Читать книгу GUARDIANS - Der Verlust - Caledonia Fan - Страница 12

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~~~ KAPITEL 4 ~~~


13. Juni 2024, Donnerstag, 13:00 Uhr

Carmelita, Guatemala


Steif und durchgeschüttelt kletterten Tamira und Tiana nach der mehr als zweieinhalbstündigen Fahrt aus dem Wagen und sahen sich um. Der anhaltende Regen ließ das Dörfchen trostloser und verlorener erscheinen, als sie es sich vorgestellt hatten.

Sie waren später gestartet als beabsichtigt. Vor der Fahrt in den Dschungel mussten sie in der Stadt noch ein paar Sachen besorgen. Außerdem dauerte sie länger als geplant, weil die Piste ausgefahren, schlammig und holprig war. Stellenweise hatte der Wagen mit eigenwilligen Rutschpartien im Straßen­matsch Tamiras Fahrkünsten einiges abverlangt. Einmal war er fast im Schlamm steckengeblieben und hatte sich nur dank des kräftigen Allradantriebs wieder heraus­manövrieren können. Heute Vormittag bei der Abfahrt noch blitzsauber, war der Offroader inzwischen bis an die Radkästen mit rotem Schlamm verschmiert.

Der Wagen erregte Aufsehen und auch seine Insassen wurden von einigen im Matsch spielenden Kindern unverhohlen angestarrt. Offensichtlich sah man Europäer hier nicht mehr oft.

La'ith, dem die durch ihre Ankunft verursachte Aufregung nicht behagte, schickte schon wieder seine wachsamen Blicke in die Umgebung.

Noch bevor das satte Brummen des Motors verstummt war, hatte Tiana das Lebensmittelgeschäft entdeckt, an dem sie um dreizehn Uhr Romarus Mutter treffen wollten. Deren Ehemann arbeitete auf einer der nahegelegenen Rodungs­flächen der Holz-Company und so war die Gelegenheit günstig, um ungestört mit ihr zu sprechen.

Nanita Vermosa war eine kleine Frau, rundlich und ein wenig verhärmt. Erst beim Näherkommen sah man, wie jung sie eigentlich noch war. Sie betrachtete die Ankömmlinge verunsichert und erwiderte deren offenes Lächeln nur zögerlich. Da Tiana im Gegensatz zu ihrer Freundin noch nicht mit der Frau telefoniert hatte, übernahm Tamira die Begrüßung.

Die Frau nickte hastig mit dem Kopf und schielte dabei an Tamira vorbei zu La'ith. Der Guardian stand mit dem Rücken zu ihnen und tat, als würde er die Aussicht auf den dampfenden Wald genießen, der hinter dem grauen Regenvorhang kaum zu sehen war. Sein gewohnt zurückhaltendes, finsteres Wesen umgab ihn mit einer Aura der Bedrohlichkeit und schüchterte Romarus Mutter ein.

Tamira beruhigte sie und die Frau entspannte sich langsam. Sie hob den breiten Korb, der vor ihr gestanden hatte, auf und schwang ihn mit einer fast beiläufigen Bewegung auf den Kopf. Dann murmelte sie ein paar Worte, wandte sich um und ging davon.

"Wir sollen ihr folgen", verkündete Tamira über die Schulter.

Sie verließen das Dorfzentrum mit Kirche, Laden und einer schnurgeraden, aber schlammigen Straße, die früher einmal als Landebahn für kleinere Flugzeuge gedient hatte. Romarus Mutter wandte sich nach Westen und hielt auf ein Haus zu, das diese Bezeichnung kaum verdiente und am Ende des Dorfes lag. Die meisten Hütten außerhalb des Ortszentrums schmiegten sich an den Waldrand und waren nur über schmale Fußpfade zu erreichen. Ihre schief in den Angeln hängenden Türen und Fensterläden verrieten, dass niemand mehr in ihnen lebte. Langsam, aber hartnäckig eroberte sich der Dschungel die Grundstücke zurück.

Inzwischen waren sie bis auf die Haut durchnässt, doch dank der Hitze fror keiner. La'ith bildete den Schluss. Er sah sich immer wieder unauffällig, aber forschend um.

Tiana, die vor ihm lief, fand sein Verhalten sonderbar, doch er war verantwortlich für ihre kleine Reisegruppe und sie wusste, dass er das ernst nahm.

Als die drei Frauen ins Haus gegangen waren, schloss er die Tür hinter ihnen und blieb draußen stehen. Auch Tamira wurde nun aufmerksam und blickte Tiana fragend an.

Doch die rundliche Frau, die ihren Korb in der Küche auf dem Tisch abgesetzt hatte, begann in diesem Moment zu reden. Die Worte strömten wie ein Sturzbach aus ihrem Mund. Tamira kam nur noch dazu, Tiana mit den Augen aufzufordern, nach draußen zu gehen. Dann musste sie Romarus Mutter ihre ganze Aufmerksamkeit widmen, zumal der auf das Wellblech trommelnde Regen das Verstehen des spanischen Wortschwalls sehr erschwerte.


Tiana ging vor die Tür. Auf der überdachten, schmalen Veranda blieb sie neben La'ith stehen.

"Was ist los?", raunte sie.

"Wir werden beobachtet", knurrte er kaum hörbar.

Augenblicklich schaltete sie in den Guardian-Modus. Automatisch. Ihr Körper versetzte sich selbst in den Alarm-Zustand, so wie er es sechs Jahre lang getan hatte. Aus leicht zugekniffenen Augen musterte sie die Umgebung, während sie ihr Basecap abnahm und sich damit Luft zufächelte. "Wo ist das Problem?", raunte sie in das Taschentuch, mit dem sie sich den Schweiß vom Gesicht wischte.

"Ich sehe niemanden", kam es knapp zurück.

Tiana runzelte die Stirn. Das war beunruhigend. Wer auch immer sie beobachtete - er musste gut sein, wenn La'iths Augen ihn nicht entdeckten. Doch es gab ein Phänomen, was dem Guardian dessen Anwesenheit trotzdem verriet.

"Ein Energienutzer?"

La'ith nickte gleichmütig.

Sie stieß sich von der Wand ab und wandte sich der Haustür zu. "Willst du auch was trinken?" Die Frage war in normaler Lautstärke gestellt und La'ith nickte erneut.


Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, setzte er sich auf die windschiefe Holzbank auf der Veranda und lehnte den Kopf an die Hauswand dahinter. Er imitierte den müden Touristen, doch seinen zu schmalen Schlitzen geschlossenen Augen entging kein Detail.

Aber es gab nichts zu sehen. Nur die Lichtsignatur des Energienutzers neben dem Haus schräg gegenüber war zweifelsfrei erkennbar. Derjenige, der zu ihm herübersah, versteckte sich im Wald, welcher bis an die Rückwand des dürftig verputzten Domizils auf der anderen Seite des Pfades heranreichte. Das machte es schwierig, die Entfernung abzuschätzen.

La'iths Anspannung wuchs. War es bloße Neugier gegenüber Fremden, mit der er es hier zu tun hatte? Warum verbarg sich derjenige dann? Oder war es jemand, der wusste, weshalb sie hergekommen waren? Seine eigene Lichtsignatur konnte der andere keinesfalls sehen. Schon als Kind damals in diesem Labor hatte er gelernt, sie zu verbergen. Und Tianas und Tamiras Fähigkeiten basierten nicht auf Energieanwendung, die beiden besaßen keine. Also wie war jemand auf sie aufmerksam geworden?


Tiana schob die Tür mit dem Ellenbogen auf und brachte zwei Becher mit Wasser nach draußen. Einen reichte die La'ith und setzte sich neben ihn. Während sie langsam trank, schaute sie sich erneut unauffällig um. Doch wenn er schon niemanden sehen konnte, brauchte sie nicht darauf zu hoffen, etwas zu entdecken.

"Ist er noch da?" Sie setzte den Becher ab und wischte mit dem Handrücken über den Mund.

Aus dem offenen Fenster war die aufgeregte Stimme von Señora Vermosa zu vernehmen und La'ith hob stirnrunzelnd den Kopf. "Sie ist zu laut. Jeder kann hören, was sie sagt."

Tiana erhob sich und ging zurück ins Haus. Gleich darauf senkte die Frau die Lautstärke und einen Moment später verstummte sie.

La'ith hörte sie leise weinen. Eine Weile war Ruhe, dann vernahm er Tamiras Stimme und die eines Kindes. Das musste Romaru sein.

Tiana, die wieder nach draußen gekommen war, lauschte ebenfalls. Die Worte des Jungen kamen widerwillig, stockend.

Sie seufzte. Falls Romaru schwieg, weil er eingeschüchtert oder bedroht worden war, musste sie ihn mit ihrer Fähigkeit zum Reden bewegen.

La'ith ordnete den Seufzer richtig ein.

"Tamira ist noch nicht fertig", meinte er, "warte ab."

Noch immer war deren Stimme aus dem offenen Küchenfenster zu vernehmen. Dazwischen kam ab und zu eine kaum hörbare Antwort des Jungen.

"Verstehst du, was sie sagen?", fragte Tiana nach einer Weile.

"Nicht alles", gab La'ith zu und lehnte den Kopf zurück an die Wand, um unbemerkt den Wald gegenüber beobachten zu können. "Der Regen ist zu laut."

Sie schwiegen wieder und warteten.

Tiana war innerlich keineswegs so gelassen, wie sie zu sein vorgab. In La'iths Nähe beschlich sie neuerdings immer öfter ein seltsames Gefühl. In den letzten Jahren hatte sich stets das Bild seines Bruders Ahmad davorgeschoben, wenn sie ihn ansah. Und jedes Mal tat es weh, denn an ihn zu denken fiel ihr noch immer schwer. Rhea hatte nach seiner Beerdigung gemeint, dass der Schmerz mit der Zeit nachließe. Und es stimmte, es war besser geworden mit den Jahren. Ahmad würde zwar immer in ihrem Herzen sein, aber es tat nicht mehr so weh, sich an ihn zu erinnern.

Irgendwann hatte sie jedoch begonnen, La'ith wahrzu­nehmen. Sie erinnerte sich nicht, wann es angefangen hatte, aber inzwischen war ihr eines klar geworden: Sie beobachtete ihn. Es gab vieles, was ihr gefiel, sie faszinierte, und was ihn interessant machte, ohne dass er Ahmad in ihrer Erinnerung verdrängte. Das konnte er gar nicht. Trotz der äußerlichen Ähnlichkeit mit dem Zwillingsbruder war La'ith im Wesen ganz anders.

Wenn jemand sie fragen würde, was denn die Unterschiede zwischen den Brüdern waren, hätte sie nichts mit Bestimmtheit nennen können. Doch es gab sie. Und je länger sie La'ith beobachtete, desto deutlicher traten sie hervor. Und desto verwirrter wurde sie. Jede Minute, in der sie an ihn dachte, glaubte sie dem Andenken an Ahmad zu stehlen. Du bist ihm untreu, klagte eine Stimme in ihrem Inneren sie an. Und sie fand keine Entgegnung, um den Vorwurf verstummen zu lassen.

Was sie verunsicherte, war das Fehlen jeglicher Signale von La'iths Seite. Was er wohl über sie dachte? Hielt er sie für eine überspannte, alte Jungfer? Sie war vierundzwanzig, andere Frauen in dem Alter hatten längst geheiratet und an Kandidaten mangelte es nun wirklich nicht.

Aber La'ith gewährte niemandem einen Blick in sein Innerstes. Er war ein Meister im Verbergen von Gefühlen und wenn ihm das nicht gelang, suchte er lieber das Weite. Lächelnd erinnerte sie sich an den Frühlingsnachmittag im Garten, damals, nach der Zerstörung des Labors. Das war so ein Moment gewesen, an dem er die Flucht ergriffen hatte, bevor jemand merkte, was in ihm vorging.

"Wir hätten Yonas doch mitnehmen sollen", meinte sie seufzend.

"Du weißt, dass er wegen seiner Bachelorprüfungen keine Zeit hat."

"Ja, aber es hätte diese Aktion wesentlich vereinfacht. Er könnte Romarus Erinnerungen ganz leicht nacherleben."

"Wenn es welche gäbe", brummte er und legte den Kopf wieder zurück. "Yonas würde nichts sehen, wenn die Erinnerungen des Jungen wirklich komplett gelöscht wurden."

"Geht denn sowas?"

"Es gibt viele Gaben, die wir noch nicht kennen. Vielleicht sollte der Junge froh sein, dass kein geistloser Zombie aus ihm geworden ist."

"Hör auf." Tiana zog die Schultern hoch. "Das ist gruselig."

"Du bist kein kleines Mädchen mehr."

