Читать книгу GUARDIANS - Der Verlust - Caledonia Fan - Страница 13

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~~~ KAPITEL 5 ~~~


14. Juni 2024, Freitag, 03:00 Uhr

Darach Manor, England


"Sie sind zwei volle Stunden über der Zeit. Da ist was passiert!"

Trajan lief im Besprechungsraum hin und her wie ein Tier im Käfig.

"Zum Donnerwetter, jetzt setz dich endlich hin. Du machst uns alle verrückt!", grollte Sadik. Er wurde selten laut, deshalb blieb Trajan stehen und drehte sich überrascht zu ihm um.

"Was denkst du, woran es liegt?", verlangte er zu wissen.

Der Ausbilder und Chef der Guardians stöhnte. "Das hatten wir doch schon mindestens dreimal. Ich habe keine Ahnung. Es kann so viel sein. Netzprobleme, eine Panne mit dem Wagen, schlechter Straßenzustand, was weiß ich. Vielleicht übernachten sie in dem Dorf. Es ist Regenzeit, vielleicht hat es einen Erdrutsch gegeben, der die Straße weggerissen hat?" Er hob in einer ratlosen Geste die Hände. "Wir haben Tamiras GPS-Signal. Sie ist in Carmelita. Keine Ahnung, wieso das von Tiana und La'ith verschwunden ist. Vielleicht sind sie in einer Höhle und der Dschungel kann das Signal ebenfalls abschirmen. Ich weiß es doch nicht." Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch den angegrauten Schopf. "Ich versuche weiter stündlich sie damit zu erreichen." Er legte seine Rechte auf das Satellitentelefon, das vor ihm auf dem Tisch stand. "Etwas anderes als warten können wir nicht. Wenn sie sich bis morgen Mittag nicht gemeldet haben, fragen wir im Hotel nach. Bis dahin halten wir die Füße still. Alle, auch du."

Der Blick, mit dem er Trajan ansah, sprach Bände. Er würde keine Missachtung dieser Anweisung dulden. Wenn es nötig war, warf er seine Autorität als Chef der Guardians in die Waagschale.

Doch Trajan, der sein nervöses Hin-und-her-Wandern wieder aufgenommen hatte, fuhr herum. "Verdammt, das ist keine Mission der Guardians", brüllte er erbost und funkelte Sadik wütend an. "Du hast mir gar nichts vorzuschreiben! Und wenn ich heute Nacht noch nach Guatemala fliegen will, kannst du mich nicht aufhalten!"

Heftig atmend rang Tianas Bruder um Beherr­schung. Er wusste, dass Sadik ebenfalls besorgt war, nur hatte der sich besser im Griff. Aber es war ja auch nicht seine Schwester, deren GPS-Signal vom Satelliten nicht mehr empfangen wurde.

Der Polizist wusste, dass er dem Chef eigentlich dankbar sein sollte. Wenigstens einer musste einen kühlen Kopf behalten. Er selber war momentan nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

"Wir verstehen deine Sorge, Trajan, aber Sadik hat Recht." Gaz, der neben seinem Bruder saß, warf einen Blick auf die Uhr. Mitternacht war vor drei Stunden gewesen. "Es hilft niemandem, wenn du dich aufreibst vor Sorge. In Flores ist es erst kurz nach neun. Der Anruf kann also immer noch kommen. Ich schlage vor, wir gehen jetzt alle schlafen. Am Morgen sehen wir weiter." Nachdem er sich bei seinem Bruder vergewissert hatte, dass er zustimmte, klatschte er beide Hände auf die Oberschenkel. "Na dann."

"Gute Nacht euch allen." Sadik war ebenfalls aufgestanden, machte aber keine Anstalten, den Besprechungsraum zu verlassen. Das altmodische Satellitentelefon stand hier auf dem Tisch und er würde - wie versprochen - stündlich einen Versuch unternehmen, die drei in Guatemala zu erreichen. Es musste sich sowieso ständig jemand im Raum aufhalten, damit ein eventuelles Klingeln nicht überhört wurde.

"Ich bleibe hier beim Telefon", verkündete Trajan.

"Keine gute Idee." Sadik schüttelte den Kopf. "Lass mich hier schlafen. Du musst nachher zum Dienst und deine Nacht ist schon kurz genug. Ich verspreche dir, dass ich dich wecke, wenn eine Nachricht eintrifft."

Tianas Bruder nickte zögernd, fast widerwillig, dann verschwand er.

"Was denkst du?", fragte Gaz leise, nachdem alle hinaus­gegangen waren.

Um ein Uhr hatte Tamira sich melden wollen. In Flores war es da abends um sieben. Früher konnten sie nicht aus Carmelita zurückkommen. Doch Sadiks Handy hatte bislang nicht geklingelt.

Der seufzte.

"Du weißt die Antwort. Es ist irgendetwas schiefgegangen. Auch wenn ich Trajan beruhigen konnte - ich selbst glaube nicht, dass wir am Morgen etwas von ihnen hören werden. Vor Mittag wird sich nichts tun, dann ist es dort gerade erst sechs Uhr früh. Ich bin sicher, dass etwas geschehen ist. Hoffentlich verschwindet Tamiras Signal nicht auch noch."

Gaz erwiderte nichts. Ihm war vorhin schon klar gewesen, dass Sadik vorhatte, hier auf dem Sofa den Rest der Nacht zu verbringen. Sein Bruder fühlte sich verantwortlich, obwohl es keine Mission der Guardians war.

"Dann schlaf gut", brummte er und gab ihm einen Fauststoß an die Schulter. Mit einem Seufzer drehte er sich um und verließ den großen Raum mit den bequemen Ledermöbeln, in dem man alle Besprechungen abhielt und der auch gern als Aufenthaltsraum genutzt wurde.

Sekunden später fiel das schwere Eingangsportal dumpf hinter ihm ins Schloss und er lenkte seine Schritte entlang der solarbetriebenen Leuchtstreifen am Gehweg hinüber zum Kutscherhaus.


14. Juni 2024, Freitag, 05:30 Uhr

In Guatemala


Tiana erwachte in vollkommener Finsternis. Einen Augenblick brauchte sie, um sich zu erinnern, was passiert war. Der Holzplatz … Regen …

Stimmen drangen an ihr Ohr. Die Sprecher befanden sich nicht bei ihr im Raum. Und sie sprachen spanisch.

Dann bemerkte sie, dass sie eine Augenbunde trug und ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Sie konnte ihren MFA nicht erreichen. Auch ihre Knöchel hatte man zusammengebunden. Sie lag auf einer weichen Unterlage und es war nicht kalt.

Tief durchatmend besann sie sich auf Tamiras Unterricht. Erstens: Den eigenen Zustand überprüfen! Hören klappte einwandfrei und wenn man von den Fesseln absah, konnte sie sich bewegen. Offensichtlich war sie unverletzt, nur Kopfschmerzen spürte sie. Das war beruhigend.

Sie atmete erleichtert auf. Im Ertragen von Schmerzen war sie nie gut gewesen und hatte sich als Kind damit reichlich Spott von ihrem Bruder eingehandelt.

Zweitens: In welcher Situation befinde ich mich? Was ist passiert?

Dass sie mit Tamira und La'ith nach Guatemala gekommen war und warum, wusste sie. Auch dass La'ith sich den Spanner hatte vorknöpfen wollen und sie mit ihm gegangen war. Über die schlammige Straße hatten sie sich in Richtung Osten bewegt, an ihrem Auto vorbei. Schweigend, weil sie wegen La'iths Bemerkung noch immer beschämt und verärgert war. Dann war da dieser riesige Holzlagerplatz gewesen, eine planierte Fläche mit einem großen Wellblechschuppen in der Mitte. Nach Süden hin war sie in einen steilen Abhang übergegangen, von dessen Kante aus man weit über den Dschungel hinwegsehen konnte. La'ith hatte dort am Rand gestanden … und dann?

Ja, da war der Filmriss. Was danach kam, fehlte. Auch wie sie hierher gelangt war, wusste sie nicht.

Wie spät mochte es sein? Wie viel Zeit war vergangen zwischen Blackout und Aufwachen? Wo waren La'ith und Tamira? Auch hier und gefesselt? Sie hatte keine Möglichkeit, es herauszufinden, ohne sich bemerkbar zu machen. Alles, was ihr blieb, war intensiv zu lauschen. Doch außer den Stimmen, die sie vorhin schon gehört hatte, war nichts zu vernehmen. Ob die Freunde ihr GPS-Signal orten konnten?

"Tamira? La'ith?", flüsterte sie kaum hörbar. "Seid ihr hier?"

Es kam keine Antwort. Lauter zu sprechen traute sie sich nicht, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch nach einer Weile erschien ihr das albern. Irgendwann würde einer kommen und nachschauen, ob sie aufgewacht war.

