Читать книгу GUARDIANS - Der Verlust - Caledonia Fan - Страница 9

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~~~ KAPITEL 1 ~~~


1. Juni 2024, Samstag, 12:00 Uhr

Darach Manor, England


Tiana runzelte die Stirn und lehnte sich in ihrem ergonomisch angepassten Schreibtischstuhl zurück. Sie wusste nicht recht, was sie von dem eben beendeten Videotelefonat halten sollte. Da es inzwischen das dritte dieser Art war, konnte man es kaum noch als Zufall bezeichnen, das stand fest.

Grübelnd wickelte die zierliche Vierundzwanzigjährige eine Strähne ihrer langen Haare um den Zeigefinger. Sie versuchte sich zu erinnern, wann der erste Anruf eingegangen war.

In ihre Überlegungen hinein erklang der melodische Gong, der die Bewohner, Schüler und Angestellten von Darach Manor zum Mittagessen rief. Unwillig schnaubte sie und warf den Kugelschreiber, an dem sie genagt hatte, auf den Schreibtisch vor sich. Zum Schreiben bei ihrer Arbeit nutzte sie längst ein Datenpad und keine Stifte mehr, die Angewohnheit, beim Nachdenken auf einem zu kauen, war geblieben.

Mit einem Ruck schob sie den Stuhl zurück und stand auf. Sehnsüchtig sah sie durch das weit geöffnete Fenster hinunter auf den Vorplatz. Die Junisonne und ein azurblauer Himmel lockten.

Tief durch die Nase einatmend dehnte sie ihren Rücken und streckte die Arme. Die üppig blühenden Jasminsträucher, die die Auffahrt durch das Wäldchen bis hinauf zum Haupttor säumten, verströmten einen betörenden Duft.

Es war ein warmer Frühsommer. Ihr stand bei solchem Wetter nicht der Sinn nach Schreibtischarbeit. Tanyel, der Steward von Darach Manor, hatte auf dem Rasen hinter dem Haus bereits die Liegestühle aufgestellt. Mit einem resignierten Seufzer wünschte sie sich hinaus aus dem niedrigen Zimmer unter dem Dach, am besten direkt hinein in einen dieser Stühle.

Sie beschloss, Tamira, mit der sie sich das Büro teilte, das Problem mit den Anrufen zu schildern. Wenn es denn eines ist, fügte sie im Geiste hinzu und verließ das Zimmer. Gleich nach dem Essen würde sie mit der fast doppelt so alten Freundin über diese Sache reden. Vielleicht konnte Tamira ja einen Zusammenhang erkennen, wo sie selbst noch keinen sah.


Eine Stunde später saß sie mit ihr am Schreibtisch im Büro und die Freundin lauschte ihr aufmerksam, während sie erklärte, worüber sie grübelte.

"Was ist daran ungewöhnlich?", forschte Tamira am Ende ihres Berichtes. "Es hört sich doch normal an."

"Das dachte ich auch erst. Natürlich habe ich den Eltern vorgeschlagen, dass wir den geplanten Besuch bei ihrer Tochter erstmal verschieben und im Juli oder August nach Kanada fliegen. Jeder kann schließlich mal krank werden, warum also nicht auch Clarice? Aber das ist nicht der Punkt."

Sie ließ die Haarsträhne, die sie wieder gedankenverloren um den Finger gewickelt hatte, fallen und beugte sich vor. Die Ellenbogen auf den Schreibtisch gestützt, richtete sie die Spitze ihres Stiftes auf ihre Zuhörerin. "Erinnerst du dich, als wir Romaru in Guatemala besuchen wollten?", erkundigte sie sich. "Seine Eltern hatten aus heiterem Himmel ihre Erlaubnis zurückgezogen, den Jungen hierher an unsere Schule zu schicken. Ohne Begründung. Oder Tian-Ti, das Mädchen aus der Mongolei? Mitte Mai teilten uns ihre Eltern mit, sie möchte nun lieber doch nicht nach England kommen. Und es gibt noch zwei weitere von diesen Fällen, bei denen es uns per E-Mail mitgeteilt wurde."

Eine bedeutungsschwangere Pause einlegend lehnte sie sich mit vielsagendem Blick wieder zurück. "Allesamt Jugendliche, die schon zur Aufnahme vorgesehen waren und die dann nicht gekommen sind. Einzeln betrachtet erscheint das alles nicht unbedingt verdächtig. Aber schau dir den Zeitraum an."

Sie winkte die Ältere zu sich herüber und wies mit ihrem angeknabberten Stift auf den breiten, zweidimensionalen Hologramm-Bildschirm, der über dem Schreibtisch schwebte.

Tamira musterte die Daten sorgfältig. Verwundert hob sie die Augenbrauen.

"Das ist ja alles innerhalb von einem Monat geschehen! Ungewöhnlich, du hast Recht. Was könnte da­hinter­stecken?"

"Ich habe keine Ahnung, Tammy", gab Tiana unumwunden zu und schüttelte ratlos den Kopf.

"Ob jemand der Schule schaden will?" Die kleine Frau mit den fast schwarzen, kurz geschnittenen Locken richtete sich auf und runzelte besorgt die Stirn. "Lass uns doch mal ein bisschen recherchieren", entschied sie kurzerhand, setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und wandte sich ihrem Bildschirm zu. "Wäre doch gelacht, wenn wir da nix rausfinden würden. Fangen wir mit Clarice an."

