte ein Junge, der – wie von ihm befreit – davon rannte.
Der einmal wohl recht stattliche Blonde sprach uns freundlich an, schließlich verirrten sich selten Fremde hierher. Seine netten Worte taten uns zusammen mit der schönen Musik zuvor gut, munterten uns wieder auf und hoben unsere Stimmung. Ja, Golie flippte ganz und gar aus, fuchtelte mit den Armen wie ein drolliger kleiner Tanzbär, sodass der Blonde mit uns in schallendes Gelächter verfiel.
Er war bester Laune. Ich hatte ihn so noch nie erlebt. Trotz seines zarten Alters zeigte er mir mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, dass es ihm hier gut ging und dass er gerne bleiben wollte.
Wir sahen uns dann im Dorf um, fanden wenige Menschen und viele zum Teil gut erhaltene und leere Wohnräume, die mir erheblich besser gefielen als meine Unterkunft in München zuvor. In mir reifte der Entschluss, hier zu bleiben, was meine Freundin nicht verstand. Ich hatte sowieso alles, was mir wirklich wertvoll war, dabei und quartierte mich im ehemaligen Klosterdorf ein. In den nächsten Tagen half mir der Organist, der mir durchaus nicht unsympathisch war, führte uns beide bei den wenigen Menschen im Dorf ein. Golies sonniges Wesen half dabei sehr. Sie alle waren sehr freundlich und empfahlen mir sogar eine besondere Ruine, die an ein großes Feld angrenzte, auf dem man gut Ackerbau betreiben könne, um das Leben zu fristen. Ich nahm den Rat an, und so waren wir hier im Gut Schweigestill bei Pfeiffering gelandet, wie es im Roman meiner Freundin genannt wurde. Das lag jetzt schon einige Zeit zurück.
Hatte ich das alles geträumt? War ich in der Stube eingeschlafen? Meine Glieder waren ganz steif, und ich legte mich nach nebenan zu Golie ins Bett unseres Schlafzimmers. Mehr als die beiden Räume bewohnten wir nicht. Meistens waren wir draußen, wenn das Wetter es einiger-maßen zuließ. Es mochte zwar gefährlich sein, aber wir beide schienen ausreichenden Resistenzschutz gegenüber der Strahlung zu besitzen, da wir jetzt schon gut vier Jahre so lebten und uns glänzender Gesundheit erfreuten.
Am nächsten Morgen erwachte ich und war ganz benommen. Ich hatte einem Traum, einer der-jenigen, die so realistisch abzulaufen pflegten, dass ich nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Daher benötigte ich einige Zeit, um meine Gedanken zu sortieren:
Mein Vater hatte die Hauptrolle in meinem nächtlichen Schauspiel gespielt und erzählte mir als kleinem Mädchen von einem Musiklehrer. Dieser sei von seinem Lieblingskomponisten so besessen gewesen, dass er sein Äußeres verändert habe, um diesem ganz ähnlich zu sein: Er habe eine Brille getragen, obwohl er eigentlich keine benötigt hätte, und sich sein Haar mit leichten Grausträhnen versehen lassen und streng nach hinten gekämmt, sodass seine hohe Stirn sein Gesicht betont habe und er somit einer der wenigen Fotografien seines Idols doch sehr nahe gekommen sei. Dann wurde die Geschichte dramatisch, denn der Lehrer und mein Vater als dessen junger Schüler hätten um die Gunst derselben Frau gebuhlt, einer Klassenkameradin meines Vaters. Der Lehrer und der Mitschüler, beide hatten sich unsterblich verliebt. Das begehrte Mädchen war dann nach dem Abitur vor beiden in eine weit entfernte Wüste geflohen. Schon damals lange vor der Katastrophe standen dort überall Schilder mit dem Radioaktivitätssymbol. Es war ein Ort, der besser nie gegründet worden wäre, denn er war der eigentliche Grund aller unserer heutigen Missstände: Los Alamos.
An dieser Stelle riss der Traum ab.
Hatte mir mein Vater nicht einmal unter Tränen erzählt, dass er die erste Liebe seines Lebens tragisch verloren habe?
So sehr ich mir auch Mühe gab, ich konnte mich nicht an den Namen erinnern, weder an den des imitierenden Lehrers, noch an den des Komponisten. Lediglich das war mir jetzt klar: Die Person, die mein Vater geschildert hatte, erinnerte mich an den fremden Reisenden im roten Paco gestern. Kam er mir von daher bekannt vor?
Golie schlug die Augen auf und rutschte unter meine Decke zu unserem morgendlichen Kuschelritual. Wir löffelten, und er fragte mich begeistert, ob er heute wieder zum Organisten gehen dürfe. Seit einiger Zeit verbrachte der Vierjährige viel Zeit mit dem freundlich, ruhigen Mann. Mit Steffen, so hieß er, hatten wir uns beide angefreundet. Ich setzte volles Vertrauen in ihn, da er mir ja auch nicht unsympathisch war. Allerdings hatte er alle meine schüchternen Annäherungsversuche abgeblockt. Er schien mir nur mit der Musik oder besser mit seiner Orgel liiert zu sein, oder besser mit dem, was davon noch übrig war.
