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Beobachtung 3: Der Aufstieg des Absencing
ОглавлениеDie dritte Beobachtung betrifft das Phänomen des Absencing. Jeder Ansatz oder jedes gesellschaftliche Bezugssystem, das den massiven Anstieg des Fundamentalismus und des Absencing in unserer Welt nicht berücksichtigt, geht an den Kräften vorbei, die unsere Realität mitgestalten.
Was mich in den letzten zehn Jahren überrascht hat, ist, dass zwar sehr viele Menschen das Konzept des Presencing (das in Teil I und II dieses Buches behandelt wird) aufgegriffen haben, aber fast niemand mit dem korrespondierenden Konzept des Absencing (das in Teil III entwickelt wird). Es ist tatsächlich nicht möglich, das eine ohne das andere zu verstehen. Unsere derzeitige Realität ist voll von eindrucksvollen Beispielen für Presencing ebenso wie Absencing. Lassen Sie mich erklären:
Abb. V.1 zeigt das Aufeinanderprallen zweier Denkwelten, die jeweils zu einer anderen Dynamik und einem anderen sozialen Feld führen: Presencing – der Zustand des gemeinsamen Erspürens und Gestaltens der entstehenden Zukunft, indem wir unsere inneren Wissensinstrumente öffnen; und Absencing – der Zustand der Loslösung von anderen (Nichtsehen, »Entfühlen«) und von uns selbst, der zur Zerstörung anderer und schließlich zur Selbstzerstörung führt. Im Zustand des Presencing wirken wir gestützt auf eine Öffnung von Denken, Herz und Willen. Im Gegensatz dazu handeln wir im Zustand des Absencing unter den entgegengesetzten inneren Bedingungen: Wir stecken in einer Wahrheit fest, in einer kollektiven Haut und in einem fanatischen Willen.
Abb. V.1: Zwei Zyklen, zwei soziale Felder: Absencing und Presencing
Lassen Sie uns mit diesen Gedanken im Hinterkopf nochmals zu den drei Reaktionen auf disruptive Situationen zurückkehren und sie im Kontext der inneren Bedingungen betrachten, die in Abb. V.1 wiedergegeben sind. Ob in den beiden Teilen Amerikas, in Afrika, Asien, Australien oder Europa – die öffentliche Debatte über alle großen Probleme – einschließlich Klimawandel, Flüchtlingskrise, Terrorismus und viele andere – fällt tendenziell immer in eine der drei folgenden Reaktionskategorien:
1) Durchwurschteln: Diese Reaktion bezeichne ich häufig als Downloading oder Runterladen. Alles geht so weiter wie immer – mehr Meetings, mehr Erklärungen, mehr leere Worte. Denken Sie an die Gipfel über Flüchtlinge, Armut, den Nahostkonflikt, Klimawandel und die meisten anderen Themen, die globale Gemeingüter betreffen.
2) Auseinanderbewegen: Im Raum des Absencing erkennen wir den Zusammenbruch des Systems und die Tatsache, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher. Doch aus unserer Sicht sind nicht »wir«, sondern »die anderen« (»sie«) das Problem. Also errichten wir eine Mauer um uns, um »sie« fernzuhalten. Die Errichtung einer Mauer, die uns von den anderen trennt, ist buchstäblich das, wofür die meisten republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten und alle Parteiführer der extremen Rechten in Europa in der jüngeren Geschichte plädiert haben; historisch betrachtet, ist die Reaktion der Bush-Regierung auf 9/11 (»Bombt sie zur Hölle!«) ein weiteres Beispiel. Die Ergebnisse, zwölf Jahre und vier Billionen Dollar später, nach zigtausend Toten und dem Versinken einer ganzen Weltregion im Chaos, werden uns weiter heimsuchen, da der sogenannte Islamische Staat (IS oder ISIS für Islamischer Staat im Irak und in Syrien) und andere Vertreter des Terrors fest in der Feldlogik des Absencing verhaftet sind.