Sie überlegte kurz.

"Computer, ich brauche alle Einträge über Clarice Bowen", verlangte sie.

Aus dem Lautsprecher erklang eine sanfte Frauenstimme, die ihre Bitte wiederholte. Auf ihrem Holo-Bildschirm, der größer war als Tianas und die gesamte Schreibtischbreite beanspruchte, poppten unzählige Fenster auf, in denen jeweils der angeforderte Name rot markiert war.

"Begrenze auf das laufende Jahr!", wies sie an und drei Viertel von ihnen verschwanden. Zurück blieben immer noch zu viele, um sie einzeln zu lesen.

"Schrift vergrößern!" Mit ihren schlanken Händen wischte Tamira ein Fenster nach dem anderen vom Bildschirm. Es gab offensichtlich nicht nur ein Mädchen mit diesem Namen.

"Beschränke auf Kanada", half Tiana, "sie ist aus Vancouver."

Die Freundin grenzte die Suche erneut ein und Sekunden später fand sie, was sie befürchtet hatte. Das Foto in einem kurzen, rot umrandeten Textabschnitt war ihr sofort ins Auge gesprungen.

Mit der Hand vergrößerte sie das Fenster und las.

"Vermisst wird seit dem Abend des einunddreißigsten Mai 2024 die siebzehnjährige Clarice Bowen. Sie kehrte nach der Arbeit nicht nach Hause zurück. Ihr Wagen, ein hellblauer Ford Pick-up, wurde an einem Rastplatz des nördlichen Trans-Canada-Highways gefunden, unverschlossen und unbeschädigt. Ein cremefarbener Nylon-Rucksack mit Geld und den Papieren der jungen Frau lag auf dem Beifahrersitz. Es gibt keine Anzeichen von Fremdeinwirkung oder Gewalt."

Es folgten eine genaue Personenbeschreibung, der exakte Fundort des Wagens und eine Aufzählung der Kleidungsstücke, die Clarice getragen hatte. Alles, was im Auto entdeckt wurde, ließ sich mit dem Finger antippen, worauf sich ein dreidimensionales Hologramm des Gegenstandes vom Bildschirm löste und davor langsam um seine eigene Achse rotierte. Dass die Jugendliche an einer ausgeprägten Seheinschränkung litt und starke Kontaktlinsen trug, war auch erwähnt. Ein Foto zeigte den hellblauen Pick-up, ein zweites ein pummeliges Mädchen mit mürrischem Gesicht, kinnlangen roten Haaren und einer Unmenge Sommersprossen. Beide Bilder verwandelten sich ebenfalls in ein dreidimensionales Hologramm und rotierten langsam vor dem Bildschirm.

Tamira beugte sich vor und las den Text ein zweites Mal. Auf der Unterlippe kauend lehnte sie sich wieder zurück. Es gab etwas, das nicht in der Anzeige stand. Clarice besaß die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, und diese bemerkenswerte Gabe würde ihre Eintrittskarte für die Schule für Jugendliche mit besonderen Begabungen hier in England sein. Sie sah in finsterster Nacht besser als am hellen Tag, denn da bereitete ihr ihre hochgradige Lichtsensibilität erhebliche Probleme. Zum Schutz der empfindlichen Netzhaut trug sie tagsüber die Linsen.

Tiana war durch einen Zufall im Netz auf das Mädchen aufmerksam geworden. Clarices Eltern hatten sich geweigert, die Sehschwäche ihrer Tochter operativ beheben zu lassen. Sie befürchteten, dass diese ihre Fähigkeit dabei verlieren würde. Der Augenarzt zog daraufhin das kanadische Jugendamt hinzu und das sah ein solches Verhalten als Vernachlässigung an. Es verklagte die Erzie­hungs­berechtigten wegen Verletzung der Fürsorgepflicht. Wie zu erwarten schlug die Angelegenheit Wellen und war so ins Internet geraten.

Tamira legte den Kopf zurück an die hohe Lehne ihres Schreibtischstuhles und kniff ein wenig die Augen zusammen, eine Angewohnheit von ihr, wenn sie nachdachte.

Im Netz gab es unzählige skurrile Dinge. Und Menschen, die über besondere Fähigkeiten verfügten, waren längst keine Seltenheit mehr. Vor dreißig, ja vor zwanzig Jahren sah das noch ganz anders aus.

In ihrer Kinderzeit war das tunlichst verschwiegen worden, denn es galt als Makel, derartige Sprösslinge zu haben. Obwohl sie inzwischen dreiundvierzig war, konnte sie sich gut daran erinnern. Ihre Eltern hatten gleich zwei davon gehabt: Nicht nur sie selbst, sondern auch ihre ältere Schwester war mit einer solchen besonderen Begabung geboren worden.

Diese Kinder, die damals als Außenseiter gemieden oder gar gemobbt wurden, bildeten heute einen essentiellen Teil der Gesellschaft. Sie arbeiteten in Bereichen, in denen sie ihre Gaben anwenden und bestmöglich nutzen konnten. In speziellen Schulen wurden sie darauf vorbereitet und in der Nutzung und Beherrschung ihrer besonderen Fähigkeit unterwiesen. Eine dieser Institutionen, sogar eine der besten, war hier auf Darach Manor.