Das hatte gesessen. Die Scham ließ ihre Wangen brennend rot werden. Deutlicher ging es kaum. Jetzt brauchte sie nicht länger zu rätseln, was er von ihr hielt.

La'ith registrierte nicht, was seine Bemerkung angerichtet hatte. Er stand auf, öffnete den Flügel des Küchenfensters mit der Hand ein wenig weiter. "Ich schau mich mal im Dorf um", rief er auf Spanisch hinein. "Ihr bleibt im Haus", fügte er leiser hinzu, "wir haben Besuch."

Tiana hatte sich ebenfalls erhoben.

"Was hast du vor?", raunte sie.

"Mich mal mit dem Spanner zu unterhalten. Tamira wird hier sicher sein."

"Kann ich mitkommen?"

Einen Augenblick sah er sie prüfend an. "Ja, falls er nicht allein ist. Wir werden den Kerl erstmal vom Haus weglocken."

Sie nickte und stieg die drei Verandastufen hinunter. Unten blieb sie stehen und sah sich nach ihm um. "Also, wohin willst du gehen?", fragte sie, gut hörbar für den verborgenen Lauscher.

Er schlug den Weg ein, der zu dem großen Holzplatz führte, den er bei der Ankunft im Dorf bemerkt hatte. Wenn der Beobachter ihnen folgte, würden sie ihn dort stellen.


Als er sich auf diesem Platz mitten in einer Stadt wiederfand, war ihm alles fremd. Kein bekanntes Gebäude, kein vertrautes Gesicht. Die Menschen, die vorbeigingen, schenkten ihm keine Beachtung. Er hatte nichts bei sich außer dem, was er auf dem Leib trug. Doch die Kleidungsstücke kannte er nicht.

Nach ein paar Minuten, in denen er sich zwang, tapfer zu sein, siegte die Panik. Er schämte sich dafür, aber er sprach einen Passanten an und bat ihn um Hilfe.

Dessen Frage nach seinem Namen konnte er nicht beantworten, genauso wenig die nach dem Wohnort. Der ratlose Mann brachte ihn daraufhin zu einem Polizeirevier. Der Polizist dort suchte Fotos heraus, nickte zufrieden, nachdem er ihm prüfend ins Gesicht geschaut hatte, und verkündete ihm, dass er der gesuchte Romaru war. Bei dem Namen stellte sich keine Vertrautheit ein. Es hätte ebenso jeder andere sein können, er verband keinerlei Erinnerung damit.

Der Polizist ließ ihn in einem Nebenraum warten, schaltete ihm den Fernseher ein, gab ihm ein belegtes Brot aus seiner Aktentasche und eine Dose Cola.

Nach ein paar Minuten wurde er erneut geholt und musste Fragen beantworten. Doch auf alle hatte er nur ein hilfloses Kopfschütteln als Antwort.

Schließlich gab der Polizist auf. Er schob den unbeschriebenen Notizblock von sich und sah ihm einen Augenblick forschend ins Gesicht, bevor er zu erzählen begann.

Staunend erfuhr er von dem Beamten, dass er vor drei Tagen von der Schule nicht nach Hause gekommen war und seitdem als vermisst galt. Der Schulbus war ohne ihn in seinem Heimatort angekommen und keiner hatte sagen können, wo er steckte.

Kurz nach dieser Befragung tauchte ein Arzt im Polizeirevier auf. Der gutmütige Grauhaarige im weißen Kittel untersuchte ihn gründlich und stellte fest, dass ihm außer seiner Erinnerung nichts fehlte. Der Mediziner machte ein zufriedenes Gesicht, als er das dem Polizisten versicherte, und meinte zuversichtlich, dass das verlorene Gedächtnis zurückkäme. Dann blickte der nette Mann ihn noch einmal bedauernd an und klopfte ihm dabei väterlich auf die Schulter. Zwei Sekunden später war er verschwunden.

Er selbst wurde daraufhin von dem Polizisten wieder in den Nebenraum gebracht. Dort musste er auf seine Mutter warten, zu der man inzwischen einen Streifenwagen geschickt hatte. Sie sollte in zwei, vielleicht auch drei Stunden eintreffen.

Er gehorchte widerspruchslos und legte sich auf die durchgesessene und ächzende Couch. Und obwohl er nicht müde war, musste er geschlafen haben, denn er wurde vom Schluchzen einer Frau geweckt. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür. Der Polizist kam herein.

"Deine Mutter ist gekommen", meinte der Mann und legte ihm die Hand auf die Schulter, als rechnete er damit, dass er weglaufen würde.

Er betrachtete die kleine rundliche Frau vor sich und wartete verzweifelt darauf, dass sich sein Gehirn an sie erinnerte, dass er irgendetwas Vertrautes an ihr fand. Doch das geschah nicht. Sie war ihm genauso fremd wie alles andere um ihn herum.

Als sie merkte, dass er sie nicht erkannte, flossen die mühsam zurückgehaltenen Tränen erneut und sie begann wieder zu schluchzen. Verlegen und mit zitternder Hand suchte sie in der Handtasche, die sie auf den Knien hielt, nach einem Taschentuch, während sie mit bebenden Lippen wieder und wieder 'Dios mio' stammelte.


All das hatte Romaru ohne Stocken berichtet. An diese Dinge erinnerte er sich problemlos, aber die Zeit vor dem 'Auftauchen' auf dem belebten Platz in Flores war vollkommen ausgelöscht.

Seine Mutter bestätigte, dass er den Passanten an der zentralen Bushaltestelle angesprochen hatte, von der aus der Schulbus nach Carmelita losfuhr. Es war wie bei Clarice gewesen: Der Ort, an dem sich die Verschwundenen zuletzt aufgehalten hatten, war auch der Ort, an dem sie wieder auftauchten.

Tamira sah den Jungen vor sich mitfühlend an. In seinem Alter weinte man nicht mehr ohne Weiteres, doch es war ein bisschen viel, was der schmächtige Zwölfjährige zu ertragen hatte. Von jetzt auf dann war er in ein anderes Leben geworfen worden und er musste damit klarkommen.

Was war der Grund für die verlorene Erinnerung? Oder war sie gar nicht verloren? Spielte er ihnen etwas vor? Verbarg er irgendwas?

Er erweckte nicht den Eindruck, als sei er eingeschüchtert. Auf ihre direkte Frage, ob jemand ihm verboten habe, über das zu reden, was ihm passiert war, antwortete er offen und ohne zu zögern mit einem klaren Nein.