"Hallo?", fragte sie lauter und mühte sich, die Worte sicher klingen zu lassen. "Ist jemand da?"

Die Stimmen verstummten und Schritte wurden hörbar, die näherkamen.

"Ah, Sie sind wieder wach", ließ sich eine sonore Männer­stimme vernehmen. Ihr Englisch hatte einen ausgeprägten spanischen Akzent. "Als Erstes muss ich Sie warnen: Versuchen Sie nicht, Ihre Gabe bei mir einzusetzen, denn dann müssten wir Sie leider knebeln."

Tiana erschrak. Woher wusste der Mann von ihrer Gabe?

"Sie haben lange geschlafen", fuhr er fort. "Ich muss mich für die Unannehmlichkeiten und die mangelhafte Unter­bringung entschuldigen. Doch da Sie sowieso nicht lange unser Gast sein werden, sollten Sie es ertragen können. In zwei Tagen sind Sie wieder in Carmelita."

In zwei Tagen?

Plötzlich klopfte ihr das Herz bis zum Hals.

"Welches Datum haben wir heute?", wollte sie wissen.

"Den vierzehnten Juni, Señorita Nasavic."

Er kannte nicht nur ihre Gabe, sondern auch ihren Namen … Eine weitere Alarmglocke schrillte in ihrem Kopf.

Der Knockout war demzufolge gestern gewesen, am Nachmittag. Und übermorgen sollte sie wieder in Carmelita sein. Drei Tage?

Zurück nach drei Tagen …

Die Erkenntnis schlug wie ein Blitz in ihren Verstand ein. Und gleichzeitig sprang die Angst sie an, schiere, würgende Panik. Sie war allem Anschein nach in der Gewalt dieses Irren, der anderen die Fähigkeiten nahm.

Mühsam beruhigte sie ihre Atmung. Panik hat keine Daseinsberechtigung, zu keiner Zeit, hörte sie Tamiras ruhige Stimme in ihrer Erinnerung, nur wer sich selbst beherrscht, ist in der Lage, die Situation zu beherrschen. Ein weiterer Satz, den sie schon unzählige Male gehört hatte.

Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass Tamiras Leitsätze einmal das Geländer vor dem gähnenden Abgrund ihrer Verzweiflung bilden würden. Schon gar nicht, nachdem sie bei den Guardians ausgestiegen war.

Noch einmal atmete sie tief durch, dann hatte sie ihre Gemütsverfassung wieder im Griff. Dankbar schickte sie in Gedanken einen Gruß an Tamira in der Hoffnung, dass es ihr gut ging.

"Wo sind meine Freunde?" Die Frage sollte gelassen klingen und sie hatte den Eindruck, dass ihr das gelungen war. Der dritte Teil begann: das Sammeln von Informationen.

"Es tut mir leid, ich weiß es nicht. Von Ihrer Begleiterin wollen wir nichts und der Mann wurde beseitigt. Wir können keine Zeugen gebrauchen. Ich nehme an, die Tiere des Dschungels kümmern sich um seine Überreste."

Das Geländer hielt nicht, was Tamira versprochen hatte. Es brach.

Tiana verlor den Halt. Stumm schreiend stürzte sie in den Abgrund der Verzweiflung. Der Brustkorb wurde ihr zu eng. Sie meinte, nicht mehr atmen zu können. Wenn sie nicht von der Binde bedeckt gewesen wären, hätten ihre Augen ihr namenloses Entsetzen verraten. Die auf dem Rücken gefesselten Hände mit den in die Handflächen gepressten Fingernägeln konnte der Mann glücklicherweise nicht sehen.

Es war La'ith, von dem er gesprochen hatte. Gerade war ihr erklärt worden, dass er getötet wurde. Einfach so. 'Beseitigt', als wäre er nichts anderes als ein lästiges Hindernis gewesen.

Mit eisernem Willen zwang Tiana Luft in ihre Lungen. "Warum ist meine Begleiterin nicht auch hier?" Sie hatte erst gesprochen, als sie ihrer Stimme wieder vertraute.

"Señora Genera hat eine Gabe, die für la dama Chel von keinerlei Nutzen ist. Die Frau ist deshalb uninteressant."

Die Antwort war so sachlich, als würde der Kerl eine Weinsorte zum Essen auswählen. Dabei entschied er damit über die Zukunft von Menschen.

Zorn stieg in ihr hoch, doch gleichzeitig spürte sie eine ungeheure Erleichterung. Wenn sie wirklich in der Gewalt dieses Verbrechers war, dann würde er ihr ihre Erinnerungen nehmen. Die an den Tod von Ahmad und die Ermordung von La'ith. Der Schmerz hätte endlich ein Ende. Sie würde die beiden nicht mehr kennen.

Und Tamira ging es gut. Sie war nicht behelligt worden, wenn dieser Mensch die Wahrheit sagte. Nur bei dem Gedanken an ihren Bruder überfiel sie Wehmut.

"Was wollen Sie von mir?", stieß sie hervor, bevor sie Gefahr lief, in Tränen auszubrechen. "Warum halten Sie mich hier fest?"

Der Mann lachte leise.

"Lassen wir die Spielchen. Sie wurden schon seit einer Weile observiert. Und seitdem Sie in Flores aus Ihrem schicken Privatjet gestiegen sind, waren Sie faktisch keinen Moment mehr unbeobachtet."

La'iths Bemerkung über die Person im Wald fiel ihr ein. Er hatte Recht gehabt mit seiner Vermutung. Und auf dem Holzlagerplatz war der perfekte Zeitpunkt gekommen, zuzuschlagen.

Ob La'ith noch dort war? Nein, der Mann hatte gesagt, die Tiere des Dschungels würden sich um seine Überreste kümmern. Sie hatten ihn irgendwo entsorgt, wie Müll …

"Wir wissen, warum Sie hergekommen sind", fuhr der Mann fort. "Der Junge wird Ihnen nicht weiterhelfen können. Keiner von denen, die einmal bei uns zu Gast waren, wird es können. Dafür wurde gesorgt. Doch umsonst war Ihre Reise nicht. Sie haben uns quasi einen Dienst damit erwiesen, denn auch Sie stehen auf unserer Liste, ebenso wie Ihr Bruder und noch andere von Ihrer geheimen kleinen Organisation."

Die letzten Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Der Mann wusste von den Guardians und mit Sicherheit auch, wo sich das Hauptquartier befand. Und die Schule ist in Gefahr, erkannte sie mit Schrecken.

Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, sprach er weiter. "Zwar war Ihre Ankunft nicht so früh geplant, doch das ist unerheblich. Natürlich werden Sie ebenfalls keine Erinnerung an uns und an diesen Ort haben, wenn Sie nach Carmelita zurückkehren. Aber das wissen Sie ja bereits."

Er murmelte leise etwas auf Spanisch, dann hörte Tiana eine ebenso gemurmelte Antwort. Sie war also die ganze Zeit nicht mit ihm allein gewesen.

"Wo bin ich?", stieß sie hervor und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. An La'ith zu denken war gefährlich, denn dann drohte ihre mühsam aufrecht­erhaltene Beherrschung zusammenzufallen wie ein Kartenhaus.

"Was nützt es Ihnen, wenn Sie es wissen? Dieser Ort ist gut verborgen, niemand kennt ihn, niemand kann ihn finden."

Der Mann war kalt wie Eis. Einen Augenblick erwog sie, trotz seiner Warnung ihre Gabe anzuwenden, um ihn zum Reden zu bringen. Doch da war noch jemand im Raum. Und der Kerl hatte Recht: Solange sie zu niemandem Kontakt aufnehmen konnte, war es egal, wo sie sich befand. Sie würde allein klarkommen müssen.

Mühsam schluckte sie.

"Und wie geht es jetzt weiter?"

"Wir warten. Bald ist la dama Chel wach. Alles Weitere wird dann entschieden."

Schritte entfernten sich und das Klacken von Absätzen hallte im Raum. Sie blieb allein zurück. Aber erst als sie das Geräusch einer sich schließenden Tür hörte, brach sie in Tränen aus.


14. Juni 2024, Freitag, 05:30 Uhr

Carmelita, Guatemala


Ein sanftes Rütteln an der Schulter ließ Tamira zusammenfahren und erschrocken die Augen aufreißen. Ihr Blick fiel auf Romarus Mutter, die sich über sie beugte.

Verwirrt setzte sie sich auf. Wie spät mochte es sein? Draußen dämmerte es gerade erst, aber Nanita Vermosa war bereits angezogen. Es roch nach Kaffee und frischer Ananas.