Da es seit der Katastrophe keine Elektrizitätsversorgung mehr gab, brauchte Steffen immer einen Helfer, der den riesigen Orgelbalg treten konnte. Er hatte mir auch voller Stolz berichtet, dass er in mühsamer Kleinarbeit alle elektrischen Mechanismen zur Steuerung der Register wieder in eine ursprüngliche Mechanik zurück gebaut habe. Nur deswegen funktionierte das königliche Instrument wieder.
Es vergingen Jahre, in denen ich lernte, immer schönere Kartoffeln anzubauen, um sie Herrn Mayr für Tauschgeschäfte anbieten zu können. Steffen hatte hingegen Golie beigebracht, den Balg zu treten, was dem kleinen Knirps anfänglich sichtlich schwergefallen war, aber jetzt schien es gut zu klappen, denn er pustete fast täglich stundenlang die Luft in die Pfeifen. Was hatte der Junge bloß für Gene, dass er so ausdauernd war? Oder war es Steffen, der ihn anspornte? Suchte er einen Ersatzvater? War es lediglich die Musik?
Mir jedenfalls war es recht, denn Kindergärten gab es ohnehin nicht mehr, und ich hatte so genügend Zeit, mich um meine Land- und die kleine Hauswirtschaft zu kümmern. Dies war am Anfang beschwerlich genug, als ich mir Rat und Tat sowie notwendiges Saatgut und Gerätschaften von den Nachbarn holen bzw. ausleihen musste. Aber dank Herrn Mayr und unser beider Verhandlungsgeschick hatte ich jetzt alles zur Hand, was ich benötigte; und unser Mann mit dem Paco im Dorf, sozusagen der designierte Dorf-Chef, pflügte mir im Frühjahr sogar mein Feld, was mir das Leben sehr erleichterte. Wir waren inzwischen sogar soweit, dass wir für unsere Milchversorgung eine eigene Ziege, unsere Selma, hatten, die nachts im Stall und am Tage in den Gräben und Hecken um unser Dorf herum graste.
Golie und ich erwachten und ich bereitete unser Frühstück, das aus Getreidebrei und -kaffee jeweils aus eigenem Anbau mit Ziegenmilch und Quark bestand. Golie plapperte lustig auf mich ein und zeigte mir eines Tages eine Notenzeile, auf die er eine Melodie gekritzelt hatte. Ich war ziemlich erstaunt, und er erläuterte mir dazu, dass Steffen dies gestern auf der Orgel gespielt habe. Ich konnte zwar die Noten lesen, das hatte mir mein Vater noch beigebracht, ich konnte aber nicht perfekt vom Blatt singen, sodass ich nur im Ansatz erkennen konnte, dass dies wohl eine d-Moll-Melodie war, er hatte genau ein ‚b‘ am Anfang notiert.
„Hast du das alles alleine geschrieben?“, fragte ich ungläubig. „Das glaube ich nicht! Der Steffen hat dir geholfen, oder er hat es dir aufgeschrieben.“
„Aber Mama, ich belüge dich doch nicht!“, gab er beleidigt zurück.
Ich überlegte. In der Tat musste ich in diesem Punkt Golie recht geben; er war immer sehr darauf bedacht, ehrlich und aufrichtig zu sein.
Mir fiel plötzlich ein, dass mir Steffen letztes Frühjahr eine Weidenflöte geschenkt hatte, die ich achtlos im Schrank aufbewahrte. Ich kramte sie hervor. Golie machte große Augen!
„Aber Mama, kannst du Flöte spielen?“ fragte er mich aufgeregt.
„Nur ein wenig“, antwortete ich. „Mein Papa hatte es mir einmal gezeigt, aber ich war damals noch sehr klein gewesen.“
„Wie alt warst du da?“, fragte er interessiert.
„Na, so vier etwa. Ha! genauso alt wie du jetzt! So ein Zufall!“, erwiderte ich und war selbst überrascht. „Lass mal sehen, ob ich das noch hinbekomme.“
Ich versuchte es, aber schon am Anfang mit dem Pralltriller auf dem ‚a‘ scheiterte ich, bei der folgenden schnell abfallenden d-Moll-Sequenz versagten meine Finger.
„Aber Mama, du kannst doch bei Steffen vielleicht fragen… Er kann Flöte spielen… und bringt es dir sicher bei“, rief er begeistert aus und schüttete beinahe seine Milch aus.
„Aber ich habe doch gar keine Zeit dafür! Ich muss doch das Feld bestellen!“, entgegnete ich ihm halbherzig.
„Schade.“ Er war sehr enttäuscht!