Eine Sache war noch nicht angesprochen worden. Und die interessierte sie brennend. Romaru hatte vor diesem einschneidenden Ereignis die Fähigkeit besessen, Tiere zu verstehen. Sicher, es gab Menschen, die anhand von Mimik oder Verhalten eines Tieres etwas zu erkennen glaubten. Aber Gewissheit konnte man so nie erhalten. Romaru jedoch hatte gewusst, was ein Tier sagte, wenn man dabei überhaupt von Sprechen reden konnte. Sie vermutete, dass es wie Telepathie funktionierte, aber mit Tieren. Und einseitig. Er hatte sich ihnen nicht verständlich machen können. Doch die Geschöpfe waren offensichtlich in der Lage gewesen, eine besondere Verbindung zwischen sich und dem Jungen zu spüren. Sie hatten sich ihm gegenüber anders verhalten, waren regelrecht zutraulich gewesen. Affen hatten sich streicheln lassen und Papageien auf Romarus Schulter gesessen. Sogar der Ozelot war gern in seine Nähe gekommen. Señora Vermosa hatte ihr erzählt, dass sie einmal schreckensbleich mit ansehen musste, wie ihr Sohn am Wasser saß und eine Korallenschlange sich auf die schmalen Knabenschultern legte. Als dieser die Hand behutsam über den glatten Schlangenleib gleiten ließ, war der Mutter beinahe das Herz stehengeblieben.

Tamira hatte den Stolz in der Stimme von Nanita Vermosa hören können, der erneut Tränen über die Wangen rollten, als sie das erzählte. Da seine Fähigkeit viel Aufmerksamkeit erregt hatte, war Romaru sogar schon mehrfach nach Cobán, der großen Stadt im Süden, geholt worden. Man brauchte ihn im Zoo, um bei einem erkrankten Tier herauszufinden, was ihm fehlte. Der Junge hatte deswegen selbstverständlich Tierarzt werden wollen.

Sie merkte, dass er sich wie ein Fremdkörper in der eigenen Familie fühlte. Die beiden jüngeren Brüder nahmen seine Veränderung scheinbar unbekümmert hin, doch die Mutter meinte, der Vater könne mit der Situation nicht umgehen. Er sei verbittert, denn obwohl er anfangs dagegen gewesen war, dass Romaru den Tierpflegern im Cobáner Zoo half, hatte die großzügige Bezahlung doch ab und zu den einen oder anderen kleinen Luxus für die Familie ermöglicht. Das war nun Geschichte.

Die Mutter hatte damals nicht nachgelassen, bis ihr Mann ihr erlaubte, Romaru als Zehnjährigen in die internationale Begabten-Datenbank eintragen zu lassen, wie es ihnen vom Zoodirektor geraten worden war. Voller Stolz hatte sie den Schein mit der Registrierungsnummer entgegengenommen und während der ganzen Busfahrt in der Hand gehalten. Im Amt hatte man ihr von Schulen für besonders Begabte erzählt und Penelopes Internat empfohlen.

Romaru war sofort begeistert gewesen von der Idee, in England zu lernen. Und auch dafür hatte die kleine unscheinbare Frau von ihrem Mann die Erlaubnis erkämpft. Sie zählte auf, was für großartige Möglichkeiten Romaru damit offenständen und wie er mit einer guten Ausbildung die Familie finanziell unterstützen könnte.

Tamira verstand. Es war ein weiterer geplatzter Traum für den Vater gewesen. Falls er gehofft hatte, eines Tages nicht mehr bei den großen Firmen mit ihren illegalen Rodungen schuften zu müssen, dann war diese Hoffnung nach dem Wiederauftauchen seines ältesten Sohnes gestorben.

Dass er seine Gabe nicht mehr besaß, hatte niemand bemerkt, bis die Mutter ihn am Tag darauf am Fluss beobachtete. Die Tiere waren nicht zu ihm gekommen. Sie hatte es für einen Zufall gehalten, doch auch die Hunde des Dorfes und die Mulis des alten Gummizapfers Jorge schenkten ihm keine Beachtung mehr. Da hatte sie ihren Jungen gefragt, warum die Tiere ihn mieden. Und seine Antwort war nur ein verständnisloser Blick gewesen.

All das hatte Nanita hastig hervorgesprudelt, von Schluchzern unterbrochen und ab und zu mitfühlend ihren Sohn betrachtend.

Nachdem der Junge erleichtert das Häuschen verlassen hatte, blieb Tamira noch einen Augenblick am Küchentisch sitzen, um zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten. Letztendlich hatte das Gespräch nicht viel gebracht. Die Polizeistation in Flores aufzusuchen erschien ihr unsinnig. Dort würde man ihnen nicht weiterhelfen können.

Gerade wollte sie aufstehen, um nachzuschauen, ob La'ith und Tiana zurück waren, da wurde sie am Arm festgehalten.

"Warten Sie, bitte. Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen", flüsterte Romarus Mutter und schaute nervös zur Tür, als müsse sie sich vergewissern, dass sie tatsächlich allein waren.

Wieder fiel Tamira auf, dass sie viel jünger sein musste, als sie wirkte. Dreißig vielleicht, wenn überhaupt. Sie sank auf den Stuhl zurück und wartete.

Die Frau schob die Hand in die Tasche ihres bunten, landestypischen Rockes und holte einen vielfach gekniffenen Zettel heraus. "Das hing an unserer Tür, als ich mit Romaru an dem Tag nach Hause kam. Mein Mann darf nicht erfahren, dass ich Ihnen das zum Lesen gebe. Er glaubt, dass ich den Brief weggeworfen habe. Wir haben Angst, große Angst." Mit diesen Worten hatte sie das Blatt entfaltet und legte es nun mit bebenden Fingern vor Tamira auf den Tisch.

Der 'Brief' bestand lediglich aus zwei Zeilen. Doch der Inhalt beantwortete viele Fragen.

'Zu niemandem ein Wort davon, was mit Ihrem Sohn geschehen ist. Zu niemandem! Wir wissen, wo ihre Familie lebt und dass der Junge zwei kleine Brüder hat.'