Das Nachthemd, das sie gestern Abend von der freundlichen Frau bekommen hatte, schlackerte um ihren Körper, als sie frierend unter der gestreiften Decke hervorkroch. Ihre Schuhe waren von dem roten Schlamm befreit worden und standen neben dem Herd. Über den Lehnen der drei unterschiedlichen Küchenstühle hingen ihre Kleidungs­stücke und sie schienen halbwegs trocken zu sein.

Die Frau raffte sie mit einem Griff zusammen, drückte sie Tamira an die Brust und drängte sie dann erneut in den kleinen Verschlag hinter dem Haus. Eine winzige Toilette und ein verzinktes Waschbecken neben der Badewanne boten die einzige Möglichkeit für die Hausbewohner, sich frisch zu machen.

Als Tamira zurückkam, stand eine Tasse dampfenden Tees neben einem Teller mit heißen Tortillas, Rührei, Ananas und gebackenen Bananen.

Tränen der Rührung stiegen ihr in die Augen. Das Frühstück war wahrhaft fürstlich und die Gastfreundschaft dieser Familie einfach überwältigend. Obwohl ihr die Kehle wie zugeschnürt war und sie setzte sich, um zu frühstücken, auch wenn sie keinen Bissen herunter zu bekommen glaubte.

Nanita Vermosa ermunterte sie zuzugreifen und rechtfer­tigte sich ein wenig verlegen für die Eile, mit der sie zum Essen drängte. Der Bus nach Flores würde in ein paar Minuten abfahren.

Während ihre Finger die duftenden Tortillas zerzupften, erwog Tamira noch einmal, den Wagen kurzzuschließen, um damit zurück ins Hotel zu fahren. Daran hatte sie gestern Abend schon gedacht, aber dann beschlossen, den Bus zu nehmen. Er war die beste Möglichkeit, von Carmelita wegzukommen. Und das musste sie unbedingt. Außerdem brachte sie es einfach nicht fertig, das Auto hier wegzufahren. Da war die leise Hoffnung, dass La'ith und Tiana doch noch …

Seufzend kaute sie das weiche Maisfladenbrot und schluckte mechanisch. Sie schmeckte nichts und aß nur, um die Frau nicht zu kränken.

Sadik und Trajan würden sich Sorgen machen. Der für gestern Abend vereinbarte Videochat hatte nicht stattgefunden und eine Nachricht von hier war lange überfällig. Wieder musste sie an ihre Schwester denken und sie fühlte sich schlecht dabei, ihr Sorge zu bereiten.

Aber viel mehr beschäftigte sie der Gedanke, was mit La'ith und Tiana geschehen war. Die Zweifel an ihrer Entscheidung, das Dorf zu verlassen, ließen sie nicht zur Ruhe kommen. War es richtig? Es fühlte sich an, als würde sie die Freunde im Stich lassen, einem unbekannten Schicksal überantworten, um sich davonzustehlen.

Draußen war eine Hupe zu hören. Der Bus.

Sie schluckte den letzten Bissen, trank den Tee aus, fiel der Frau um den Hals und umarmte sie fest, während sie Dankesworte stammelte und ihr erneut die Augen feucht wurden.

Nanita Vermosa erwiderte die Umarmung und schob sie dann zur Tür. Romarus Brüder hüpften trotz des frühen Morgens auf den Verandastufen herum und der Junge selbst lehnte am Pfosten des Vordaches und wartete auf sie, als sie aus dem Häuschen trat. Der Bus war gleichzeitig der Schulbus und die reichlich achtzig Kilometer lange Fahrt bis nach Flores würde - wenn es keine Zwischenfälle oder Hindernisse gab - zwei Stunden dauern. Also gegen acht Uhr könnte sie den Videochat führen. Nachmittags um zwei in England, dreizehn Stunden Verspätung. Viel Zeit bis dahin …

Der Diesel des klapprigen Busses brummte fast freudig auf, als der Fahrer nun den Gang einknüppelte und Gas gab. Das Gefährt bog langsam vom Dorfplatz auf die gerade Straße ein, die früher sogar die Landebahn für eine kleine Zweimotorige gewesen war, die in den Hochzeiten des Maya-Tourismus den Ort mit Waren versorgt hatte.

Es regnete wieder und im morgendlichen Zwielicht konnte sie den Dschungel dampfen sehen. Im Osten färbte sich die Wolkendecke orange.

Rumpelnd schaukelten sie am Toyota vorbei. Tamira sah den schweren Wagen unter der alten Armeeplane mit gemischten Gefühlen aus dem Blickfeld entschwinden.

Nun passierte der Bus das letzte Haus und die winkende Meute kleinerer Kinder blieb zurück.

Tamira sah aus dem Fenster. Es gab nichts zu sehen außer unterschiedlichen Grüntönen, die vorbeihuschten. Graue Wolken bedeckten den Himmel und der einzelne Scheibenwischer quietschte jämmerlich mit jedem Wischen. Der Dschungel rückte bis an den Straßenrand heran und manchmal ließ sich ein Tapir oder ein Pekari sehen. Bei Annäherung des Fahrzeuges verschwanden sie blitzartig im schützenden Grün.

Der Straßenzustand war miserabel und die ausgefahrenen Rinnen ließen die Passagiere auf den durchgesessenen Bänken hüpfen. Kreischen und ausgelassenes Geschrei zeugte von dem Spaß, den Romaru und die anderen Schulkinder dabei hatten.

Tamira wagte nicht den Kopf an die Scheibe zu lehnen, dafür rüttelte das Gefährt zu heftig. Wahrscheinlich musste der Bus in diesem Tempo fahren, um nicht in irgendeinem Schlammloch steckenzubleiben. Trotzdem ging es ihr nicht schnell genug.

Sie ließ ihren Blick schweifen. Keiner der fünf anderen Erwachsenen schien sich irgendwelche Sorgen zu machen. Die Kinder jubelten fröhlich, wenn das schaukelnde Gefährt mal wieder in eine Schieflage geriet. Der Fahrer mit seinem wettergegerbten Gesicht und dem qualmenden Zigarillo zwischen den Fingern der rechten Hand sang lauthals und falsch das Lied mit, das aus dem Radio quäkte. Einmal wandte er den Kopf und schenkte ihr ein breites, zahnloses Grinsen. Sie lächelte zurück und er freute sich.

Angestrengt kämpfte sie darum, sich zu entspannen. Die Fahrt, die vor ihr lag, war lang und es gab nichts, was sie tun konnte, bis sie in San Andrés ankamen. Einen Augenblick überlegte sie, bereits in San Jose auszusteigen, denn dort war das Polizeirevier. Aber auch wenn es gegen jede Logik schien - erst musste sie sich mit Sadik absprechen. Er würde festlegen, was zu tun war. Danach konnte sie die Vermisstenanzeige für die beiden immer noch aufgeben.


14. Juni 2024, Freitag, 06:00 Uhr

In Guatemala


Nur das jahrelange und unermüdliche Training ermöglichte La'ith die nötige Beherrschung, nicht zu stöhnen, als er langsam aus dem Nebel auftauchte.

Die Kopfschmerzen waren unerträglich. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand einen Ring um die Stirn gelegt, der viel zu eng war. Der Schmerz hämmerte im Rhythmus des Pulsschlages und ließ dabei farbige Schlieren hinter seinen geschlossenen Lidern flimmern.

Angestrengt rekapitulierte er, an was er sich erinnerte.

Guatemala. Sie waren in Mittelamerika, in einem kleinen Dorf. Wegen des Jungen.

Seine Erinnerung funktionierte, stellte er fest. Und im selben Moment fiel ihm Tiana ein. Vor seinem geistigen Auge sah er ihre zierliche Gestalt im Schlamm liegen, auf diesem Holzplatz, im strömenden Regen. War sie tot?

Der Gedanke fühlte sich an, als würde eine Faust seine Brust umschließen und erbarmungslos zusammendrücken. Rasch verdrängte er ihn. Er musste jetzt an sich denken. Angestrengt versuchte er sich zu orientieren und lauschte. Es war nicht leicht, neben dem Hämmern in seinem Schädel und dem Rauschen des Blutes in den Ohren ein Geräusch auszumachen, und eine Weile vernahm er gar nichts. Dann hörte er irgendwo Wasser tropfen, leise, aber stetig.

Um zu erfahren, wo er sich befand, hob er die Lider einen winzigen Spalt. Aber er sah nichts. Dunkelheit umgab ihn.

Doch, da … war etwas.

Ein Schimmer, den er trotz geschlossener Augen wahrnahm. Kein natürliches Licht, sondern … eine Lichtsignatur. Er konnte sie nicht direkt sehen, denn dazu hätte er den Kopf heben müssen. Undenkbar …

Er war tatsächlich nicht allein. Jemand hielt sich nahe bei ihm auf und derjenige war ein Energienutzer. Es konnten also weder Tamira noch Tiana sein.

Ein Fremder. Vielleicht die Person, die sie - verborgen im Wald - vorher schon beobachtet hatte?

