Читать книгу Theorie U - Von der Zukunft her führen - C. Otto Scharmer - Страница 16
Beobachtung 1: Der Aufstieg von Achtsamkeit und Spiritualität
ОглавлениеDie erste Beobachtung betrifft den Aufstieg der Achtsamkeit. Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte hat die Achtsamkeit, die vorher eine eher marginale Rolle spielte, in vier professionellen Anwendungsbereichen eine ziemlich zentrale Bedeutung gewonnen:
•Kognitionswissenschaft: Die Entdeckung der Gehirnplastizität hat dazu geführt, dass sich das Forschungsinteresse in Neurowissenschaft und Neurophänomenologie häufiger auf das Thema Achtsamkeit konzentriert. Beispielhaft hierfür sind die bahnbrechenden Arbeiten von Tanja Singer zum Mitgefühl oder von Richard Davidson zur Neuroplastizität.
•Gesundheit: Der von Jon Kabat-Zinn und seinen Mitarbeitern entwickelte Ansatz der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR, Mindfulness-Based Stress Reduction) bietet wirksame Hilfe für Menschen, die unter Schmerzen oder Krankheitszuständen leiden, die in herkömmlichen Einrichtungen schwer zu behandeln sind. Seit Einführung von MBSR im Jahr 1979 ist diese Methode weltweit in über dreißig Ländern von zahllosen Ausbildern eingesetzt worden. Die Zahl der Forschungspublikationen zum Thema Achtsamkeit ist von praktisch null im Jahr 1980 auf 15.000 im Jahr 2013 gestiegen.
•Bildung: Daniel Golemans Arbeit zur emotionalen Intelligenz setzt ein neues Verständnis des sozial-emotionalen Lernens (SEL) in Schulen um und hilft Schülern, besser mit Gefühlen umzugehen, Empathie zu entwickeln und Beziehungen aufzubauen.
•Führung: Achtsamkeitspraktiken in der Ausbildung von Führungskräften werden nicht nur in Technikgemeinschaften, sondern auch in den meisten zukunftsorientierten globalen Unternehmen angewandt. Ich habe Achtsamkeitspraktiken (und Presencing-Praktiken) in traditionellen Branchen (Autobranche), Technologieunternehmen (Google, Alibaba), multilateralen Organisationen (UN), für Regierungen (etwa die chinesische) und riesigen staatseigenen Unternehmen (Industrial and Commercial Bank of China, ICBC) eingesetzt. Es ist bemerkenswert, wie weit die Tür für Achtsamkeitsund Presencing-Methoden heute in Organisationen geöffnet ist. Der fehlende Widerstand ist mitunter fast schockierend. Wenn man es richtig macht (das heißt Achtsamkeit nicht als Ideologie, sondern als Tool fördert), erhält man eine starke positive Reaktion, insbesondere bei der neuen Generation der Führungskräfte.
Achtsamkeit ist die Fähigkeit, auf die eigenen Erfahrungen zu achten und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die eigene Aufmerksamkeit zu richten. Sie erfordert einen Wechsel der Wahrnehmung zu einer höheren Ebene – dass man sich selbst vom Ganzen her wahrnimmt.
In einer Welt, in der eine kulturelle ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung) immer stärker um sich greift, unterstützt durch unsere zahllosen Apps und elektronischen Geräte, die uns zunächst begeistern und dann versklaven (wenn wir sie nicht mehr bewusst nutzen), wird die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung immer entscheidender. Trotz des ganzen Geredes über Multitasking ist wissenschaftlich belegt, dass dieses gar nicht existiert. Was hingegen sehr wohl existiert, ist eine Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne.
»Das ist der Feind!«, so der junge Hacker Neo im Science-Fiction-Film Matrix, als er das »System« kennenlernt. Jede echte Kreativität, jede bedeutsame Innovation und jede tief greifende gesellschaftliche Erneuerung entspringt derselben Quelle, nämlich der Fähigkeit zu nachhaltiger Aufmerksamkeit – der Fähigkeit, uns selbst auf etwas einzulassen, dabei zu bleiben und dann schließlich – wenn wir Glück haben – den Funken der Inspiration einzufangen und eine Bewegung zu vollziehen, durch die wir das Neue – frei nach Martin Buber – »so verwirklichen, wie es verwirklicht werden will«.
Bild 2 veranschaulicht dieses tiefe Veränderungsterrain in Form eines Modells, das die Problemsymptome an der Oberfläche zeigt und darunter die tieferen Problemursachen, die Wurzeln und Quellen, aus denen sie hervorgehen. Um die drängenden Herausforderungen unserer Zeit auf der Quellebene in Angriff zu nehmen, müssen wir »die Linse zurück auf uns selbst richten«, indem wir den U-Prozess durchlaufen – das heißt, indem wir das Bewusstsein, von dem aus wir handeln, verändern.