"Was wissen wir sonst über das Mädchen?", fragte Tamira und schob sich zum wiederholten Male eine widerspenstige Strähne ihres kurzen dunkelbraunen Haares aus der Stirn.

Tiana, die vorhin aufgestanden war und ihr die ganze Zeit über die Schulter geschaut hatte, richtete sich auf.

"Clarice Bowen. Einzelkind, mäßiger Schulabschluss, Lehre zur Industriekauffrau im zweiten Ausbildungsjahr. Aufnahme an unserer Schule vorgesehen im September 2024, Fortsetzung der Ausbildung bei Genera Medical Developments", rasselte sie herunter und ließ sich wieder in ihren Schreibtischstuhl fallen, dessen Rückenlehne mit leisem Ächzen gegen diese Behandlung protestierte. Erneut begann sie mit dem Stift zu spielen. Sie kannte die Aufnahmekandidaten für das kommende Schuljahr alle im Vorfeld. "Clarice freute sich darauf, hier zu lernen, Tammy. Sie hat uns sogar in einem Brief geschrieben, dass sie es kaum erwarten kann, endlich von zu Hause wegzukommen."

"Warum haben dann die Eltern am Telefon gesagt, dass sie krank sei, wenn sie in Wirklichkeit seit vorgestern vermisst wird?", grübelte Tamira. "Normalerweise nimmt man doch in so einem Fall so viel Hilfe in Anspruch, wie man bekommen kann."

Tiana zuckte mit den Schultern. "Vielleicht wollen sie es nicht an die große Glocke hängen? Oder dürfen nicht drüber sprechen? Kann auch sein, sie schämen sich."

Es gab zwei logische Erklärungen für das Verschwinden des siebzehnjährigen Mädchens. Entweder war Clarice entführt worden oder sie hatten es mit einer Aussteigerin zu tun, die das kühle Kanada gegen die warmen Strände von Hawaii eintauschen wollte.

"Heute Abend werde ich noch einmal intensiv im Netz suchen." Tamira stand auf und reckte sich ausgiebig. Sie war ebenso klein und zierlich wie ihre Freundin und Kollegin, doch in ihr steckte eine unbändige Kraft, die aus ihrer traumatischen Kindheit erwachsen war. "Jetzt habe ich erstmal Training, es ist gleich zwei. Kommst du mit?"

Tiana lachte und winkte ab.

"Du gibst wohl nie auf", antwortete sie. "Nein, nein, geh du mal allein zu deinen Schützlingen. Ich mach hier noch ein bisschen weiter." Lächelnd schüttelte sie den Kopf und wedelte mit der Hand in Richtung der Tür. "Geh nur, Tammy. Ich bin sicher, du wirst schon sehnlichst erwartet."

Sie sah Tamiras dunkle Augen vergnügt funkeln, während die Freundin lachend das Büro verließ, nicht ohne ihr vorher noch einmal kurz zuzuwinken.

Tamira war eine der Lehrerinnen der Schule. Zu ihrem Lehrgebiet gehörte der Umgang mit psychischen Fähigkeiten wie Hypnose oder Telepathie. Sie trainierte die mentale Stabilität und Psyche aller Schüler, doch ihr Training war besonders wichtig für die Guardians und deren Anwärter.

Tiana lächelte wehmütig. Seit zwei Jahren war sie nicht mehr bei der Truppe. Frustriert hatte sie einsehen müssen, dass das Lehramt-Studium und die Arbeit für die Organisation ihr nicht genügend Zeit ließen für das immense Trainings­pensum, das einem Guardian auferlegt war.

Jais, der neunzehnjährige, blonde Däne, hatte sie abgelöst und mit ihrem jüngeren Bruder Trajan das Team Blau gebildet, bis die Zweierteams aufgelöst wurden.

Schon während ihres Studiums war sie Tariqs Assistentin geworden, um den Schulleiter bei seiner weltweiten Suche nach begabten Kindern zu unterstützen. Er hatte ihr gezeigt, worauf sie im Internet zu achten hatte, und ihr die versteckten Hinweise und Codes erklärt, an denen sich die Personen mit einer besonderen Fähigkeit im Netz erkannten. Inzwischen erledigte sie das alles allein und Tamira half ihr, so oft sie Zeit fand.


'Tag' und 'Nacht' waren von Imara aus der Schule abgeholt worden und kamen vom Garagentrakt zum Haupthaus herüber, langsam, schlendernd. Satu plauderte und Jala hörte zu.

Die Spitznamen waren ihnen von den anderen gegeben worden, denn die beiden Mädchen konnten nicht gegen­sätzlicher sein.

Die vierzehnjährige Satu war Tag. Eigentlich lebte sie bei ihrer Tante in den Vereinigten Staaten. Aber diese war nach Weihnachten schwer erkrankt und hatte darum gebeten, das Mädchen bereits jetzt schon nach England an das Internat schicken zu können. Nach ihrer Befreiung aus dem Labor vor sechs Jahren war die Siebenjährige zu ihrer Tante gekommen, doch ihre Aufnahme an der Schule für den Herbst des kommenden Jahres hatte bereits festgestanden. Imara, die sich darauf freute, Satu wiederzusehen, hatte eingewilligt, sich um sie zu kümmern.