Mühsam unterdrückte er den Drang, die Handballen auf die pulsierenden Schläfen zu pressen. Schmerzen durften ihn nicht beeinträchtigen, nicht sein Denken und erst recht nicht sein Handeln. Er war mit diesen Empfindungen groß­geworden und hatte gelernt, damit umzugehen.

Lage analysieren, rief er sich zur Ordnung. Was war passiert? Wo befand er sich? Hatte es jemand geschafft, ihn außer Gefecht zu setzen? Wenn ja - wie?

Es war sinnlos. Die Kopfschmerzen ließen ihn keinen klaren Gedanken fassen. Stattdessen versuchte er herauszufinden, ob er verletzt war.

Vorsichtig probierte er sich zu bewegen, was ihn scharf die Luft einziehen ließ. Sein rechter Arm, seine Hüfte, seine Wirbelsäule und seine Rippen … Alles tat so weh, dass er weitere Versuche sofort unterließ.

So leise das Geräusch, das er gemacht hatte, auch gewesen sein mochte, es war gehört worden. Er vernahm ein Rascheln und Schritte, die sich näherten. An seiner Seite verharrten sie, dann klickte ein Feuerzeug und gleich darauf drang der angenehme Geruch von Bienenwachs in seine Nase.

Eine Weile herrschte Stille, dann stellte eine männliche Stimme leise fest: "Du bist wieder aufgewacht …"

Es klang erleichtert.

Die Unterlage, auf der er lag, gab an seiner rechten Hüfte etwas nach. Jemand setzte sich an seine Seite. Vorsichtig schob sich eine Hand unter seinen Kopf, hob ihn behutsam an und ein Gefäß wurde an seine ausgetrockneten Lippen gehalten.

"Trink", forderte die Stimme ihn leise auf, "aber langsam."

Schon beim ersten Schluck musste er husten. Die Erschütterung verursachte stechenden Schmerz in der Brust und er schnappte nach Luft.

"Es schmeckt schlimm, ich weiß, aber es wird dir helfen."

La'ith hatte Durst, seine Zunge klebte am Gaumen. Der Sprecher hatte zwar recht und es war ein grauenhaft schmeckendes Gebräu, doch er leerte den Becher, ohne noch einmal innezuhalten.

Sein Kopf wurde vorsichtig wieder abgelegt, die Hand zurückgezogen. Ein leises Plätschern war zu hören, dann legte sich etwas Kühles auf seine Stirn.

"Hast du Schmerzen?"

Der Sprecher sprach spanisch mit ihm, doch La'ith hatte nicht vor zu verraten, dass er ihn verstehen konnte.

Statt einer Antwort öffnete er jetzt langsam die Augen.

Neben ihm saß ein junger Mann mit schwarzen Locken, einem Dreitagebart und den faszinierendsten Augen, die er je gesehen hatte. Er hatte eine Kerze angezündet, die auf einem kleinen Tischchen am Bettrand stand. Die sacht flackernde Flamme beleuchtete sein freundliches Gesicht und warf zuckende Schatten an die Wand hinter ihm.

Der Fremde ließ die Musterung geduldig über sich ergehen und erwiderte La'iths Blick offen. Als keine Antwort kam, wiederholte er seine Frage. Doch die einzige Reaktion, die er erhielt, war ein verständnisloser Blick.

Er seufzte leise, dann zog er kurz die Augenbrauen zusammen, als müsse er überlegen. "Schmerzen?", fragte er nun auf Englisch.

Jetzt sollte er seine Antwort bekommen. La'ith nickte kaum erkennbar und schloss wieder die Augen.

"Du … gefallen", hörte er und merkte, dass der junge Mann sich mühsam auf die Worte besinnen musste. "Gefunden … im Wald."

Im Wald?

La'iths letzte Erinnerung war der riesige Holzlagerplatz und Tiana, die im roten Schlamm lag …

Er selbst hatte am Rand des Plateaus gestanden und seinen Blick über den Dschungel schweifen lassen. Am Grund des Abhanges war Wald gewesen, dichter grüner Regenwald.

War er dort hinuntergestürzt? Das würde erklären, warum er sich kaum bewegen konnte. Dann durfte er froh sein, noch am Leben zu sein. Er war schließlich nicht unsterblich und mit dem Kopf an einen dieser Bäume zu schlagen, würde er auch mit seiner Fähigkeit, Verletzungen schneller als bei anderen heilen zu lassen, nicht überstehen.

"Hast du mich gefunden?", fragte er leise.

"Nicht ich."

Eine Bewegung ließ erkennen, dass der Mann aufgestanden war. Schritte entfernten sich und La'ith hörte ein leises Knarzen wie von einer schlecht geölten Tür. Beißender Raubtiergeruch stieg ihm in die Nase.

Erschrocken öffnete er die Augen und wollte sich aufrichten. Für die abrupte Bewegung zahlte er sofort mit neuen, stechenden Schmerzen. Sein Rücken fühlte sich an, als wäre er mitten durchgebrochen. Ächzend kniff er die Augen wieder zu und ließ sich zurücksinken.

"Estar tranquilo, ruhig." Der Mann nahm seine linke Hand.

La'ith spürte Haare unter den Fingern, nein, es war seidiges, weiches Fell. Erneut hob er die Lider.

Und blickte direkt in die gelben Augen eines schwarzen Jaguars.

Er erstarrte förmlich. Reglos musterte ihn die Raubkatze, wobei in ihrem Rachen ein dumpfes Grollen zu hören war.

Die Schönheit des Tieres verschlug ihm den Atem. Er konnte nicht umhin, es zu bewundern. Gebannt hing sein Blick daran. Die Augen glänzten fast golden, mit grünen Sprenkeln in der Iris. Das Fell, auf dem immer noch seine Hand lag, war nachtschwarz und das Kerzenlicht ließ es da, wo die stählernen Muskeln unter der Haut spielten, golden schimmern.

"Arrojo", meinte der junge Mann jetzt.

Arrojo, das spanische Wort für Mut, Kühnheit, Uner­schrockenheit. Ein passender Name für diesen perfekten Jäger. Anscheinend waren die beiden sehr vertraut miteinander, denn als der andere seine Hand auf den schwarz glänzenden Kopf des Jaguars legte und ihn streichelte, kniff die Katze wohlig grollend die Augen zu.

Der junge Mann ergriff erneut La'iths Linke und hielt sie dem Tier vor das furchterregende halbgeöffnete Gebiss. Die schwarze Nase bebte, als sie den Geruch aufnahm. Erst als der Jaguar das Maul schloss, die Augen wieder zukniff und dann, erneut zufrieden grollend, mit dem Kopf an der Bettkante entlangstrich, wurde die Hand auf das Bett zurückgelegt. Der Eindringling war akzeptiert worden.

Atemlos hatte er diese kurze Szene verfolgt. Die große Katze wandte sich mit einer geschmeidigen Bewegung ab und verschwand aus seinem Blickfeld. Den Kopf zu heben, um ihr nachzusehen, schaffte er nicht.

Eine Weile schwiegen die beiden Männer. In La'iths Kopf schwirrten viele Fragen, zum Beispiel hatte er vorhin entdeckt, dass er seinen MFA nicht trug. Doch da der junge Mann nur wenig Englisch zu sprechen schien und außerdem die Kopfschmerzen nicht nachließen, verschob er sie auf einen späteren Zeitpunkt. Nur eine Sache wollte er noch wissen.

"Wie ist dein Name?"

Der Mann, der dem Tier nachgeschaut hatte, wandte ihm jetzt wieder das Gesicht zu. Und erneut fielen La'ith die Augen auf. Die Iris war sattgrün und von einem dunklen Ring umgeben. Das Grün bildete einen interessanten Kontrast zu dem Schwarz der Haare. Eine ungewöhnlich helle Farbe für einen Menschen in diesen Breitengraden.

"Ich … Nelio." Sein Gastgeber tippte sich auf die Brust.

"Nelio", wiederholte La'ith leise und schloss wieder die Augen. "Danke."

Er war auf einmal müde, sehr müde, und das schmerzhafte Pulsieren wurde langsam weniger, bis nichts blieb außer einem Druck auf den Schläfen. Das Getränk zeigte Wirkung. "Danke", murmelte er noch einmal und Sekunden später war er eingeschlafen.


Sein Gastgeber und Retter betrachtete ihn eine Weile. Der tiefe Kratzer auf der Wange des Verunglückten war schon verschorft und die violett verfärbte Schwellung, die sich von der Stirn über die Schläfe bis zum Jochbein zog, deutlich heller geworden. Vorsichtig zog er die Decke herunter bis zu La'iths Hüfte und hob überrascht die Augenbrauen. Auch die rechte Brustkorbseite seines Patienten, die am Abend noch schwarzblau verfärbt war, zeigte bereits eine violette Färbung, genau wie die an der Schulter. Die schlimmen Prellungen heilten unglaublich schnell. Argwöhnisch betrachtete er das Gesicht, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Ein Mensch wie jeder andere …

"Alles wird gut", murmelte er auf Spanisch und zog die Decke hoch, "du wirst bald wieder gesund sein, mein Freund."