„Aber weißt du was? Wenn du so schöne Noten schreiben kannst, warum willst du es nicht selbst lernen? Ich schenke dir die Flöte! Steffen wird das schon verstehen!“
Golie blieb der Mund offen stehen vor freudigem Schreck.
„Du… Du schenkst mir deine Flöte? Im Ernst?“ Dann sprang er vom Stuhl, kletterte auf meinen Schoß und umarmte mich herzlich. Ich war überrascht von seiner heftigen Reaktion. Er nahm die Flöte, und ich zeigte ihm, dass der tiefste Ton dann herauskam, wenn man mit den Fingern alle Löcher zuhielt. Auch er brachte dies nach einigem Probieren zustande. Dann verzog er sich nach draußen.
Ich räumte den Frühstückstisch ab und freute mich sehr, ihm eine so große Freude gemacht zu haben. Nach einer Weile, ich wollte gerade die Harke holen, um die letzten Kartoffeln zu ernten, tauchte Steffen mit dem Fremden von gestern auf.
„Hallo, Mary Lou!“, begrüßt er mich. „Wo ist Golie?“
Ich tat etwas befremdlich wegen seiner Unhöflichkeit, mir nicht den Fremden vorzustellen, was er tatsächlich auch dann sofort bemerkte. Steffen war manchmal etwas ungehobelt, aber glich es dann immer wieder mit spontaner Herzlichkeit aus.
„Ach ja, das ist Mr Grinder. Er kam gestern Abend mit seinem Fahrer in dem roten Paco. Er ist ein junger Musiker und hatte gehört, dass hier bei uns noch eine Orgel funktioniert. Wir wollten jetzt zusammen spielen und wollten Golie bitten, den Blasebalg zu treten. Wo ist er?“
Steffen war wieder einmal viel zu schnell, aber auch Mr Grinder war ebenso wenig feinfühlig.
Nachdem er mich wiedererkannt hatte, schlug der graue Fremde sich mit seinem Reitstock in die andere Hand und warf mir einen tiefen Blick in die Augen zu, ohne ein Wort zu sagen. War das sein spezielles ‚Accessoire‘? Trug er diesen Stock immer? War das eine Geste der Verlegenheit, der Dominanz, einer Zuneigung?
Ich fühlte mich plötzlich unterlegen, wie eine echte, unterwürfige Frau, die gerade dabei war, in eine unglückliche Liebe mit einem unbekannten Mann zu verfallen. Mein Gefühl war nicht negativ. Die Aura des Fremden kehrte es ins Positive um und sogar weit mehr, ich fühlte mich erstaunlich gut dabei. Allerdings brauchte ich etwas Zeit, um mir Klarheit darüber zu schaffen.
„Ich habe Golie heute morgen die Flöte gegeben, die du mir letztes Frühjahr geschenkt hattest, Steffen. Ich hoffe, das ist okay für dich. Jetzt ist er damit allerdings auf und davon. Ich weiß nicht, wo er steckt.“ Und mit einem stolzen Hinweis auf das Papier mit der Notenzeile ergänzte ich: „Das hat er mir heute gezeigt und behauptet, er habe das geschrieben.“
Der Fremde warf einen flüchtigen Blick darauf und krächzte mit einer rauen Stimme: „Das ist von Bach, das Thema der d-Moll-Toccata.“
„…die hatte ich gestern auf der Orgel geübt“, räumte Steffen schnell ein. „Sollte der Bengel das Notensystem so schnell begriffen haben? Er hatte mir Löcher in den Bauch gefragt, die ganze Zeit schon, wegen der fünf Linien und der Punkte mit Fähnchen daran. Das wäre ja phänomenal!“
„Ein zweiter Mozart“, schnarrte Mr Grinder lachend hinterher.
Warum Steffen mir den Fremden als „Mr Grinder“ vorstellte war mir unklar. Stammte der Fremde etwa aus England oder gar aus den USA? Wie war sein Vorname? Ich wollte jetzt nicht neugierig, danach fragen. Nicht jetzt...
Plötzlich sah Grinder mein Poster mit dem vollbusigen Blondschopf. Er war fasziniert, konnte seine Augen nicht abwenden, und blieb an dem Plakat kleben, wie eine Fliege an einer Leimrute. Ich sah, dass er den Namen der Unterschrift las.
Es war wie eine Liebe auf den ersten Blick! Ich war so eifersüchtig! Ich hasste sie!
Dennoch bemühte ich mich, zunächst ganz ruhig zu bleiben und machte einige Bemerkungen über das Wetter.
Die beiden Männer verabschiedeten sich und verließen meine Wohnung. Als ich sah, wie sie um die Ecke bogen, ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf und schrie gegen das Plakat: "Du Schlampe, du Fotze!" und noch ein paar weitere hässliche Worte.
Schließlich riss ich das Plakat von der Wand und verbrannte es in meinem Ofen.