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Wien, St. Marx

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Herbert Gerstenmayer war sauer. Er war heute besonders früh aufgestanden, um zu der für 8.00 Uhr angesetzte Besprechung mit seinem Chef rechtzeitig im Laborbunker zu sein. Es war ein weiter Weg dorthin vom siebten Bezirk, wo er in der Myrthengasse in einer alten Hausruine wohnte. Da es nach der Katastrophe auch hier in der österreichischen Hauptstadt keinen Nah-verkehr mehr gab, war es jeden Morgen mühsam, zu Fuß zum Ring zu laufen und sich dann in Richtung Rennweg durch die Ruinen diese seltsame Abkürzung zu nehmen. Aber er hatte es heute rechtzeitig geschafft, und nun war es der Boss, der fehlte! Seine Assistentin Christiane war von diesen Besprechungen befreit, in denen alle vierzehn Tage die neuen Projektschritte festgelegt wurden. Herbert musste diese dann in konkrete Tagesarbeitseinheiten für sie umsetzen.

Es war gespenstisch in dem menschenleeren molekularbiologischen Labor tief unter der Erde, das noch kurz vor der Katastrophe in einen zehn Stockwerk tiefen, atombombensicheren Bunker umgezogen war. Die oberirdischen Neubauten des alten Biozentrums hatten es nicht überstanden und waren völlig zusammen-gestürzt. Aber der Wissenschaftsbetrieb unter der Erde, der noch kurz vorher durch enge Zusammenarbeit der Universität Wien mit einigen amerikanischen Großinvestoren große Fortschritte erzielt hatte, konnte auch nach der Katastrophe aufrechterhalten werden. Die Investoren sahen eine besonders strategische Lage der alten k. u. k. Hauptstadt als Tor zu Osteuropa und pumpten deswegen Milliarden von Dollars in ethisch nicht unumstrittene Klonierungsprojekte. Zum Schutz vor dem Widerstand von Gruppen wie Greenpeace, die militant-aggressiv ganze Forschungseinrichtungen lahmlegten, entschloss man sich deswegen, die Forschung nach unten, in die Erde, in einen Bunker, zu verlegen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit heimlich weiterzuarbeiten, während in dem überirdischen Biozentrum zur Tarnung auf harmlose, ja sogar von allen Umweltschutzgruppen geförderte grüne Biotechnologie umgestellt wurde. Diese Art von Geheimhaltung funktionierte vorzüglich.

Niemand hatte damals ahnen können, dass die Atomforschung einiger Schwellenstaaten schon so weit fortgeschritten gewesen war, dass es dann zu einer solchen Katastrophe kommen konnte. Aber auf diese Weise hatte die Biotechnologie in Wien überlebt, und die Forschung hatte auch danach weiter floriert.

Unwirsch holte Herbert sein Laborbuch hervor und schaute sich seine neuesten Ergebnisse an, die er in seiner exakten Naturwissenschaftlerschrift aufgezeichnet hatte. Früher hatte er alles mit dem Computer geschrieben, aber heute war eh die wertvoll gewordene Rechnerkapazität streng reglementiert. Das schwache elektrische Licht, das das Labor beleuchtete, war schon Luxus genug in diesen Zeiten danach. Nur dem außerordentlichen Engagement Prof. Baums, Herberts Chef, war es zu verdanken, dass das Notstromaggregat mit mehreren Holzvergasern gekoppelt wurde und so die notwendige Energie für den Betrieb der Rechner und der Laborgeräte im Bunker erzeugt werden konnte. Eine ganze Mannschaft von Heizern arbeitete dort, um Holz in die Öfen zu schaufeln. Dennoch hatte gerade in der Übergangszeit ein großer Engpass geherrscht, und einige Projekte hatten eingestellt werden müssen.

„Warum kommt der Alte heute nicht?“, fragte sich Herbert, als frisch mit einem Lied auf den Lippen Christiane, seine Assistentin, ins Labor rauschte. Es war bereits 9.30 Uhr, und sie wunderte sich, dass Herbert nicht – wie immer am Montag – mit dem Alten die Köpfe zusam-mensteckte .

„Was ist los?“, fragte sie überrascht und band ihre brünette Lockenpracht mit einem Haargummi zusammen, den sie zwischen den Zähnen hielt, weshalb die Worte etwas zerquetscht und verzerrt aus ihrem rot geschminkten Mund herauskamen und Herbert sie nicht verstand.