Er erneuerte den kalten Umschlag auf La'iths Stirn. Dann erhob er sich, nahm den Kerzenleuchter auf und verließ leise das Zimmer.


14. Juni 2024, Freitag, 07:00 Uhr

Unterwegs nach San Andrés, Guatemala


Das Hinweisschild auf die Autowerkstatt mit der letzten Möglichkeit, Diesel zu tanken, verschwand, als der Bus den kleinen Ort verließ. Wieder wurde er von einer Gruppe winkender Kinder begleitet.

Tamira dachte mit Sehnsucht an eine erfrischende Dusche und ein gekühltes Getränk, empfand aber sofort Gewissensbisse, weil es ihr gut ging. Wo hingegen mochten Tiana und La'ith stecken?

Ungeduldig sah sie auf ihren MFA. Viertel nach sieben. Wider Erwarten war der Bus trotz der schlechten Strecke pünktlich, der Zwischenstopp hier in der kleinen Siedlung Cruce Dos Aguadas hatte genau im Zeitplan gelegen.

Sie war nur ausgestiegen, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und eine Dose Mineralwasser zu öffnen, die sie aus ihrem Rucksack geholt hatte. Trotz der frühen Morgenstunde klebte ihr schon wieder das T-Shirt am Leib. Der leichte Regen bot keine Erfrischung und nervte und die Luft, die sie atmete, war feucht und schwül.

Sie seufzte und legte den Kopf in den Nacken, während sie die Dose leer trank. Wie konnten Menschen nur immer hier leben? England hatte auch zeitweise Wetterphasen, die man nur zähneknirschend überstand, doch der Gedanke, sich ständig in dieser feuchten Hitze aufzuhalten, war unvorstellbar.

Bis San Andrés lagen noch zwanzig Kilometer vor ihnen, die in einer Dreiviertelstunde bewältigt sein sollten. Zum Glück war die Straße schon etwas besser geworden. Der Regenwald an beiden Seiten hatte sich zurückgezogen und war nur als dunkelgrüner Streifen am Horizont rechts und links zu erkennen. Kleine Felder flogen nun am Fenster des Busses vorbei.

In San Andrés würde sie sofort in das Touristen­informationszentrum gehen. Dort gab es ein Internet-Terminal, von dem aus man Videochats führen konnte. Wenn alles gut ging, wusste man auf Darach Manor in einer Stunde, dass hier etwas ganz gewaltig schiefgegangen war.


14. Juni 2024, Freitag, 07:50 Uhr

San Andrés, Guatemala


Der Bus brummte davon und ließ Tamira auf dem belebten Platz mitten in San Andrés zurück. Die Schulkinder von Carmelita und Cruce Dos Aguadas winkten ihr fröhlich zu und hüpften davon.

Mechanisch hob sie die Hand, winkte zurück und sah ihnen nach. Als die schwatzende Schar um die Ecke verschwand, fühlte sie sich noch verlorener als heute Morgen. Es war, als hätte sie mit dem Aussteigen aus dem Bus und dem Winken für die Kinder die letzte Verbindung zu La'ith und Tiana gekappt. Nanita Vermosa hatte zwar den Zettel mit der Telefonnummer des Hotels an ihre Brust gedrückt wie einen kostbaren Schatz und eifrig genickt auf ihre Bitte, sofort anzurufen, wenn einer der zwei Vermissten auftauchen würde. Aber letztendlich konnte man es drehen und wenden, wie man wollte: sie hatte die beiden allein dort am Ende der Welt zurückgelassen.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob es richtig gewesen war, einfach wegzufahren. Vielleicht hätten die Männer, mit denen sie gestern Abend nach den beiden Vermissten gesucht hatte, heute Morgen mit ihr einen neuen Versuch gestartet. Und nach dem Öffnen des Ladens hätte man auch von dort aus Sadik anrufen können.

Aber sie war ja nicht geflohen, sondern würde Hilfe besorgen. Außerdem musste sie Anzeige erstatten und sich um neue Papiere kümmern. Ohne ihre Ausweise und nur mit ein paar guatemaltekischen Quetzal, die ihr Nanita aufgenötigt hatte, war sie in diesem Land nicht sicher. Doch wenn sie drei gestohlene Dokumente angab, würden unangenehme Fragen gestellt werden. Wo sind ihre Begleiter, Señora? Was wollten sie im Dschungel? Warum geben Sie keine Vermisstenanzeige auf?

Zu allererst würde sie deshalb mit Sadik sprechen, wie sie weiter verfahren sollte. Ein Blick auf den MFA bestätigte jedoch ihre Ahnung: kein Handynetz, kein Internet. Energisch straffte sie die Schultern und machte sich auf den Weg zum Touristikbüro, den der Busfahrer ihr erklärt hatte.

Nach zehn Minuten Fußmarsch durch eine gut erhaltene Altstadt, an die sie keinen Blick verschwendete, hatte sie das eingeschossige Gebäude erreicht. Entschlossen stieg sie die zwei Stufen hinauf und griff nach der Klinke.

Doch der Eingang war verschlossen und mit einem dumpfen Laut stieß ihre Stirn an die massive Holztür, weil sie damit nicht gerechnet hatte.

Mit einer Hand die schmerzende Stelle reibend suchte sie nach einem Schild mit den Öffnungszeiten und erfuhr, dass das Büro erst um zehn öffnete. Ein Blick auf den MFA zeigte, dass es bis dahin noch eindreiviertel Stunden waren.

"Verfluchter Scheißdreck!" Ihre geballten Fäuste wummerten dumpf auf das Türblatt und fast wäre auch ihr Fuß dagegen gekracht. Beschämt sah sie sich um und setzte sich dann auf die oberste Stufe. Ein kleines Vordach spendete etwas Schutz vor dem ewigen Regen.

Wer konnte noch einen öffentlichen Internet-Zugang haben? Das Rathaus? Die würden auch nicht vor zehn öffnen. Läden? Händler? Die Polizei?

Nein. Sie wollte ins Hotel. Beim Busterminal gab es einen Taxistand.

Schnell stand sie auf und lief zurück zu dem Platz mit der Bushaltestelle. Auf dem Weg dorthin erklang der leise Benachrichtigungston vom MFA. Kein Internet, aber Handynetz. Doch nur ein Balken, der in der nächsten Sekunde wieder verschwand. Der Anruf musste warten, bis sie im Hotel war.


14. Juni 2024, Freitag, 08:30 Uhr

In Guatemala


Eine Tür wurde geöffnet, Schritte kamen näher.

Tiana hob den Kopf. Ihre Augen waren zwar immer noch durch die Binde verdeckt, aber so konnte sie besser hören.

Wie viel Zeit mochte wohl vergangen sein? Ihren MFA konnte sie nicht sehen. Sie ohne jegliche Orientierung hier allein zurückzulassen, grenzte schon fast an Folter. Es konnten Stunden sein oder auch nur ein paar Minuten.

Ihre Arme taten weh und waren steif. Da die Hände auf dem Rücken gefesselt waren, blieb ihr so gut wie keine Möglichkeit, sich zu bewegen. Und sie hatte Durst.

Hastig rappelte sie sich auf. Sie wollte ihren Gefängniswärter aufrecht sitzend erwarten.

"Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihre Wartezeit nun beendet ist." Der Stimme nach war es derselbe Mann, der vorhin schon mit ihr gesprochen hatte. An ihrem Klang hörte sie, dass er neben ihrem Lager angekommen war.

Dieser Jemand, dessen Name so seltsam war, dass sie ihn schon wieder vergessen hatte, war scheinbar endlich aufgewacht und wollte sie sehen. Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, wurde ihr ein breites Klebeband auf den Mund gepresst. Sie stieß ein zorniges Knurren aus und schüttelte erbost den Kopf.

"Ich bitte um Verzeihung, aber wir können nicht riskieren, dass Sie Ihre Gabe an mir anwenden. Das verstehen Sie sicher." Sie spürte eine Hand an ihren Knöcheln, ein kleiner Ruck folgte und gleich darauf waren ihre Beine frei.

"Wenn Sie nun aufstehen und mit mir kommen würden. Und bitte: Unternehmen Sie keinen Fluchtversuch. Es gibt eine Menge Möglichkeiten, Sie damit" - das typische Geräusch beim Zurückziehen eines Pistolenschlittens war zu hören - "aufzuhalten."