Tamira nickte verstehend. Sie faltete den Bogen wieder zusammen und wollte ihn zurückgeben, doch die Frau schüttelte hastig den Kopf. "Behalten Sie ihn!", stieß sie hervor. "Ich lebe in ständiger Angst, dass mein Mann herausbekommt, dass ich Sie angerufen habe. Wenn er erfahren sollte, dass ich den Zettel heimlich aufgehoben habe, um ihn Ihnen zu zeigen, weiß ich nicht, was er tut. Aber ich wollte, dass Sie wissen, warum wir nichts unternommen haben."

Wieder nickte Tamira. "Das verstehe ich. Wir werden weg sein, wenn Ihr Mann nach Hause kommt." Sie ergriff die Hände von Romarus Mutter und drückte sie sanft. "Sie haben sehr viel Mut bewiesen, Señora Vermosa. Es tut mir so leid, was Ihrer Familie passiert ist."

"Nanita", schniefte die Frau und lächelte unter Tränen. "Mein Name ist Nanita."

"Ich bin Tamira. Und jetzt werde ich nachschauen, wo meine Freunde sind, damit wir zurückfahren können. Vielen Dank. Sie haben uns sehr geholfen."


13. Juni 2024, Donnerstag, 15:30 Uhr

Carmelita, Guatemala


Sie hatten das große Plateau im Osten des Dorfes erreicht, auf dem das Mahagoniholz aus dem Regenwald zwischen­gelagert wurde. La'ith war bis zum Rand des Areals gegangen und dort stehengeblieben. Vor ihm lag ein Steilhang, der nach Süden abfiel. Zu seinen Füßen dehnte sich dichter Dschungel.

Der Angriff kam völlig unerwartet. Tiana, die nahe der Hütte gestanden hatte, sank beinahe lautlos zu Boden. Doch La'ith hatte das kaum hörbare Platschen, mit dem ihr Körper im Schlamm landete, vernommen.

Er fuhr alarmiert herum, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu tun. Das, was ihn traf, war um ein Vielfaches stärker. Und das hatte seinen Grund.

Es sollte ihn töten.

Ort und Zeitpunkt für den Angriff waren perfekt gewählt. Während Tiana liegenblieb, wo sie gefallen war, sah die Situation für ihn wesentlich schlechter aus.

Der plötzliche, grelle Schmerz im Kopf, der jegliche andere Wahrnehmung mit einem Schlag ausschaltete, ließ ihn auf die Knie fallen. Alles versank in undurchdringlicher Schwärze. Er kippte zur Seite, rutschte über den Rand und rollte bewusstlos den Abhang hinab. Schlaff wie eine Gliederpuppe prallte sein Körper dabei mehrfach gegen Baumstämme und blieb schließlich weit unten im Wald liegen. Die üppig wuchernde Vegetation hatte ihn verschluckt wie ein gefräßiges, grünes Monster.

Hinter dem Wellblechschuppen, der in der Mitte des Holz­lagerplatzes stand, kam eine Person mit einem Kapuzen­poncho hervor. Sie ging gemächlich hinüber an den Rand des Plateaus und sah hinunter. Forschend fixierte ihr Blick das grüne Dickicht zu ihren Füßen. Unten regte sich nichts. Nach einer Weile schien sie überzeugt, dass der Begleiter der Zielperson außer Gefecht gesetzt war. Sie drehte sich um und stieß einen scharfen, kurzen Pfiff aus.

Gleich darauf trat ein kräftiger Mann mit raspelkurzen Haaren und ausdruckslosem Gesicht aus dem Schuppen und ging zu der bewusstlosen Tiana. Mit einer Leichtigkeit, als wäre sie eine Strohpuppe, hob er sie auf seine Schultern. Sein Gefährte mit dem Poncho war inzwischen auch herbei­gekommen, stellte sich neben ihn und einen Wimpernschlag später waren alle drei verschwunden. Das Plateau lag verlassen. Der Regenwald dampfte und der nun wieder herabrauschende Regen schluckte die Geräusche des Dschungels fast vollkommen.


13. Juni 2024, Donnerstag, 16:50 Uhr

Carmelita, Guatemala


Als Tamira aus dem Haus trat, fand sie weder La'ith noch Tiana vor der Tür. Stirnrunzelnd sah sie auf den MFA. Der abgesprochene Zeitpunkt für die Rückfahrt war gekommen.

Einen Moment sah sie zum regenverhangenen Himmel hinauf, dann setzte sie sich auf die oberste Stufe der Veranda. Irgendwo anders zu warten erschien ihr sinnlos. Die beiden waren sicher gleich zurück.

Nach einer halben Stunde begann sie sich Sorgen zu machen. Das passte nicht zu La'ith. Er würde hier sein, wenn er könnte. Schließlich hatte er den Zeitpunkt selbst festgelegt, damit sie nicht in der Dunkelheit zurückfahren mussten.

"GPS von Tiana!", verlangte sie von dem kleinen Gerät am Handgelenk und starrte ungeduldig auf das Display.

Der blinkende, rote Punkt erschien sofort. Sie waren also im Dorf.

Entschlossen verkündete sie Romaru, der neben ihr auf den Stufen hockte, dass sie nach ihren Freunden suchen würde.

Der Junge nickte und sprang ebenfalls auf. "Ich helfe dir und ich hole noch jemand." Er drehte sich um und rannte davon.

Durch den strömenden Regen eilte sie auf dem schlammigen Pfad entlang bis zu der Stelle, wo sie ihren Wagen zurück­gelassen hatten. Er stand mitten auf dem Dorfplatz, der das Herz der Siedlung war. Die Häuser, von denen manche eher die Bezeichnung Hütten verdienten, gruppierten sich lose um ihn herum, entlang von Wegen, die von ihm abzweigten, um irgendwann im Dschungel zu enden.

Sie überquerte den Dorfmittelpunkt und lief am Wagen vorbei. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie etwas, was sie stehen bleiben und zurückschauen ließ.


In der Heckscheibe des Toyota gähnte ein großes, gezacktes Loch. Scherben lagen neben der Stoßstange im Schlamm.

Eine eiskalte Hand griff nach Tamiras Herz. Jemand war in das Auto eingebrochen. Die Rucksäcke, schoss es ihr durch den Kopf, die Papiere, das Geld!

Ein Blick durch das Loch zeigte ihr sofort, dass das Satellitentelefon fehlte. Jemand hatte es gestohlen. Und das war nicht alles. Als sie zwischen den scharfzackigen Scherben hindurch ins Innere des Land Cruisers spähte, konnte sie die Rucksäcke nirgends entdecken. Der Dieb hatte alles mitgenommen. Sie besaßen weder Ausweise noch Geld.