„Was meintest du?“, fragte er nach.

„Wo ist der Alte heute?“, formuliert sie erneut und zog ihren sauberen gelben Laborkittel an.

„Keine Ahnung“, erwiderte Herbert. „Ich bin stinksauer, weil ich heute ausnahmsweise einmal pünktlich war. Ausgerechnet jetzt scheint sich der Alte zu verspäten.“

„Verspäten?“, spottete sie. „Wann wart ihr denn verabredet?“

„Um 8.00 Uhr, wie immer“, antwortete Herbert, und aus seiner Antwort klang schon leichte Besorgnis.

„Dann ist das keine Verspätung mehr“, schob sie nach.

„Ich weiß, aber was sollen wir machen?“

„Früher konnte man in diesen Fällen anrufen, mit einem Handy sogar! Aber heute besteht das Leben nur noch aus ‚Warten‘ und ‚Rennen‘“, versuchte sie einen Scherz.

„Na, vom ‚Warten‘ habe ich jetzt genug, ich werde mich dann also aufs ‚Rennen‘ stürzen.“, konterte er.

„Weißt du denn, wo der Alte wohnt?“

„Nicht genau, aber irgendwo draußen in Richtung zur Donauinsel, glaube ich. Vielleicht sollten wir doch noch warten. Er ist doch immer so zuverlässig und wird sicher gleich aufkreuzen.“

„Du kannst mir gerne beim Füttern der neuen Stammzellen helfen. Letzte Woche habt ihr mir ja einen riesigen Versuchsansatz aufgebrummt, den schaffe ich fast nicht; und wenn ich die Zellen nicht rechtzeitig verdünne, gehen sie hops, das weißt du auch. Was habt ihr denn wieder für tolle Genome ausgegraben, dass wir gleich so viele Zellen brauchen?“

„Du weißt, das sagt mir der Alte auch nicht! Aber bevor ich nach ihm schaue, helfe ich dir besser. Vielleicht kommt er ja dann auch.“

Herbert zog sich seinen gelben Kittel an und warf die beiden Sterilbänke an. Das sind Tische mit einem vorne offenen Plastikkastenaufsatz, bei denen ständig von hinten sterile Luft geblasen wird. Für das Züchten von Zellen in sterilen Kulturgefäßen sind diese Geräte, auch ‚Flows' im Laborchargon genannt, zwingend notwendig, damit die Zellkultur beim Öffnen der Gefäße nicht durch die vielen kleinen Lebewesen die immer in der Luft herumschwirren, in die Gefäße gelangen können. Die Sterilität der Tische müssen regelmäßig mit einem Wischtest über-prüft werden, den Gerstenmayer gerade durchführte, um die hoffentlich nicht vorhandene Verkeimung zu messen, während Christiane aus den Brutschränken die Behälter mit den embryonalen Stammzellen auf einen wärme isolierten Wagen stellte und auf die beiden Flows zu schob. Herbert holte die Flaschen mit den frischen Nährmedien, und beide Wissenschaftler begannen mit der Arbeit. Es war schon erstaunlich, dass eine solche Forschung ‚danach‘ – also nach der Katastrophe – noch möglich war. Leider kam es oft zu Engpässen bei Reagenzien oder Verbrauchsartikeln, und alle mussten improvisieren. Aber unter dem Strich waren sie wohl recht erfolgreich, inzwischen auch unter kommerziellen Aspekten.

Die alten Investoren, hätten sie die Katastrophe überlebt, hätten sich vor Freude die Hände gerieben und an der Börse, die nicht mehr existierte, sicher riesige Gewinne eingefahren. Nur dunkel erahnten die beiden, was ihr Boss mit den befruchteten Humanzellen in Zeiten an-stellte, da Kinder wirklich nicht mehr natürlich geboren werden konnten. Jeder Fachmann wusste, als wie heikel der menschliche Zeugungsakt unter rein biochemischen Aspekten einzustufen war und wie empfindlich er auf Radioaktivität reagierte, von zwischen-menschlichen Komplikationen einmal ganz abgesehen. Fast täglich wurden die fertigen Zellen abgeholt und mit einem Spezial-Paco weggefahren. Der hatte sogar eine Art Tiefkühltruhe auf der Ladefläche, um die Zellen möglichst lange zu erhalten.