Folgsam setzte sie die Füße auf den Boden und erhob sich von der Liege. Mit dem Wissen, dass eine Waffe auf sie gerichtet war, verwarf sie den erneut aufgekommenen Gedanken an Flucht. Sie wusste nicht, wie viele Personen noch in der Nähe waren und wohin sie überhaupt fliehen sollte. Einen konnte sie mit ihrer Gabe kontrollieren, aber bei mehreren hatte das keinen Zweck. Deshalb entschied sie, abzuwarten und zu kooperieren. Vorerst zumindest. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben.

Der Mann nahm ihren Ellenbogen und schob sie vor sich her. Er war nicht grob, führte sie fast behutsam, forderte sie an der Tür auf, den Kopf ein wenig einzuziehen. Es erschien ihr widersinnig, denn sie war eine Gefangene.

Außerhalb des Raumes war es kühl und die Luft roch abgestanden, aber nicht feucht.

Außer den Schritten ihres Begleiters waren keine weiteren zu hören. Von seiner Hand geführt stieg sie Stufen hinauf. Verärgert merkte sie, dass sie versäumt hatte, mitzuzählen. Ein grober Anfängerfehler, der ihr eine Menge gutmütigen Spott von den Guardians einbringen würde.

Ihr Herz machte einen fast schmerzhaften Satz. Wenn sie sich nicht schnellstens etwas einfallen ließ, dann würde sie morgen nicht nur vergessen haben, wer die Guardians waren. Sie würde niemanden von ihnen mehr kennen, auch nicht Rhea, ihre beste Freundin, die im Herbst heiraten wollte und die sie gebeten hatte, ihre Brautjungfer zu sein. Und auch nicht ihre Eltern und ihren Bruder, nicht einmal sich selbst …

Noch bevor die Verzweiflung wie eine Woge über ihr zusammenschlagen konnte, ließ der Mann sie anhalten.

"Uns ist bekannt, dass Sie anderen Personen mittels Hypnose Ihren Willen aufzwingen können, indem Sie zu ihnen sprechen."

Seine Stimme hat ein Echo, registrierte Tiana, wir scheinen uns in einem sehr großen oder hohen Raum zu befinden.

"Wenn sich gleich der Magnetverschluss Ihrer Handfessel löst, können Sie Ihre Augenbinde abnehmen", fuhr ihr Begleiter fort. "La dama benötigt eine kleine Demonstration dessen, wozu Sie fähig sind. Erfassen Sie die Situation schnell und zeigen Sie uns, was Ihre Gabe vermag. Vom Lösen der Handfessel an haben Sie zehn Sekunden Zeit. Haben Sie alles verstanden?"

Tiana schluckte nervös, dann nickte sie. Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Was erwartete sie nun? Eine Demonstration? Zehn Sekunden? Das war sehr wenig Zeit. Sie musste jetzt schon beginnen, sich zu konzentrieren!

Das Klebeband wurde von ihrem Mund gerissen. Es tat weh, aber sie protestierte nicht.

Wie versprochen löste sich mit einem leisen Klick die magnetische Arretierung der Handfessel und sie fiel zu Boden.

Obwohl das Bewegen der Arme wehtat, nachdem sie so lange in dieser unbequemen Haltung fixiert gewesen waren, riss sich Tiana sofort die Augenbinde vom Gesicht. Und was sie sah, ließ sie förmlich erstarren.

Auf einem Stuhl vor ihr saß ein Kind. Ein mageres, kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt. Es hatte ein zerknautschtes, verschlissenes Plüschtier an die schmale Brust gedrückt und lächelte sie unsicher an.

Hinter dem Stuhl stand ein Mann, der mit einer Pistole auf den Kopf des Mädchens zielte.

Sie begriff sofort. Ihn musste sie stoppen. Wenn es ihr nicht gelang, würde das Kind hier vor ihren Augen sterben. Nur ein paar Sekunden blieben ihr, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er würde schießen, das stand außer Zweifel. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Hände zitterten nicht.

"Das wirst du nicht tun", befahl sie. "Wirf die Waffe weg." Die ganze Kraft ihrer Gabe legte sie in diese vier Worte. Sie wusste, dass ihr kein zweiter Versuch blieb, denn sie hatte so langsam und eindringlich gesprochen, dass die Zeit sicher jeden Moment um war.

Die Hände des Mannes begannen zu zittern, sein Gesicht zeigte einen angestrengten Ausdruck, Schweiß trat auf seine Stirn. Endlich sanken die ausgestreckten Arme herab, seine verkrampften Finger lösten sich und die Waffe schepperte auf den Boden.

Erleichtert atmete Tiana auf. Sie merkte, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.

Für die Demonstration ihrer Gabe ein Kind auszuwählen, war besonders niederträchtig, denn der Mann hatte gesagt, sie stünde auf der Liste. Also war es kein Geheimnis, dass sie Lehrerin war.

Ein langsames Klatschen, wie ein widerwillig gespendeter Applaus, erklang irgendwo weiter entfernt. Demnach war eine dritte Person im Raum. "Beeindruckend", ertönte die bekannte Männerstimme in ihrem Rücken.

Sie wandte sich nicht um. Stattdessen erwog sie für einen Augenblick, dem Kerl bei dem Kind zu befehlen, die Waffe herüber zu kicken. Doch wie dann weiter? Bevor sie sich danach gebückt hätte, würde der Unsichtbare hinter ihr schießen. Und er konnte das Kind treffen.

Außerdem - sie hatte keine Ahnung, was sie außerhalb dieses riesigen Raumes erwartete und wie viele Personen sich noch hier aufhielten. Wie lange wollte sie den Kerl unter Kontrolle halten? Was, wenn sie sich mitten im Dschungel befanden? Wohin sollte sie dann fliehen?

Doch ein was Gutes hätte ein Fluchtversuch: Man würde sie zwar erschießen, doch wenigstens hätte sie dafür gesorgt, dass ihre Gabe nicht in falsche Hände geriet und vielleicht irgendwann einmal an einem der Guardians angewendet wurde.

Widerwillig löste sie den Bann und der Mann hinter dem kleinen Mädchen atmete auf. Nach einem kurzen, zornigen Blick in ihre Richtung bückte er sich, um seine Pistole wieder aufzuheben. Dann steckte er sie hinten in den Hosenbund, nahm das Kind beim Arm und ging wortlos mit ihm hinaus.

Unschlüssig blieb Tiana vor dem Stuhl stehen. Sollte sie ihm folgen?

"Ihre Gabe ist außerordentlich beeindruckend." Die Männerstimme in ihrem Rücken war unverändert freundlich. "Sie lässt sich weiterentwickeln und ist deshalb von großem Nutzen für la dama Chel. Wir danken Ihnen."

Das war es.

Es tut mir leid, Trajan, dachte Tiana, ich habe es vermasselt. Dann erlosch ihr Denken mit einem Schlag.


14. Juni 2024, Freitag, 14:10 Uhr

Darach Manor, England


Als ein leiser, melodischer Ton von dem Gerät an seinem Arm den Eingang eines Anrufs signalisierte, steuerte Sadik den SUV an den Straßenrand und stellte den Motor ab.

Eine unbekannte Nummer aus dem Ausland war auf dem Display zu sehen und als er annahm, meldete sich Tamira.

Die Erleichterung ließ ihn aufatmen. Wie Gaz schon vermutet hatte, war bislang keine Nachricht gekommen und beim Anruf im Hotel in San Andrés hatte man ihnen mitgeteilt, dass die Gäste während der Nacht nicht im Haus gewesen waren. Beides war keineswegs geeignet gewesen, um die strapazierten Nerven der Bewohner von Darach Manor zu beruhigen.

"Was ist los bei euch?", fragte er ruhig, obwohl sein Herz vor Aufregung hämmerte.

In hastig hervorgestoßenen Worten schilderte sie alles, was gestern Nachmittag und Abend in dem Dorf passiert war. "Nachdem keiner von den beiden heute Morgen wiederaufgetaucht war, habe ich Romarus Mutter die Nummer von unserem Hotel hinterlassen und bin um sechs Uhr mit dem Bus zurückgekommen nach San Andrés", beendete sie ihren Bericht. "Jetzt bin ich im Hotel. Hier gibt es Festnetztelefon und Internet. Du kannst mich also jederzeit erreichen. Es tut mir so leid, Sadik. Ich habe sie im Stich gelassen, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte."

Pause. Die Worte waren immer schneller gekommen und gegen Ende konnte Sadik ein Zittern ihn ihrer Stimme hören. Er ahnte, dass er nicht merken sollte, dass sie weinte, und er verstand, was in ihr vorging: Sie hatte Angst um die beiden.