Während ihr Herz vor Schreck zu rasen begann, stieg ein unbändiger Zorn in ihr auf. Während sie versucht hatten, Romaru, einem der Dorfbewohner, zu helfen, waren sie von eben diesen unverschämt ausgeraubt worden.

Sie winkte Romaru herbei, der mit seinen Freunden ein paar Schritte entfernt stand und sie mit bangem Blick beobachtete. "Hol den Dorfvorsteher!", befahl sie.

Der Junge nickte hastig und stob davon. Zwei Minuten später stand er mit einem betreten blickenden Mann vor ihr, der seinen speckigen und triefenden Strohhut nervös in den Händen drehte. Er hörte sich ihre erboste Beschwerde an und versprach, im ganzen Dorf nach dem Dieb zu forschen. Es war ihm sichtbar peinlich, dass die Ausländer bestohlen worden waren. Tamiras Ankündigung, dass sie Anzeige erstatten und dann die Polizei hier auftauchen würde, versetzte ihn in helle Aufregung.

Sie sah dem eilig Davoneilenden nach und erbat sich von Romaru eine Regenplane, mit der sie die zerschlagene Heckscheibe abdecken und das Innere des Mietwagens vor dem Regen schützen konnte.

Nachdem sie mit Hilfe der Jungen das Loch zugehängt hatte, liefen sie gemeinsam weiter bis zu der Stelle, von der das GPS-Signal kam, das als roter Punkt auf dem Bildschirm blinkte. Es war ein großflächiger Holzlagerplatz am Ostrand des Dorfes.

Doch sie konnten weder Tiana noch La'ith entdecken. Beide waren nirgends zu sehen und ihre Rufe verhallten ohne Antwort.

Ein Junge kam auf sie zu und blieb in respektvollem Abstand stehen. Auf ihren Wink hin trat er näher und reichte ihr einen MFA.

Ihre Hand krampfte sich darum, als sie das schlammver­schmierte kleine Gerät als Tianas erkannte und in die Tasche ihrer Cargohose schob.

Wieso hat sie ihn abgenommen, fragte sie sich, und wo ist sie hingegangen?

Als sie La'iths GPS anzeigen ließ und sich der Stelle nähern wollte, sank ihr der Mut. Der Holzlagerplatz ging abrupt in einen steilen Abhang über und die Abbruchkante zwang sie stehenzubleiben. Irgendwo weit da unten am Fuß eines Hanges war das Signal und bewegte sich nicht.

"La'ith!", schrie sie und lauschte angespannt, "Tiana!" Doch nur das Echo hallte über die dampfende grüne Hölle zu ihren Füßen.

Was tat er da so ganz allein? Oder war Tiana bei ihm und hatte nur den MFA hier verloren? Das Herz schlug ihr vor Sorge hart gegen die Rippen, während ihr Blick nach einer Möglichkeit suchte, ohne abzurutschen zum unteren Ende des Steilhangs zu gelangen. Aber es gab keinen Pfad, geschweige denn einen richtigen Weg.

Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf den Abhang und wäre fast abgeglitten auf dem glitschigen Gras.

Romaru packte sie am Arm. "Wo willst du hin?", fragte er alarmiert und besorgt zugleich.

"Ich muss da hinunter." Sie wies mit dem ausgestreckten Finger auf das grüne Dickicht zu ihren Füßen.

Der Junge schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf. "Du kannst nicht allein in den Wald!" Er überlegte einen Augenblick. "Warte hier", stieß er hervor, dann rannte er mit den drei anderen davon.

Nur Minuten später hatte sich eine Gruppe Männer um sie versammelt. Nachdem sie hastig erklärt hatte, was sie vorhatte, und warum sie da hinab wollte, zogen sie bedenkliche Gesichter und brachten viele Argumente an, die sie zurückhalten sollten.

Sie wischte sie alle mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. Doch erst als sie verkündete, dass sie den Abstieg notfalls ohne Hilfe wagen würde, erklärten sie sich bereit, mit ihr dort hinunterzusteigen. Doch nicht über den Abhang, sondern außen herum. Ein zeitaufwändiger Umweg, der nicht zu vermeiden war.

Tamira war der Zeitverzug nicht recht, aber ihr blieb keine Wahl. Die Männer kannten diesen Ort besser als sie.

Bald darauf hatten sie das Dorf hinter sich gelassen und wanderten bei strömendem Regen im Gänsemarsch durch den Dschungel, um den vom roten Punkt markierten Ort zu erreichen. Er verharrte an derselben Stelle, La'ith hatte sich kein einziges Mal bewegt. Immer wieder rief einer der Männer laut seinen Namen, doch es kam keine Antwort. Nur der Regen rauschte ununterbrochen herab und prasselte auf die breiten Blätter der Pflanzen.

Inzwischen war Tamira überzeugt, dass sowohl Tiana als auch La'ith etwas zugestoßen war. Und ganz zaghaft meldete sich der Gedanke, dass sie auch nur La'iths MFA und nicht ihn selbst finden würden. Das gestohlene Satellitentelefon und die verschwundenen Rucksäcke hingen mit Sicherheit mit dem Verschwinden der Freunde zusammen.

Es geht viel zu langsam vorwärts, dachte sie ungeduldig, wir müssen uns mehr beeilen! Am liebsten wäre sie vornweg gerannt, um rascher bei ihm zu sein. Doch einer der Männer aus dem Dorf hatte sie vorhin am Arm gepackt und zurückgerissen. Erst im Schein der Fackel war die züngelnde Schlange am Boden vor ihr sichtbar geworden. Danach lief sie folgsam, aber nicht weniger ungeduldig in der Mitte der Gruppe.

Kurz bevor sie die angezeigte Stelle erreichten, wurde der Wald dichter und sie kamen nur noch im Schneckentempo voran. Scharfe Macheten fuhren zischend durch saftiges Grün und sehnige, braune Arme zerrten die abgetrennten Pflanzenteile beiseite. Immer wieder schreckten sie Schlangen und Spinnen auf. Inzwischen war es finster geworden und die Männer hatten mitgebrachte Fackeln entzündet. Der Dschungel war fast undurchdringlich. Doch Tamiras MFA lieferte die Koordinaten und so kamen sie der Stelle näher.

Bis der rot leuchtende Punkt plötzlich verschwand.

