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Beobachtung 4: Institutionelle Inversion

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Die vierte Beobachtung betrifft das Phänomen der Inversion oder Umstülpung. Tabelle V.1 fasst das gesamte vorliegende Buch auf einer einzigen Seite zusammen. Ich nenne das die Matrix der sozialen Evolution. (Ich danke meiner Kollegin und Freundin Claudia Madrazo für den Begriff.) Sie umreißt im Wesentlichen die Entfaltung der evolutionären Inversion.

Wenn Sie die Matrix der sozialen Evolution verstehen, könnten Sie sich die Lektüre des restlichen Buches eigentlich sparen. Ich bin überzeugt, dass alle Menschen, die aufmerksam auf ihre Erfahrungen achten, diese Tabelle ausfüllen könnten. Doch die Essenz dieses Buches hat nichts mit einer einzelnen Person zu tun: Es geht darum, die tiefere soziale Grammatik unserer Zeit sichtbar zu machen, die evolutionäre Grammatik und Verlaufskurve der kollektiven Felder, die wir als Individuen, Gruppen, Institutionen und größere soziale Systeme hervorbringen. Wäre ich mutig, würde ich Sie nicht bitten, dieses fast unerträglich dicke Buch zu lesen, sondern Ihnen diese leere Matrix ohne jeden Text in die Hand drücken und Sie auffordern, sie selbst auszufüllen.

Wie am Umfang dieses Buches zu erkennen, bin ich natürlich nicht so mutig. Doch Sie könnten das Ausfüllen der Matrix jetzt als Übung durchführen: Schauen Sie auf die Tabelle, und lesen Sie nur die Überschriften der beiden Hauptachsen. Nehmen Sie dann ein leeres Blatt Papier, übertragen Sie darauf die Überschriften und füllen Sie die leere Matrix aus. Wenn Sie aufmerksam auf alle subtilen Dimensionen Ihrer eigenen Erfahrungen geachtet haben, bin ich sicher, dass Sie am Ende etwas erhalten werden, das der Tabelle V.1 sehr ähnlich ist. Der Grund, warum ich so sicher bin, ist, dass ich zehn Jahre meines Lebens damit verbracht habe, genau das zu tun: Ich habe mich mit Erneuerern und Veränderungsakteuren in der Praxis getummelt, an den Frontlinien des sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandels, und Fragen gestellt, Geschichten gehört und versucht, mir einen Reim auf alles zu machen.

Ich hatte nie die Absicht, irgendetwas zu erfinden. Ich wollte einfach nur aufdecken, was bereits da war – sichtbar machen, was sich im Offensichtlichen verbirgt oder unter den Schichten konventioneller Verhaltensgewohnheiten versteckt. Nachdem einige sehr erfahrene Praktiker das von mir entwickelte U erstmals gesehen hatten, wurden sie ganz still und sagten dann zu mir: »Das ist erstaunlich, aber es ist nicht völlig neu. Ich wusste nur nicht, dass ich es weiß.«

Ich wusste nur nicht, dass ich es weiß. Deshalb bin ich überzeugt, dass die meisten Menschen mit tiefen Veränderungs- oder kreativen Lebenserfahrungen diese Matrix selbst ausfüllen können. Doch bezweifeln viele, dazu in der Lage zu sein, weil sie nicht wissen, dass sie (schon) wissen. Aus diesem Grund werde ich das Buch nicht gleich an dieser Stelle beenden.

Beginnen wir mit den beiden Achsen. Die horizontale Achse zeigt vier verschiedene Ebenen des Systems: Mikro (Individuen), Meso (Gruppen), Makro (Institutionen) und Mundo (Ökosysteme) zusammen mit den vier Handlungsweisen, die diesen Ebenen entsprechen: Aufmerksamkeit zuwenden (Mikro), kommunizieren (Makro), organisieren (Makro) und koordinieren (Mundo).

Die vertikale Achse veranschaulicht die Ebene der Wahrnehmung oder des Bewusstseins, von der aus jede dieser Aktionen ausgeführt werden kann. Die Qualität der Ergebnisse (und Auswirkungen) in jeder Art von System ist abhängig von der Qualität der Wahrnehmung oder des Bewusstseins, das zur Ausführung dieser Aktionen genutzt wird. Die Form folgt dem Bewusstsein. Mit anderen Worten, die Qualität der Ergebnisse ist abhängig von der vertikalen Positionierung in der Matrix.

Tab. V.1: Die Matrix der sozialen Evolution

Während die horizontalen Ebenen leicht zu erklären sind (Mikro zu Mundo), scheinen die vertikalen Entwicklungsdimensionen auf den ersten Blick etwas komplizierter zu sein. Doch wenn man sich mit der Literatur befasst, von der Phänomenologie zur Entwicklungspsychologie, von Edmund Husserl zu Robert Kegan, Clare W. Graves, Don Beck, Susanne Cook-Greuter, Ken Wilber und Bill Torbert, und wenn man die eigene Erfahrung unter die Lupe nimmt, dann erkennt man, dass Menschen über all diese Traditionen und Fragestellungen hinweg zu den gleichen grundlegenden Unterscheidungen und Markern der vertikalen Entwicklung gekommen sind. Vertikale Entwicklung bezieht sich auf das entstehende Selbst. In der Matrix der sozialen Evolution habe ich die Entwicklungsstufen und Bewusstseinszustände auf vier elementare Modi vereinfacht, die sich tagtäglich vor unseren Augen abspielen (die Angaben in Klammern in der folgenden Aufzählung verweisen auf die entsprechenden Entwicklungsstufen des Spiral-Dynamics-Modells; Beck a. Cowan 1996, vgl. Kapitel 5 und Zeile 10 in Tabelle 20.1):

1) Habituelles Bewusstsein: Inszenierung von Mustern der Vergangenheit – das Universum als meine mentale Projektion (rot: traditionell)

2) Egosystem-Bewusstsein: Subjekt-Objekt-Bewusstsein – die Welt als eine Reihe von Objekten, die von mir selbst getrennt sind (orange: Leistung)

3) Stakeholder-Bewusstsein: Das Universum als eine Reihe von Beziehungen, mit denen ich mich verbinden kann (grün: pluralistisch).