"In Ordnung, Tamira", sagte er so ruhig wie möglich. "Ich habe alles verstanden. Bleib im Hotel. Ich melde mich bei dir. Ruf mich an, wenn es etwas Neues gibt. Um neue Papiere wird sich Nakoa kümmern. Und keine Sorge, du hast nichts falsch gemacht. Reicht dir das vorerst?"

"Ja. Ich warte. Grüß die anderen. Sag ihnen, es tut mir so leid, besonders Trajan …" Wieder verstummte sie.

"Beruhig dich. Wir lassen uns was einfallen. Bleib in der Nähe des Telefons."

Er beendete das Gespräch und lehnte den Kopf zurück an die Kopfstütze. Seine Gedanken flatterten umher wie aufgeschreckte Vögel, tausend mögliche Ursachen für das Verschwinden von La'ith und Tiana schossen ihm in den Sinn, die er einen Augenblick später wieder verwarf.

Er schickte eine Nachricht an alle Guardians. Wer es ermöglichen konnte, würde umgehend nach Darach Manor kommen.

Dann startete er den Wagen und lenkte ihn auf die Straße. Sein MFA zeigte kurz nach zwei, das hieß acht Uhr morgens in Guatemala.


14. Juni 2024, Freitag, 14:30 Uhr

Darach Manor, England


Fast alle waren im Besprechungsraum versammelt, selbst Nakoa und Gaz. Sogar Kareem hatte seine Küche verlassen und sich mit eingefunden. Eben schloss sich die Tür hinter Hennak und Koll, den beiden Letzten, auf die sie noch gewartet hatten.

Sadik stand auf und erwartungsvolle Blicke richteten sich auf ihn. Schließlich war es in den vergangenen Jahren nur zweimal vorgekommen, dass alle Guardians zusammen­getrommelt wurden.

"Tamira hat mich vorhin angerufen", begann der Teamchef ohne Einleitung. "La'ith und Tiana sind verschwunden." Mit knappen Worten gab er wieder, was sie ihm vorhin am Telefon erzählt hatte, und ließ seinen Zuhörern einen Augenblick Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. "Es ist jetzt halb drei", fuhr er fort. "Ich habe schon mit Nakoa gesprochen, wir können den Jet noch einmal nutzen. Abflug ist heute Abend. Es wird ein Nonstopflug über den Atlantik ohne Zwischenstopp in Miami. Folgende Guardians will ich dabeihaben: Trajan, Hennak, Koll, Bran, Yonas, Ethan und Shujaa. Seht zu, wie ihr das mit euren Diensten regelt. Um zwanzig Uhr steht der Flieger in Blackpool an Landebahn zehn bereit, Start ist halb neun. Mit dem Auto brauchen wir knapp zwei Stunden bis zum Flugplatz. Also Abfahrt gleich nach dem Abendessen. Kareem, Dinner heute eine Stunde eher und wir brauchen Proviant für die Reise."

Der Koch nickte ernst.

"Bis dahin werden alle packen und ihre Ausrüstung prüfen. Hier ist eine Liste von den Dingen, die außerdem mitge­nommen werden müssen. Shujaa, du kümmerst dich um die Technik." Er atmete tief durch und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. "Nehmt auch ausreichend Akkus und Batterien mit. Bei Problemen - geht zu Gaz. Denkt an Pässe, Impfausweise, Führerscheine. Außer Trajan nimmt niemand eine Waffe mit. Er hat einen international gültigen Waffenschein, seine Pistole ist registriert. Ich will in Flores am Flughafen keine unangenehmen Überraschungen erleben müssen, weil jemand glaubte, schlauer zu sein als der Zoll dort. Außerdem", und jetzt blickte er zu dem Arzt hinüber, "hätte ich dich gern dabei."

Issam nickte zum Zeichen, dass er einverstanden war. "Und ich empfehle, Kareem auch mitzunehmen", setzte er hinzu.

Sadik erinnerte sich an den Abend, als er, Tiana, La'ith und Tamira zusammengesessen und sich über Guatemala kundig gemacht hatten. Es gab Giftschlangen und Skorpione dort. Vielleicht hatte der Arzt recht. Im Dschungel war so schnell kein Gegengift zu bekommen.

"Die Idee ist gut. Kareem?" Er schaute den Koch fragend an.

Dem sah man an, dass er überhaupt nicht damit gerechnet hatte, ins Team zu kommen. Entsprechend lange brauchte er für seine Antwort.

"Kein Problem. Ich klär das mit Ricardo." Er stand auf und verließ den Raum, um mit seinem Koch zu sprechen.

"Ich schwinge so lange deinen Kochlöffel!", rief Tanyel ihm nach und die Umsitzenden grinsten, obwohl die Situation ernst war.

Sadik hatte Kareems winziges Zögern bemerkt. Dessen einzigartige Gabe hatte ihn nach Darach Manor ans Internat gebracht. Er konnte Gifte erkennen und neutralisieren. Es reichte ihm, nur den Gegenstand oder die Person zu berühren. Auf diese Weise hatte er Nakoa vor sechs Jahren das Leben retten können, als dieser mit einem unbekannten Gift in Kontakt gekommen war. Doch Kareem war kein Guardian.

"Ich habe erst letzte Woche den Impfstatus der Guardians geprüft", verkündete Issam in die Stille hinein. "Alle sind immunisiert, bis auf Kareem und mich. Ich würde mich mit dem Labor bei GenMed in Verbindung setzen und Schnellimpfstoff für uns beide ordern. Das Serum braucht vierundzwanzig Stunden, bis es wirkt. Das ist auf jeden Fall ausreichend."

Sadik nickte zufrieden. "Gibt es noch Fragen?"

Jais stand auf.

"Lass mich mitkommen, Sadik, bitte. Ich glaube, dass meine Gabe helfen kann, wenn wir nach ihnen suchen."

Der Teamchef wusste genau, dass sich hinter der Bitte die Sorge um La'ith verbarg. Er war wie ein großer Bruder für Jais. Wahrscheinlich glaubte dieser, vor Ort mehr von Nutzen zu sein als hier in England.

Er nahm sich einen Augenblick Zeit, um zu überlegen. Jais war ein Teleporter. Er konnte ihnen wirklich helfen.

"Wie viele Passagiere kann der Jet verkraften?"

Nakoa, an den die Frage gerichtet war, wiegte den Kopf.

"Ihr fliegt nonstop, das heißt, ihr müsst an Bord schlafen. Alles, was über acht Passagiere geht, bedeutet Komfort­verlust."

"Wir pfeifen auf Komfort." Es war Hennak, der das eingeworfen hatte, doch Sadik konnte an den Gesichtern der Umsitzenden erkennen, dass sie genau so dachten.

Nakoa hatte nichts anderes erwartet. "Dann würde ich sagen zehn bis zwölf Passagiere", beantwortete er Sadiks Frage nun konkret.

Der schickte einen fragenden Blick zu seinem Bruder hinüber und Gaz nickte, ohne zu zögern. Der junge Teleporter hatte Recht, seine Gabe wäre eine Hilfe.

"In Ordnung, Jais, du bist dabei. Hat noch jemand eine Frage?"

Er gab ihnen wieder einen Augenblick Zeit, um zu überlegen, aber niemand meldete sich.

"Dann an die Arbeit." Er entließ sie mit einer Hand­bewegung.

Der Besprechungsraum leerte sich. Zurück blieben Sadik, Nakoa, Gaz und Issam.

"Was denkst du, was passiert ist?", fragte Gaz seinen Bruder.

Der zuckte die Schultern. "Das Land hat schlimme Zeiten hinter sich. Eigentlich gilt die Region Peten, ja sogar der ganze Norden als sicher. Doch man weiß ja nie. Die Drogenmafia ist überall aktiv und als nicht zimperlich bekannt. Wäre es eine Entführung, müsste aber längst eine Lösegeldforderung eingegangen sein. Oder sie sind mit jemandem aneinandergeraten und La'ith hat sich auf einen Kampf eingelassen."

"Das würde er nie tun. Dazu ist er viel zu besonnen", entgegnete Nakoa ernst.

"Vielleicht hat bei ihrem Sightseeing jemand Tiana bedroht und er ist dazwischengegangen", brummte Gaz. "Wir kennen die Örtlichkeit nicht. Es kann auch ein Unfall gewesen sein oder ein Erdrutsch."

"Das wüsste Tamira. Und sie hat gesagt, die Dorfbewohner hätten bis in die Nacht mit gesucht. So ein Erdrutsch wäre aufgefallen, er hinterlässt doch Spuren. Auch glaube ich nicht, dass sie sich zu weit vom Dorf entfernt haben. Was für einen Grund sollten sie dafür gehabt haben?" Er schüttelte den Kopf. "Es ist mir ein Rätsel. Aber wir werden es lösen."

Nakoa und Issam nickten.