Sekundenlang starrte Tamira fassungslos auf den winzigen Bildschirm an ihrem Handgelenk, dann presste sie verzweifelt die Lider zusammen. Ohne diese Anzeige hatten sie keine Chance, La'ith zu finden, wenn er sich nicht bemerkbar machen konnte. Noch einmal riefen sie mit vereinter Stimme nach ihm und schwiegen dann, um zu horchen. Doch es blieb still.

Die Männer wollten zurückgehen.

Alles in ihr sträubte sich dagegen, die Gefährten irgendwo im Dschungel zurückzulassen, aber ihr Widerspruch perlte an der Vernunft ihrer Begleiter ab wie das Regenwasser an den dickfleischigen grünen Blättern. Es sei sinnlos, im Dunkeln weiterzusuchen, beschied man ihr. Also kehrten sie um und gingen auf demselben Weg ins Dorf zurück.

Wo bist du, La'ith, schrie sie in Gedanken, während sie hinter den Männern her stolperte, Tiana, La'ith, wo seid ihr? Verzweifelt und niedergeschlagen setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie wieder auf dem Dorfplatz stand und überlegte, was zu tun war. Der Autoschlüssel war nicht da, La'ith trug ihn bei sich. Handyempfang gab es nicht. Der Laden besaß zwar ein Telefon, war aber jetzt geschlossen und der Betreiber, der in San Andrés wohnte, längst auf dem Heimweg. Und das Satellitentelefon war verschwunden. Sie konnte keine Hilfe herbeirufen.

Ein Mann bot ihr an, sie mit dem Wagen nach San Andrés zu bringen. Doch sie lehnte ab. Es wäre ihr ein Leichtes, den Toyota kurzzuschließen, aber sie wollte nicht wegfahren, solange sie nicht wusste, was geschehen war. Wenn es sein musste, würde sie die ganze Nacht neben dem Auto stehen bleiben und warten.

Die Aufregung und die abendliche Kühle ließen Tamira zittern, als sie sich bei den Männern für die Hilfe bedankte. Nanita, von ihrem Sohn herbeigeholt, konnte sie schließlich mit energischem Drängen dazu bewegen, wieder in ihr Haus zu kommen. Die Frau war erfreut, etwas tun zu können. Sie legte ihr eine Decke um, machte Wasser für ein Bad heiß und setzte ihr Tee vor.

Während sie sich bemühte, ihr Zittern in den Griff zu bekommen, um wenigstens die Tasse anfassen zu können, überlegte Tamira fieberhaft, was sie tun sollte. Sollte sie doch das Angebot des Mannes annehmen? Nein, selbst für Einheimische war die Straße in der Dunkelheit gefährlich.

Sie stützte die Stirn in die Hände.

Viele Möglichkeiten für unvorhergesehene Zwischenfälle hatten sie vorher durchgesprochen, doch eine, bei der gleich zwei von ihnen einfach spurlos verschwanden, war nicht dabei gewesen.

Verschwanden …

Spurlos verschwunden, wiederholte eine Stimme in ihrem Kopf.

Etwas machte Klick in Tamiras Gedächtnis. Sie riss die Augen auf und starrte auf die blankgescheuerte Platte des Küchen­tisches. Was, wenn der Stealer bei all dem seine Hände im Spiel hatte? Wenn sie hier von ihm erwartet worden waren? Und wenn man das Telefon gestohlen hatte, damit sie keine Hilfe herbeirufen konnte? La'ith mit seiner Gabe dürfte ein absoluter Glücksgriff für ihn sein. Sollte sich das Ganze etwa als eine ausgeklügelte Falle entpuppen?

Misstrauisch schielte sie zu Señora Vermosa hinüber, die summend an dem einfachen Herd stand und Kartoffeln schälte. Romarus jüngere Brüder spielten in einer Ecke mit einem Kreisel und kicherten jedes Mal, wenn sie zu ihnen hinüberblickte.

Mit einem Schlag fühlte sich Tamira entsetzlich einsam. Die Angst um die beiden Gefährten begann sie zu lähmen. Der Gedanke, dass sie sowohl La'ith als auch Tiana orientierungslos und ohne jegliche Erinnerung an ihr voriges Leben wiederfinden könnten, verursachte ihr Gänsehaut.

Reiß dich zusammen, herrschte sie sich in Gedanken an' es kann alles ganz harmlos sein.

Doch sie vermochte nicht sich selbst etwas vorzumachen. La'ith war nicht zum verabredeten Zeitpunkt dagewesen und auch später nicht gekommen, also war es nicht harmlos. Es war schlimm. Tamira biss die Zähne zusammen. Sie wusste, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde.

Plötzlich vermisste sie ihre ältere Schwester. Die traumatische Kindheit hatte zwar Spuren bei ihnen beiden hinterlassen, aber durch gemeinsames, eisenhartes Training und strenge Selbstdisziplin hatten sie zusammen den Weg zurück ins Leben und in die Normalität gefunden. Ihre Schwester war schneller gewesen, sie hatte die Ermordung der Eltern besser verkraftet und ihr ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet, ihr dabei zu helfen.

Nanita Vermosa holte Tamira in die Wirklichkeit zurück, indem sie ihr die Decke von den Schultern nahm, sie an der Hand fasste und über die Hintertür nach draußen führte. Hinter der Hütte war ein schmaler, überdachter Verschlag, in dem eine Badewanne aus Zink stand. Ein bunter Vorhang bildete den einzigen Sichtschutz vor fremden Blicken.

Tamira war das egal. Sie fror sowohl innerlich als auch äußerlich und sie war dankbar für die warmherzige Fürsorge der Frau.

Romarus Mutter tätschelte ihr mitfühlend den Arm und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Tamira nickte, dann verschwand sie mit einem leisen Gracias in dem dampfenden Verschlag und streifte die klatschnassen Shorts und das Shirt ab. Ihre Boots waren voller Schlamm. Langsam stieg sie in das heiße Wasser und seufzte wohlig.

Eine Hand langte unter dem Vorhang hindurch und nahm ihre nassen Kleider weg. Auch die Schuhe verschwanden. Dann hörte Tamira durch das offene Fenster die energische Stimme von Romarus Mutter im Haus. Sie ließ sich tiefer ins Wasser sinken und legte den Nacken auf den harten Rand der Zinkwanne.

Automatisch fielen ihr die Augen zu. Eine Weile döste sie vor sich hin, bis eine tiefe Männerstimme sie aufschreckte. Romarus Mutter erwiderte etwas. Tamira verstand den Wortwechsel nicht, denn das Trommeln des Regens auf dem Wellblechdach übertönte alles.