Satu war ein Teenager, den jeder als bildhübsch bezeichnete, und ein wahrer Sonnenschein. Sie verbreitete pure Lebensfreude. In ihrer Nähe fiel es schwer, Groll zu hegen oder Bitterkeit zu empfinden. Sie trug stets farbenfrohe Kleidung, am liebsten T-Shirts und weite Latzjeans, und ihr langes, blondes Haar war immer offen. Sie lachte viel, konnte gut zuhören und schien einfach unfähig in anderen etwas Böses zu sehen.

Jala hingegen war dunkel. In jeder Beziehung. Man konnte die achtzehnjährige gebürtige Irakerin nicht schön nennen und sie wusste es. Makeup und Frisur waren ihr völlig gleich, obwohl gerade in ihrem Alter Mädchen viel Wert darauf legten. Das machte sie zum Außenseiter in ihrer Klasse. Doch es störte sie nicht. Ihr lag nichts an Freundschaften mit den Mädchen, die mit ihr zur Schule gingen, denn die erschienen ihr allesamt oberflächlich, falsch und albern. Am liebsten hatte es Jala, wenn man sie in Ruhe ließ.

Ihre Gestalt war knochig und nicht fraulich, mit einer kaum erkennbaren Brust und einem Becken, so schmal wie das eines Jungen. All das war sowieso nicht zu sehen, denn zum Leidwesen ihrer Pflegemutter Imara trug sie T-Shirts, die ihr mindestens zwei Nummern zu groß waren, und grundsätzlich dunkle Kleidung, am liebsten schwarz oder grau. Von derselben Farbe war auch das Basecap, unter dem sie ihre wilde, nachtschwarze Mähne verbarg,

Was an Jala aber am meisten verstörte, waren ihre Augen. In der Regel hielt sie den Blick gesenkt. Aber wenn sie ihn einmal hob und jemanden direkt ansah, dann hatte derjenige den Eindruck, dass sie ihm bis auf den tiefsten Grund der Seele blicken konnte. Durchdringend, bohrend und alles erkennend. Es war unangenehm, von ihr angeschaut zu werden, und nicht jeder konnte ihrem Blick standhalten. Ihre tiefdunklen Augen unter den langen schwarzen Wimpern verstärkten den Effekt noch.

Aber Jala war nicht nur dunkel, sie war auch still. Nie mischte sie sich in Gespräche ein, nie gab sie ungefragt ihre Meinung preis. Im Unterricht musste sie aufgefordert werden, zu reden, und bei Einsatzbesprechungen hörte sie generell nur zu.

Wenn die zwei Mädchen zusammen unterwegs waren, traten die gegensätzlichen Wesen der beiden besonders deutlich hervor. So wie jetzt gerade.

Eben seufzte Satu, blieb stehen und hielt ihr Gesicht selig lächelnd der Sonne entgegen. "Ich liebe den Sommer in England!", seufzte sie und breitete die Arme aus, als wollte sie jemanden umarmen.

Jala hatte ihr nur einen kurzen Blick zugeworfen und war weitergegangen. Ihr schwarzer Rucksack baumelte an einem Träger über der Schulter. "Ich habe Hunger", meinte sie lakonisch. "Lass uns zu Kareem gehen." Und ohne sich zu vergewissern, dass Satu ihr folgte, betrat sie durch den Wirtschaftseingang das Haus.

Drinnen war es angenehm kühl nach der sommerlichen Wärme draußen. Ihre Schritte hallten auf den Bodenfliesen und als sie ins kleine Foyer kam, umfingen sie die vertrauten Düfte. Wie immer roch es nach altem Gemäuer und dem Öl, mit dem die Leute vom Housekeeping Service die dunkle Holzvertäfelung pflegten.

Draußen vor dem Haus konnte sie Satus Stimme hören. Die Schulleiterin war kurz vor ihnen um die Hausecke gekommen und musste sich nun wahrscheinlich anhören, wie schön das Leben war.

Man konnte es kein Lächeln nennen, aber ein wenig hob sich Jalas Mundwinkel bei dem Gedanken daran.

Als sie in dem engen Korridor zur Teeküche abbiegen wollte, stieß sie mit jemandem zusammen. Der Rucksack rutschte von der Schulter und fiel zu Boden.

"Oh, tut mir leid", hörte sie eine überraschte Stimme. Noch bevor sie sich bücken konnte, hatte die angerempelte Person schon den Rucksack aufgehoben. Obwohl es ziemlich dämmrig in dem dunklen Korridor war, erkannte sie ihn an seinem weißen T-Shirt. Es war Ethan.

"Danke", antwortete sie leise und nahm ihm den Träger aus der Hand, um ihn sich wieder auf die Schulter zu schieben. "Nichts passiert."

Sie trat zur Seite, damit er vorbeigehen konnte, doch er blieb stehen.

"Ich wollte eben zu Kareem … und fragen, ob er noch was zu essen hat. Du bist doch auch grad gekommen. Magst du … vielleicht mitkommen?"

Er schob die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans und sah sie fragend an. Es ließ seine Schultern ungeheuer breit aussehen, doch das war ihm sicher nicht bewusst.

Jala brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass er tatsächlich sie gefragt hatte. Eigentlich wollte sie ablehnen, denn Ethan gehörte nicht unbedingt zu denen, deren Gesellschaft ihr angenehm war. Andererseits hatte sie ja tatsächlich Hunger. Nach kurzem Zögern nickte sie und wandte sich der Küchentür zu. Ethans Gesichtsausdruck konnte sie so nicht mehr sehen.