14. Juni 2024, Freitag, 18:30 Uhr

Darach Manor, England


Als sie um kurz vor halb sieben den Landsitz verließen, standen die Zurückbleibenden am Torhaus und winkten. Heute kam niemand mit zum Flugplatz.

Die Stimmung im Kleinbus und in Sadiks SUV, der ihm folgte, war gedrückt. Dass La'ith verschwunden war, hatte allen einen Schock versetzt. Auch Tianas Unauffindbarkeit verstörte sie, aber La'ith war der Gefährlichste unter den Guardians. Es musste etwas wirklich Schlimmes passiert sein, um ihn daran zu hindern, sich bei ihnen zu melden.

Trajan ging das alles viel zu langsam. Seine Schwester wurde vermisst. Und La'ith. Der wortkarge Einzelgänger war damals in die Organisation gekommen, weil er für ihn gebürgt hatte. Und seitdem bestand ein besonderes Verhältnis zwischen ihnen beiden, obwohl der Neue von allen Guardians vorbehaltlos akzeptiert worden war.

An seine Kampftechnik kam keiner von ihnen heran. Selbst Yonas, der den Umgang mit Energie mit ihm trainierte, konnte ihm nicht immer das Wasser reichen, obwohl seine Energiegeschosse wesentlich schneller waren als La'iths. Dafür war der besser im Ausweichen und in der Handhabung seines Energieschildes, mit dem er Yonas' Geschosse abzuwehren vermochte. Die Übungskämpfe von beiden in der Trainingshalle hatte Sadik verbieten müssen, nachdem der angehende Arzt einmal mit einem Treffer die Tür zwischen der Halle und dem Schwimmbecken aufgesprengt hatte und die knisternde, gelbe Kugel danach im Wasser einschlug. Das Feuerwerk war gigantisch gewesen.

Was also hatte ihren stärksten Kämpfer außer Gefecht gesetzt? Denn etwas anderes als das konnte sich keiner vorstellen.

Der große Privatjet stand schon mit laufenden Triebwerken bereit und die Piloten, die heute wegen des fehlenden Zwischenstopps noch einen zusätzlichen Copiloten an Bord hatten, begrüßten sie mit Handschlag.

Pünktlich um halb neun rollte die Gulfstream auf die Startbahn, beschleunigte und hob ab. Die Insassen lehnten sich zurück. Wenn alles glattging, würden sie in spätestens elf Stunden in Flores landen.


14. Juni 2024, Freitag

über dem Atlantik


Sadik chattete mit Tamira. Er teilte ihr die geplante Ankunftszeit mit und fragte nach Neuigkeiten. Noch am Nachmittag hatte er drei Mietwagen ausgewählt, bestellt und von der Autovermietung in Flores die Zusicherung erhalten, dass die Wagen am Flughafen bereitstehen würden.

Da sie mitten in der Nacht ankamen, war Tamira mittags mit einem Taxi in die Stadt gefahren und hatte die Schlüssel für die Wagen geholt. Sie würde die Ankömmlinge am Flughafen erwarten. Sadik vermutete, dass sie spätestens um ein Uhr landen und dann um halb drei Uhr morgens im Hotel in San Andrés sein würden.

Am Vormittag würden alle die Möglichkeit bekommen, sich auszu­schlafen. Es blieb genug Zeit, um am Nachmittag nach Carmelita zu fahren.

Er hörte an Tamiras Stimme, dass sie froh war über die Verstärkung. Von Nanita Vermosa hatte sie keine Nachricht bekommen, also gab es im Dorf nichts Neues. Dabei hatte er so sehr darauf gehofft …

"Hat schon mal einer dran gedacht, dass dieser … Stealer bei dem Verschwinden der beiden seine Hände im Spiel haben könnte?"

Kolls Stimme hatte die schläfrige Ruhe, die vom gedämpften Dröhnen der Triebwerke begleitet wurde, unterbrochen.

Bran hob den Kopf, der in der aufgestützten Hand geruht hatte, während der Zwanzigjährige die unter ihnen vorbeiziehenden Wolken betrachtete. "Ja, ich." Er rutschte etwas tiefer in den bequemen Sessel und legte die Füße neben den schlafenden Jais auf den Sitz. "Aber es erschien mir zu … unwahrscheinlich."

"Wieso?"

"Na woher sollte der Kerl wissen, dass Tiana und La'ith zu genau dieser Zeit an genau diesem Ort sein würden? Und dass sie überhaupt in Mittelamerika sind? Oder dass La'ith und Tiana Gaben haben? Selbst wenn er Lichtsignaturen wahrnehmen könnte - Tiana hat keine und La'ith verbirgt seine." Er schüttelte den Kopf.

"Aber in Amerika sind die meisten Fälle aufgetreten", wandte Trajan ein, der mit einer Cola aus der Bordküche kam und sich neben Bran auf den Sitz warf. "Da wäre es doch das Logischste, wenn er auch hier dahinterstecken würde."

"La'iths Idee mit der Begabten-Datenbank macht Sinn", meldete sich Hennak zu Wort, der sich auf einer der Bänke ausgestreckt und bis eben gedöst hatte. "Ich habe schon öfter überlegt, wie dieser Typ seine Opfer findet. Aber selbst wenn die Datenbank sie ihm liefert - woher weiß er, wann er zuschlagen muss?"

"Vielleicht beschattet er die Opfer eine Weile und wartet auf den richtigen Moment, wo er unbeobachtet mit ihnen verschwinden kann." Es zischte, als Trajan seine Büchse öffnete.

"Ach, eine Bushaltestelle am Markt oder ein Einkaufs­zentrum sind der richtige Moment?", brummte Shujaa belustigt.

Tianas Bruder setzte ab und verdrehte genervt die Augen. "Trag doch selber mal ein paar konstruktive Gedanken bei!", knurrte er zurück.

Der dunkelhäutige Guardian grinste. "Muss ich nicht. Ich bin sicher, Koll hat alles, was ich vorbringe, schon zehnmal durchdacht."

"Wir sollten die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er es war, und jemanden an dem Platz warten lassen, wo die zwei verschwunden sind", meinte der, als hätte es die ganze Unterhaltung zwischen seinen beiden Sätzen nicht gegeben. "Dann dürften die Vermissten auch dort wieder auftauchen."

Sadik, der sein Tablet weggepackt hatte, nickte zögernd. "Wir werden sehen, was wir vorfinden. Zwei Tage bleiben uns noch."

"Hat sich eigentlich irgendjemand mal die Mühe gemacht, zu prüfen, ob die Rückkehrzeiten der Opfer mit denen ihres Verschwindens übereinstimmen?", wollte Hennak wissen. "Das wäre ziemlich hilfreich, wenn sie es täten."

"Tun sie nicht." Sadik schüttelte den Kopf. "Tamira hat es gecheckt. Die Verschwundenen tauchen lediglich drei Tage danach wieder auf, Zeiten spielen keine Rolle."

"Mist!" Hennak hieb auf das unschuldige Polster seiner Armlehne. "Es hätte ja auch mal irgendwas einfach sein können!"

"Ich glaube, die wirklich schwierigen Dinge, die vor uns liegen, kennen wir noch gar nicht", ließ sich Yonas vernehmen. "Das ist ein Land, das sich nicht mit England vergleichen lässt, und ich finde das 'D' für diese Mission berechtigt, wenn ich dran denke, auf was wir uns einlassen."

"Ist mit völlig egal, welche Sicherheitsstufe Sadik dem Einsatz verpasst hat!" Trajan wischte Yonas' Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. "Ich will die beiden finden, wo auch immer sie sind. Und wehe dem, der mir dabei im Weg stehen wird!"

"Ach, willst du? Im Alleingang? Sag Bescheid, falls wir dir im Weg stehen", kam es leise von der letzten Bank. "Nicht dass wir vielleicht die Ein-Mann-Rettungsmission behindern."

"Du kannst es nicht lassen, was?", knurrte Hennak und wandte den Kopf zu Ethan um.

"Soll er halt nicht so einen Schwachsinn reden." Brans bester Freund stand auf und kam langsam den Mittelgang hervor. "Wir können hierbei keine Superhelden gebrauchen. Dieses Land tickt anders, das hat Yonas schon gesagt. Also besser du markierst hier nicht den starken Mann."

"Ich denke nicht, dass es so gemeint war, Ethan", versuchte Bran zu beschwichtigen.

Sadik verfolgte die Diskussion stirnrunzelnd. Während er noch überlegte, ob er einschreiten sollte, erklang die Stimme des Piloten im Lautsprecher, der die Landung ankündigte. Jeder setzte sich auf seinen Platz.

Ethan zuckte nur die Schultern und wandte sich ab. Er konnte nicht mehr sehen, wie Hennak und Trajan ihm nachschauten und dann einen wütenden und zugleich verächtlichen Blick tauschten.

GUARDIANS - Der Verlust

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