4) Ökosystem-Bewusstsein: Das Universum als Feld, das sich selbst fühlt und erkennt und weiterhin – durch mich – im Entstehen begriffen ist (türkis: evolutionär).

Der Blick in die Matrix ist wie der Blick in einen Spiegel der Gemeinschaft. Wir sehen die Muster, die wir gemeinsam gestalten, wenn wir – von Augenblick zu Augenblick – das soziale Feld hervorbringen.

Was genau geschieht, wenn wir uns auf der Matrix nach unten bewegen (von Mikro zu Mundo)? Wir sehen Zweierlei. Zum einen erkennen wir einen profunden Öffnungsprozess: die Öffnung unserer Aufmerksamkeit (offenes Denken, offenes Herz, offener Wille), unserer Gespräche (vom Downloaden zur Debatte, zum reflektiven Dialog, zum schöpferischen Dialog), unserer Organisationsmethoden (von zentralisiert zu divisionalisiert, zu vernetzt, zu Ökosystem) und unserer Koordinationsweisen (von Hierarchie und Wettbewerb zu Dialog und bewusstseinsbasiertem kollektivem Handeln [Awareness-Based Collective Action, ABC]). Der tief greifende Öffnungsprozess macht die Grenze zwischen System und Selbst – die auf Ebene 1 oder 2 so undurchdringlich erscheint – durchlässig (Ebene 3) und bringt sie zum Einsturz (Ebene 4).

Zum anderen erkennen wir auf allen Ebenen einen profunden Prozess der Verinnerlichung. Zu diesem Prozess gehört die Art,

•wie wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden (wir richten den Strahl der Aufmerksamkeit zurück auf das beobachtende Selbst),

•wie wir kommunizieren (wir bewegen uns von Schuldzuweisungen zum Dialog – das heißt, wir sorgen dafür, dass das System sich selber wahrnimmt),

•wie wir organisieren (von Befehl und Kontrolle zu einem inneren Ort, an dem wir uns selbst aus der Perspektive unserer Stakeholder sehen) und

•wie wir koordinieren (von der sichtbaren und unsichtbaren Hand zu einem System, das sich selbst fühlen und sehen kann).

Worauf läuft es hinaus, wenn man diese beiden Dinge – den Prozess der Öffnung und den Wandel des Bewusstseins bzw. die Veränderung der Aufmerksamkeit in Richtung Verinnerlichung – zusammennimmt? Was genau geschieht mit uns, wenn wir uns auf der Matrix nach unten bewegen? Mit einem Wort gesagt: Inversion. Wir durchlaufen einen Prozess der individuellen, beziehungsmäßigen, institutionellen und systemischen Umstülpung oder Umkehrung.

Inversion ist der Prozess, bei dem man etwas von innen nach außen und von außen nach innen stülpt. Beides kann gleichzeitig geschehen.

•Der »Von-innen-nach-außen-Teil« ist das Öffnen: Man öffnet die Grenze und bringt, was sich gewohnheitsmäßig im Innern befand, nach außen.

•Der »Von-außen-nach-innen-Teil« ist die Verinnerlichung: Wir werden uns der tiefen wechselseitigen Verbundenheit mit der uns umgebenden Welt bewusst.

Wenn wir das eine ohne das andere tun, wenn wir uns für das Außen öffnen, ohne unsere Fähigkeit zur Verinnerlichung zu fördern, erzeugen wir Stress und Gegenreaktionen, die in Absencing resultieren können (zum Beispiel die Flüchtlingssituation in Deutschland und Europa).

Wenn man die Matrix der sozialen Evolution in vertikaler Richtung liest, erkennt man den Prozess der Verinnerlichung bei allen vier Spalten:

•Bei der individuellen Inversion geht es um die Öffnung von Denken, Herz und Willen im Sinne eines Zugangsprozesses zu den tieferen und schlummernden Ebenen der menschlichen Intelligenz.

•Bei der beziehungsmäßigen Umkehrung geht es um Gespräche, die bewirken, dass ein System sich selbst sieht und spürt (Dialog).

•Bei der institutionellen Umstülpung geht es um die Entdeckungsreise, durch die wir unsere Institutionen öffnen und mit dem Wissen verbinden, das im größeren Ökosystem um uns herum eingebettet ist (ego zu öko).

•Und bei der systemischen Umkehrung geht es um die Entwicklung unserer »Governance«, unserer Steuerung und Koordination – von den alten Mechanismen (Zentralisierung und Wettbewerb) zu den neuen (Gestaltung sozialer Felder, die sich selbst sehen und fühlen).

Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, um darüber nachzudenken, wo Sie in Ihrem eigenen Kontext erkennen können, dass diese Umstülpung oder Umkehrung geschieht, indem Sie Bild 5 betrachten, einschließlich des Goethe-Zitats in der zugehörigen Legende (Goethe 1823, S. 38): »Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.«

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