Tanyel ließ das schwere Eingangsportal hinter sich ins Schloss fallen. Eine laue Windbö wirbelte Wolken aus gelbem Blütenstaub von den Jasminbüschen vor dem Haus auf und zerzauste ihm die blonden Haare. Oben im ersten Stock hörte er durch das geöffnete Fenster Stimmen. Der Sechsundvierzigjährige sah auf die Uhr. Es war fast zwei, Tamiras Unterricht würde gleich beginnen.

Pfeifend machte er sich auf den Weg zum Gesindehaus. In früheren Zeiten, als Darach Manor der Wohnsitz der altehrwürdigen Henley-Familie war, hatte das Dienst­personal in dem Gebäude gewohnt. Heute lebten die zum Internat gehörigen Jungen darin. Es war lange nicht genutzt worden und dementsprechend verfallen gewesen.

Vor sechs Jahren musste der ehemalige Aufenthalts- und Speiseraum im Erdgeschoss binnen eines Tages bewohnbar gemacht werden. Die Guardians hatten in einer Mission sieben eingesperrte Kinder mit besonderen Fähigkeiten gerettet, zwei Mädchen und fünf Jungen. Letztere waren vorerst dort untergebracht worden.

Bran, einer von ihnen, kam ihm gerade entgegen. Er war inzwischen ein junger Mann mit hellbraunen Haaren, eher weichen Gesichtszügen und freundlichen graugrünen Augen geworden.

"Ich fahre in die Stadt, Tanyel, brauchst du was?", rief er herüber und klimperte mit dem Autoschlüssel.

Der Steward schüttelte lächelnd den Kopf. "Ich muss dann selbst nochmal los, danke."

Er winkte ihm zu und der Zwanzigjährige drehte sich um und verschwand in Richtung der Garagen.

Bran und Ethan waren die Ältesten der geretteten Kinder. Zwei Jahre nach ihrer Befreiung hatten beide die Aufnahmeprüfung bei den Guardians bestanden. Seitdem verstärkten sie das Team mit ihren Gaben und wohnten bis heute im Gesindehaus. Trotz ihrer Gegensätzlichkeit in Charakter und Aussehen hielt ihre Teenager-Freundschaft von damals unerschütterlich.

Ethan verkörperte alles das, was Bran fehlte. Er war drauf­gängerisch, wortkarg und ein außerordentlich gut­aussehender Mann. Das widerspenstige blonde Haar kämmte er - wenn überhaupt - mit den Fingern. Seine breiten Schultern und die markanten, männlichen Gesichtszüge zogen die Blicke auf sich. Doch das Auffälligste waren die tiefblauen Augen, die stets misstrauisch und sorgenvoll zugleich blickten.

Tanyel bog hinter dem Ostflügel rechts ab und kam in den Schatten der hohen Bäume. Sein Blick streifte die Hecken an der Osteinfahrt und der Steward in ihm registrierte stirnrunzelnd, dass sie dringend geschnitten werden mussten.

Wie immer, wenn er zu den etwas abgelegenen Wirtschafts­gebäuden hinüberging, machte er einen kurzen Abstecher zu Tariqs Gedenkstein. Es war dessen Wunsch gewesen, für jeden, der einmal zur großen Familie von Darach Manor gehört hatte, hier auf dem Grundstück einen solchen aufzustellen. Und so befanden sich in dem winzigen Hain unter den hohen Bäumen neben Tariqs Stein auch zwei von ehemaligen Guardians, die im Einsatz umgekommen waren. Einer der beiden war ein Niemand gewesen, der in keinem Melderegister aufgetaucht war. Deshalb hatten sie ihn auf dem Grund des Hauses begraben, direkt am See, einem Platz, den er gemocht hatte. Denn für sie war er jemand gewesen. Ein Kamerad.

Heute war Tanyel nicht der Einzige, der zu dem stillen Ort hinter dem Gartenhaus gefunden hatte. Penelope, die Schul- und Internatsleiterin, ordnete Blumen in einer Vase und zupfte zwei welke Blüten heraus. Beim Knirschen seiner Schritte auf dem Kies richtete sie sich auf und drehte sich um.

"Es sind immer dieselben, die sich hier treffen", lachte sie und strich sich das schick frisierte graue Haar aus der Stirn, bevor sie sich wieder dem Strauß widmete, der auf dem kniehohen schwarzen Marmorwürfel stand. "Ich kann mich mit diesem Klotz nicht anfreunden", brummte sie mit abgewandtem Gesicht. "So schlicht und völlig schmucklos, einfach nur ein Block."

"Er wollte ihn so", gab Tanyel zurück, "und er ist genau so, wie Tariq es bestimmt hatte und wie er selbst gewesen war. Er hat nie viel Wert auf seinen gesellschaftlichen Stand und seinen angeborenen Adel gelegt. Nicht der Name adelt den Menschen, das war seine Devise."

"Ja", seufzte Penelope und ließ ihre Hände einen Moment lang sinken. "Du hast ja recht."

Der Steward war neben ihr stehen geblieben und schaute auf sie hinab. Die rundliche Frau reichte ihm kaum bis zu den Achseln. Doch die schicke Mittfünfzigerin mit dem immer gepflegten Make-up besaß eine enorme innere Kraft, die sie für ihre Aufgabe hier bestens geeignet machte. Die Teenager hatten gehörigen Respekt vor ihr.