Gegen Mittag – sie waren gerade fertig mit dem Füttern der Zellen – kam ein Anruf über das hauseigene Telefonnetz, das auch noch funktionierte. Christiane und Herbert dachten erst, jetzt melde sich der Alte zurück, aber er war es nicht, sondern einer der Pförtner, der Herbert darüber informierte, dass ein unbekannter Herr den Prof. Baum sprechen wolle.

„Prof. Baum ist nicht hier. Wir vermissen ihn. Er wollte schon gegen 8.00 Uhr heute Morgen dabei sein, aber war hier nicht da. Das ist sehr ungewöhnlich! Was will der Herr von ihm?“

„Das sagt er mir nicht. Vielleicht kommen Sie besser zu mir und reden selbst mit dem Fremden.“, antwortete der Pförtner.

„Ich gehe schnell an die Pforte Christiane,“ meldete Herbert sich bei ihr ab, zog den Kittel aus und ging zum Treppenhaus, nicht ohne sich noch einmal heimlich Christiane genau anzuschauen. Denn ihm gefiel, was er an ihr sah: ihr vollschlanker, fast barocker Körper und ihre vollen Brüste, die sich auch im taillierten, hochgeschlossenen Laborkittel deutlich abzeichneten. Er konnte es sich nicht rational eingestehen, was er für seine Kollegin empfand, aber im Bauch registrierte er oft Schmetterlinge bei ihrem Anblick, und dieses Anzeichen waren eigentlich eine klare Äußerung seines Unterbewusstseins, die er auch deswegen ignorierte, weil er nicht das Gefühl hatte, bei der Kollegin wirklich landen zu können.

Sie war, ungeachtet dessen, vor allem in letzter Zeit etwas abweisend und roch zuweilen seltsam ‚fischig‘, wenn sie am Morgen heran rauschte und sie sich beim gemeinsamen Tragen der schweren Behälter sehr nahe kamen. Er hatte dann immer die Fantasie, dass sie morgens keine Zeit zum Duschen hatte oder diesen Geruch als Erinnerung an die vergangene Nacht nicht verlieren wollte. Eigentlich wusste er gar nichts von ihr, außer dass sie eine zuverlässige und kreative Mitarbeiterin war. So malte er sich ihr aufregendes Privatleben mit den wildesten Orgien in ihrer Freizeit aus und ließ sich selbst in seiner Phantasie daran teilhaben. So sind sie eben die Männer!

Oben angelangt, stand ein Mann in einem dunklen, langen Ledermantel und schwarzem Hut im Eingang und schlenderte angespannt auf und ab. Gerstenmayer sprach ihn an, aber der Fremde verhielt sich äußerst distanziert und fast schon unhöflich. Seinen Namen nannte er nicht und wollte sofort den Professor sprechen. Es sei sehr wichtig, ja sogar lebenswichtig, drängelte er ungehalten. Er sprach mit britischem Akzent. Als Gerstenmayer ihm zu verdeutlichen versuchte, dass der Chef heute noch nicht im Labor erschienen sei, ja sogar einen vereinbarten Termin habe sausen lassen, wurde der Fremde kreidebleich und versuchte jetzt schnell, Gerstenmayer loszuwerden, um abzuhauen.

„Wenn er auftaucht, versuchen Sie mich bitte so schnell wie möglich zu benachrichtigen. Geben Sie bitte in der Kneipe Café Servus gegenüber dem Haydn-Denkmal nahe der ehemaligen Maria-Hilf-Kirche Bescheid, und sagen Sie lediglich, dass Sie eine Nachricht hätten, und geben an, wo der Prof. zu treffen sei.“ Dann schlug er den Mantel vorne zusammen und ließ Gerstenmayer wie einen begossenen Pudel stehen.

„Unfreundlicher Zeitgenosse“, knurrte dieser. Anstatt wieder hinunter ins Labor zu gehen, bat er den Pförtner um das Telefon und informierte Christiane, dass er jetzt in die Stadt gehen und nach Baum schauen wolle. Allmählich machte er sich Sorgen. Es gab eigentlich nur eine Erklärung, die das Verhalten seines Chefs erklärte, außer derjenigen, die Katastrophe hätte schon wieder ein Spätopfer gefordert. Er aber wollte sicher-gehen und begab sich auf den Weg zu Baums Wohnung in der Nähe der ehemaligen UNO-City.

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