Jetzt kam Nanita wieder heraus, brachte ein bunt gestreiftes Tuch zum Abtrocknen und murmelte hastig, dass ihr Mann von der Arbeit zurückgekommen sei. Als sie ihm erzählt hatte, was für ein Gast unter ihrem Dach weilte, war er zuerst nicht begeistert gewesen. Fremde im Haus erregten unnötiges Aufsehen im Dorf. Doch die Gebote der Gast­freundschaft waren stärker und er gab nach. Im Anschluss hatte er staunend von seiner Frau gehört, was am Nachmittag geschehen war und schließlich sogar überlegt, ob er mit anderen Männern noch einmal auf die Suche nach den Verschwundenen gehen sollte. Nur der strömende Regen und die Gefahren, die in der Dunkelheit im Dschungel lauerten, hatten ihn davon abgehalten.

Eine Stunde später rollte sich Tamira auf einer Matte auf dem Küchenfußboden zusammen. Die ganze Familie hatte gemeinsam zu Abend gegessen und war danach zu Bett gegangen. Nach und nach verstummten alle Geräusche in dem einzigen Schlafraum der engen Hütte.

Sie lag still und starrte mit brennenden Augen in die Dunkelheit. Irgendwo tropfte Wasser. Wahrscheinlich war das Dach an einer Stelle nicht ganz dicht.

Ein unhörbarer Seufzer entrang sich ihr. Wo mochten La'ith und Tiana sein? Was war ihnen passiert?

Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn der Schrei eines Tieres im Dschungel ließ sie erschrocken zusammenfahren und den Kopf heben. Mehrere andere Tiere fielen in das Geschrei ein, es war ein fürchterlicher Lärm. Vielleicht hatte ein Jaguar eine Gruppe Brüllaffen beim Schlafen gestört.

Es war noch stockdunkel draußen. Zwischen den Lamellen des Fensterladens ließ sich kein Tageslicht erkennen. Wann würde die Sonne aufgehen?

Seufzend schloss sie die Augen wieder. Der Regen, der auf das Dach trommelte, konnte einen in den Wahnsinn treiben. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, dabei einschlafen zu können. Doch die Erschöpfung war stärker gewesen.

Beim Gedanken an den gestrigen Abend wurde sie erneut von Verzweiflung überrollt. Tiana und La'ith waren verschwunden. Wären sie wiederaufgetaucht, hätte man sie mit Sicherheit geweckt. Aber niemand hatte ihren Schlaf gestört.

Zuerst musste sie heute also mit dem Bus nach San Andrés fahren und mit Sadik telefonieren. Er würde wissen, was zu tun war, und vielleicht sogar auf der Stelle herkommen, mit Gaz und dem Polizisten Trajan im Gepäck. Schließlich war Tiana dessen Schwester.

Da lag sie nun, sie, die den Guardians beibrachte, in schwierigen Situationen nicht den Mut zu verlieren, sich auf das Wesentliche zu besinnen und die eigenen Emotionen zu kontrollieren. Er war absurd, aber gerade jetzt schnürte ihr die Angst die Kehle zu. Diese Reise war ihre Idee gewesen, La'ith und Tiana hatten sie begleitet und nun waren sie …

Am liebsten hätte sie ihre eigenen Gedanken ausgesperrt, um diese Stimme im Kopf nicht mehr hören zu müssen. Entschlossen setzte sie sich auf und begann mit den Konzentrationsübungen, mit denen sie immer die Unterrichtsstunden im Mentaltraining eröffnete. Die gewohnten Abläufe und Worte, die sie leise vor sich hinsprach, beruhigten sie und die Panik wich zurück. Es würde alles in Ordnung kommen.


13. Juni 2024, Donnerstag, 21:30 Uhr

Im Dschungel, Guatemala


Das Muli suchte sich trittsicher seinen Pfad auf dem schlammigen Untergrund. Ununterbrochen strömte der Regen, aber Nacho störte das nicht.

Es war am einfachsten, das Tier vorangehen zu lassen, denn es kannte den Weg. Und da es inzwischen stockfinster war, hatte es sowieso keinen Sinn, die Führung zu übernehmen.

Er ärgerte sich, dass so viel Zeit verlorengegangen war, denn er hatte erst quer durch den Dschungel zu seiner Unterkunft laufen müssen, um Nacho zu holen. Dann hieß es, mit dem Tier einen weiten Bogen zu schlagen, um zu der Stelle zurückzukehren. Das Dickicht war schier undurchdringlich und seine Machete hatte viel zu tun, bis sie endlich wieder da waren. Beinahe wäre er unterwegs auf eine Korallenschlange getreten. Doch Nacho scheute und deshalb hatte er sie rechtzeitig bemerkt. Das Muli wäre um Haaresbreite auf und davon gewesen, nur sein rascher Griff nach dem Zügel hatte es verhindert. Sonst ein absolut zuverlässiger Gefährte, zeigte das Tier eine unbeschreibliche Furcht vor Schlangen. Und da es im Regenwald reichlich davon gab, passierte es ab und zu, dass es die Ohren flachlegte und bockte oder gar seinen Reiter abwarf, um panisch davonzustürmen.

Doch trotz aller Hindernisse und zunehmender Dunkelheit hatten er und sein vierbeiniger Kamerad es geschafft und die Stelle wiedergefunden.

Alles war unverändert gewesen. Der Mann hatte dagelegen, bewegungslos, mit dem Gesicht nach unten. Aber er lebte. Arrojo hatte auf ihn aufgepasst.

Mit viel Mühe war es ihm gelungen, den Bewusstlosen auf den Rücken des Mulis zu hieven und dort festzubinden, damit er auf dem Weg nicht herunterrutschte. Dabei war ihm das Gerät aufgefallen, das der Mann am Handgelenk trug. Rasch hatte er es abgenommen, ausgeschaltet und eingesteckt. Dann waren sie zusammen aufgebrochen, um zu seiner Bleibe zurückzukehren. Nacho mit seiner Last vornweg, dahinter er und Arrojo am Schluss.

Die Hälfte des Weges hatten sie inzwischen geschafft. Bald würden sie sein Heim erreicht haben.

"Todo estará bien, compañero", murmelte er, obwohl er wusste, dass der andere ihn nicht hörte. "Alles wird gut."

GUARDIANS - Der Verlust

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