Sie hob den Kopf und sah mit blitzenden, blauen Augen zu ihm hinauf. "Wir haben gestern echt Nerven gebraucht mit der Heizung im Büro", meinte sie, richtete sich auf und wischte die feuchten Hände an der Jeans ab. "Unsere Sekretärin hat die ganze Zeit wenig freundliche Dinge vor sich hingemurmelt und ich glaube, sie galten dir." Übertrieben vorwurfsvoll sah sie zu dem über zwei Meter großen Mann neben sich auf und runzelte vielsagend die Stirn.

Tanyel hob bedauernd die Hände. "Warum habt ihr … ach richtig, ich war nicht da", fiel ihm ein. "Ich schau es mir heute noch an, damit ihr beiden Ladys am Montag nicht frieren müsst." Er grinste ebenfalls.

"Frieren? Im Juni? Nein, es war dieses Klopfen, was einen wahnsinnig gemacht hat."

"Ich kümmere mich, versprochen." Er nickte Penelope zu und setzte seinen Weg fort.

Am Gesindehaus angekommen richtete er prüfend den Blick auf den Fortschritt der Baumaßnahmen. Es mussten weitere Zimmer geschaffen werden, denn der Raum für die Jungen hatte sich nach und nach gefüllt, als neue Internatszöglinge dazugekommen waren.

Jais war der Erste gewesen. Der stille Blondschopf aus Dänemark hatte sich schwergetan, Anschluss zu finden an das unzertrennliche Bran-Ethan-Duo. Die beiden waren sehr verschlossen gewesen. Sie hatten Mirek vermisst, den Jüngsten der Kinder aus dem Labor, der ihnen während ihrer Gefangenschaft ans Herz gewachsen und wie ein kleiner Bruder geworden war. Und sie waren nicht bereit gewesen, Jais bei seinen Sprachproblemen zu helfen. Eine Weile hatte es ausgesehen, als würde der schmächtige Junge wegen Heimweh wieder abreisen. Er war sich verloren vorgekommen. Tanyels ernstes Gespräch mit Bran und Ethan hatte nichts daran geändert. Die beiden waren damals kurz vor ihrer Guardian-Prüfung gewesen und hatten sich dem Neuzugang turmhoch überlegen gefühlt.

Hilfe kam von unerwarteter Seite. La'ith, der stellvertretende Teamchef, erkannte die Not des damals erst Vierzehn­jährigen und holte ihn diskret unter seine Fittiche.

Ein Brummen, das sich von der Osteinfahrt näherte, ließ Tanyel den Kopf wenden. Als wären seine Gedanken das Stichwort für La'ith gewesen, sah er dessen unauffälligen Kleinwagen in den Garagenhof einbiegen.

Nachdem er das Auto geparkt hatte, kam der wortkarge und verschlossen wirkende Guardian langsam zu dem Steward herüber.

"Ist etwas nicht in Ordnung?", fragte er und ließ seinen Blick prüfend über das neue Dach des Gesindehauses wandern.

Tanyel lachte leise. "Doch, doch, alles bestens. Nein, ich habe grad ein bisschen in Erinnerungen gekramt und dran gedacht, wie du Jais vor Ethan und Bran gerettet hast."

La'ith antwortete nicht gleich darauf. Er war kein gefühl­voller Mensch und mit Lob umzugehen fiel ihm schwer.

"Er hat sich gut gemacht", erwiderte er ein wenig steif.

Jetzt lachte Tanyel laut. "Gut gemacht?", wiederholte er. "Sicher, da hast du recht. Und er ist dir auch dankbar. Aber mich wundert manchmal, dass du noch atmen kannst, so, wie er dich vereinnahmt hat. Wo du doch so gern in Gesellschaft bist."

Das Grinsen, das den Schlag begleitete, mit dem seine Pranke auf La'iths Schulter herabsauste, blieb unerwidert und das Gesicht mit den silbergrauen Augen zeigte keine Spur von Erheiterung. La'ith lachte nicht. Niemals. Tanyel wusste das und konnte damit umgehen.

Im Stillen bewunderte er den schlanken, schwarzhaarigen Guardian. La'ith hatte sich nie über Jais' Anhänglichkeit beklagt.

"Es hat funktioniert", gab der unfreiwillige Mentor zurück. "Er hat sich gefangen und seine ganze Kraft in die Ausbildung zum Guardian gesteckt. Dass es sich gelohnt hat, konnte er bei seiner fehlerfreien Aufnahmeprüfung zeigen."

Tanyel nickte versonnen. Er musste La'ith recht geben, es hatte funktioniert. Inzwischen wohnte Jais im Ostflügel von Darach Manor. Er hatte nie wieder davon gesprochen, nach Hause zurückkehren zu wollen.

La'ith nickte ihm knapp zu und wandte sich ab, um in Richtung Haupthaus zu verschwinden. Der Steward sah ihm eine Weile hinterher, bevor er seinen Rundgang um das Gesindehaus fortsetzte.

Wieder vor dessen Haustür angekommen, stellte er zufrieden fest, dass es keinen Grund zur Klage gab. Die Internatsschüler hatten bei der Renovierung alle kräftig mit angepackt, so dass die Arbeiten im Frühling abgeschlossen werden konnten. Im Haus war nun Platz für acht Schüler.