3) Gemeinsam bewegen: Im Raum des Presencing hingegen werden die Mauern eingerissen, und eine neue Architektur der Kollaboration und Verbundenheit nimmt Gestalt an. Beim Umgang mit jeglicher komplexen Herausforderung unserer Zeit wird einem sehr schnell klar, dass es nichts gibt, was ein einzelnes Unternehmen oder eine einzelnes Land allein tun könnte. Deshalb müssen nachhaltige Lösungen ein gesamtes globales Ökosystem von Partnern und Akteuren umfassen. Damit uns das gelingt, müssen wir uns unserer eigenen Rolle bei der gemeinsamen Verursachung des Problems bewusst werden und dann antreten, um gemeinsam andere Vorgehensweisen zu gestalten. Im Fall der europäischen Flüchtlingskrise zum Beispiel haben Angela Merkel in Deutschland, Stefan Löfven in Schweden und viele Bürger und Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations, NGOs) mutige Schritte in diese Richtung getan. Doch wie die innenpolitischen Gegenreaktionen zeigen, ist die Realität voller Widersprüche und stellt uns alle durch ihre Entwicklung immer wieder vor neue Herausforderungen.
Die Realität schreit förmlich nach einer dritten Haltung, nach Presencing. Die erste Haltung, Downloading, versucht den Zusammenbruch des Systems zu leugnen. Die zweite Haltung, Absencing, sagt: »Okay, das System ist zusammengebrochen, aber das liegt nicht an uns.« Nur Presencing bietet einen gangbaren Weg, um die umfassende Disruption, vor der wir stehen, anzugehen.
Ich erinnere mich, wie ich einmal einen Außendienstmitarbeiter eines US-Autokonzerns interviewte, der für Kundengespräche über Reparaturen und Rückrufaktionen zuständig war. Ich bat ihn, mir zu schildern, wie das funktioniere. Er sagte: »Na ja, es ist immer dasselbe.« Dasselbe was? »Es gibt immer dieselben drei Stadien«, erklärte er:
»Stadium 1: Die Techniker im Unternehmen streiten ab, dass überhaupt ein Problem vorliegt. Sie behaupten, die Kunden lägen völlig falsch. Dann kommen immer weitere Informationen rein. Wenn es unmöglich wird, die Augen weiterhin vor dem Problem zu verschließen, wechseln sie in das 2. Stadium, in dem sie akzeptieren, dass das Problem existiert, es aber auf eine andere Abteilung schieben. Dann, nach einem weiteren längeren Zeitraum, in dem das Problem verheerende Ausmaße annimmt, sind sie allmählich bereit für das 3. Stadium: In Stadium 3 hören die Leute auf, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben und sagen: ›Okay, wir haben tatsächlich ein akutes Problem, das wir so schnell wie möglich lösen müssen. Wie stellen wir das an? Wer kann welchen Beitrag leisten?‹«.
Zu dieser Abfolge der Stadien 1 bis 3 kommt es nicht nur in Autokonzernen, sondern auch in unseren großen öffentlichen Systemen. Praktisch alle großen Herausforderungen, vor denen unsere Welt steht, werden auf diese Weise gehandhabt. Doch in Anbetracht der Dringlichkeit dieser Herausforderungen stellt sich die Frage, wie wir den Prozess, der uns in Stadium 3 bringt, beschleunigen können. Wie kommen wir von Leugnen und Absencing zum Presencing?
Der Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die Linie zwischen Presencing und Absencing nicht zwischen uns und den anderen verläuft. Sie verläuft direkt durch jeden Einzelnen von uns. Sie repräsentiert den Abgrund, vor dem wir Tag für Tag, auf allen Ebenen, von Mikro bis Mundo, stehen. Angesichts des Abgrunds müssen wir innehalten und in den Spiegel schauen, wo wir erkennen, dass die Probleme im Außen widerspiegeln, was in unserem Innern ist. Deshalb müssen wir den inneren Standort, von dem aus wir handeln, verändern.
Wie machen wir das? Indem wir in den Spiegel sehen und unsere Aufmerksamkeit und unsere wahre Intention wieder in Einklang bringen. Bild 4 zeigt, wie ein Teil dieser Neuausrichtung stattfindet.