Sein Blick wanderte über die großen Fenster in der Dachschräge. Noch gab es da oben keine Zimmer, doch wenn die Schule weiterhin so ausgezeichnet lief, konnte es nötig werden, das Dachgeschoss auszubauen.

Aber nicht nur am Gesindehaus, auch am Haupthaus des alten Landsitzes war an- und umgebaut worden. Der Platz hatte hinten und vorne nicht mehr gereicht. Auf den Ostflügel war ein zweites Stockwerk gesetzt worden und der Hof mit dem Ausgang zum Garten wurde überdacht und zu einem geräumigen, neuen Speisesaal umfunktioniert. Die Regelung, dass wegen des zu geringen Platzes im bisherigen Speisezimmer in zwei Durchgängen gegessen werden musste, war damit Geschichte. Kareem, der Küchenchef, hatte seine Erleichterung darüber mit einem Festessen zur Einweihung des Speisesaals kundgetan.

Tanyel schmunzelte, als er sich erinnerte, wie dieser koch­begeisterte Junge vor acht Jahren ans Internat gekommen war. Still und gänzlich unbeabsichtigt hatte er nach einer Woche begonnen sich die Küche zu erobern, die bis dahin Tanyels Reich gewesen war. Und der damals erst fünfzehnjährige Kareem hatte sich nicht nur aufs Kochen verstanden. Auch die Kalkulationen der benötigten Lebensmittelmengen waren kein Problem für ihn gewesen. Dem Teenager hatte das Spaß gemacht, selbst wenn es bedeutet hatte, für die mitten in der Nacht von einer Mission heimkehrenden Guardians einen Imbiss bereitzustellen.

Von Anfang an hatte der sanftmütige Junge klargemacht, dass er kein Guardian werden wollte. Jetzt regierte er als ausgebildeter Küchenleiter über sein edelstahl-blitzendes Reich, den spanischen Koch und die beiden Hausmädchen.

Tanyel nickte noch einmal zufrieden vor sich hin beim Anblick des Gesindehauses und wandte sich ab, um in das Haupthaus zurückzukehren und nach der klopfenden Heizung zu schauen.


Derweil saß Rhea in ihrem Zimmer im ersten Stock des alten Herrenhauses und versuchte sich wieder auf das Lernen zu konzentrieren. Es fiel ihr schwer, denn draußen herrschte nicht nur schönstes Wetter, sondern die Stimmen der Schüler in dem Klassenraum gegenüber waren ziemlich störend gewesen.

Vor wenigen Minuten hatte Tamiras Unterricht begonnen und es wurde still auf dem Gang. Rhea trat ans Fenster, öffnete es weit und lehnte sich tief einatmend hinaus. Es war Sommer geworden.

Einen Augenblick erlaubte sie ihren Gedanken, davonzufliegen. Und wie so oft flogen sie zu ihrem Verlobten.

Für sie grenzte es immer noch an ein Wunder, dass Nakoa lebte und sich so gut erholt hatte. Er war vor sechs Jahren bei einer Mission vergiftet worden und um ein Haar gestorben. Issam, der Arzt des Teams, hatte leider recht behalten - Nakoa konnte nach dem langwierigen Heilungsprozess kein Guardian mehr sein. Mit der Erkenntnis dieser Tatsache war ihr Teampartner in ein tiefes Loch gefallen.

Tariq, der damalige Hausherr und Schulleiter, hatte ihm daraufhin angeboten zu studieren und sich in die Unter­nehmensführung von Genera Medical Developments einzuarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt leitete er den Familien­konzern noch selbst. Nakoa war einverstanden gewesen und stand inzwischen kurz davor, leitender Direktor zu werden.

Rhea merkte, dass sie sich vertrödelte, und ging zurück an ihren Schreibtisch. Ihr Psychologiestudium forderte sie, denn Lernen war ihr nie leichtgefallen.

Seufzend sah sie auf die Uhr. Eine Stunde musste sie noch durchhalten, dann würde sie sich einen Kaffee verdient haben. In den acht Jahren, die sie hier in England lebte, hatte sie sich nie an Tee gewöhnen können.


"Du bist zu langsam, Eliasz", knurrte Sadik. "Das muss schneller gehen!"

Der Gemaßregelte schickte lediglich einen kurzen Blick zu seinem Ausbilder hinüber. Mehr traute sich der Blondschopf nicht, denn den vier Jahre älteren Trainingspartner länger aus den Augen zu lassen, würde sich definitiv rächen. Ethan war sagenhaft schnell mit dem Messer. Und es wäre nicht das erste Mal, dass sein Gegner den kalten Stahl der stumpfen Übungswaffe am Hals spürte, während er noch nach einer wirksamen Angriffsstrategie suchte.

Der Sechzehnjährige atmete tief durch. Sadik entging nichts. Er war im Kampftraining gnadenlos und streng und das musste er auch sein. Von den Nahkampffähigkeiten konnte das eigene Überleben oder das von Teamkameraden abhängen. Und deswegen nahm dieses Training mit täglich drei Stunden den Löwenanteil der Zeit ein, den die Guardians und die Anwärter von ihrer Freizeit opferten.

Eliasz konzentrierte sich. An Schnelligkeit konnte er dem Trainingspartner vielleicht nicht das Wasser reichen. Aber dafür war er wendiger als der Ältere. Und das würde er nutzen.

Ethans nächster Angriff lief ins Leere. Eliasz war geschmeidig in die Hocke gegangen und hatte sich dabei blitzartig weggedreht. Gleichzeitig streckte er einen Fuß vor.

Ethan, der ihn in den Schwitzkasten nehmen wollte, torkelte ins Leere und Eliasz' ausgestrecktes Bein brachte ihn zu Fall. Er konnte den Schwung nicht abfangen und stürzte. Es gelang ihm, sich über die Schulter abzurollen, um auf den Rücken zu kommen und nicht auf Bauch und Kinn zu landen. Bevor er sich auf einen Gegenangriff einrichten konnte, saß Eliasz auf seiner Brust und nagelte ihm die Oberarme mit den Knien auf der Matte fest.

Doch einen Sekundenbruchteil später stand Ethan hinter Eliasz und setzte dem jungen Polen das Übungsmesser an die Kehle.

Seufzend hob dieser kapitulierend die Hände.

"Was soll das!", protestierten die anderen, die den Kampf aufmerksam verfolgt hatten. "Fähigkeiten anzuwenden ist im Training nur nach vorheriger Absprache erlaubt!"

Koll und Yonas ballten die Fäuste und schauten aufgebracht zu Ethan hinüber. Der stand noch immer hinter Eliasz und machte keine Anstalten, das Messer von dessen Kehle zu nehmen.

"Ethan!"

Der Ruf des Teamchefs peitschte durch die Trainingshalle. Sadik stand am Rand der Tatami, die bulligen Oberarme vor der Brust verschränkt, und hatte die Stirn gerunzelt.

Was ist mit dem Kerl los, fragte er sich. Zuweilen schien es, als behandelte der Guardian die Gefährten wie echte Gegner. Ja, es war ein Menge Zorn in dem Jungen gewesen, als sein bester Freund vor fast vier Jahren in ein anderes Team kam als er. Ihr Wunsch, zusammenzubleiben, war nicht erfüllt worden und jeder hatte den Frust der beiden verstanden. Doch Bran war damit klargekommen, Ethan nicht.

Sadik als ihr Trainer war sicher gewesen, das würde sich ändern, wenn Ethan für einen jüngeren Guardian die Verantwortung übernahm. Jais hatte die Prüfung im vergangenen Juni bestanden und war ihm zugeteilt worden. Doch obwohl der blonde, langaufgeschossene Däne sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, war Ethans Verhalten dasselbe geblieben.

Bran versuchte nach wie vor, ihn und seine Ausrutscher zu entschuldigen. Doch auch ihm gingen die Ausreden aus, wenn der Freund wieder mal ein Verhalten an den Tag legte, das eines Guardians unwürdig war.

Sadik nahm sich vor, mit Ethan zu reden. Und er würde seinen Bruder Gaz, den Waffenlehrer der Guardians, bitten, dabei zu sein. Gaz war der Ziehvater des Desaster-Duos und sowohl Bran als auch Ethan hielten viel von ihm.

Ein Blick auf den MFA zeigte Sadik, dass die Trainingszeit um war. "Wir machen für heute Schluss", verkündete er und nickte den Männern zu. Während sie auf die Füße kamen, blieb er stehen und beobachtete, wie Ethan fast widerstrebend das Messer von Eliasz' Hals nahm und wegsteckte. Bran stand gleich darauf neben dem Freund, murmelte etwas und ging zusammen mit ihm hinaus.

Sadik sah es mit verengten Augen und fuhr sich besorgt mit der Rechten durch das militärisch kurz geschnittene, braune Haar. "Bist du in Ordnung?", vergewisserte er sich bei Eliasz.

Der hockte noch immer auf der Tatami und starrte auf den Boden. Jetzt hob er den Kopf.

"Wenn man von meinem angekratzten Selbstbewusstsein mal absieht - ja. Ethan würde mich nie verletzen. Keinen von uns, Sadik. Er ist ein Guardian."

Der Blick aus den graublauen Augen, den Eliasz dem Trainer zuwarf, während er auf die Füße kam, war vorwurfsvoll. Wie konnte der Teamchef an einem von ihnen zweifeln? Obwohl die Zeit im Labor mehr als sechs Jahre zurücklag, hatte Eliasz nichts davon vergessen. Er war eines von den jüngeren Kindern gewesen. Zuerst hatten sie nur Bran gehabt, der sich um sie kümmerte wie ein großer Bruder. Als Ethan dazugekommen war, taten die beiden das zu zweit. Regelmäßig wurden sie hart bestraft für Aufmüpfigkeit und Widerspruch, was meist passierte, wenn sie die Kleinen in Schutz nahmen.

Eliasz würde Ethan immer verteidigen. Selbst wenn der deutlich spürbare Zorn in diesem sich irgendwann unkontrolliert Bahn brach. Falls Sadik es so weit kommen ließ …


Langsam und vorsichtig wurde die schwere Holztür des Büros geöffnet. Zuerst sah Nakoa Rheas Rücken, dann drehte sie sich um und balancierte die beiden dampfenden Kaffeebecher herein.

"Mach eine Pause, ja?", bat sie und schloss die Tür, indem sie ihr mit dem rechten Fuß einen behutsamen Tritt verpasste.

Nakoa musste wider Willen lächeln. Er nickte ihr zu und versuchte das Telefongespräch, das er in makellosem Französisch führte, rasch zu beenden. Nach zwei Minuten war es erledigt.

Er erhob sich aus dem Stuhl hinter dem Schreibtisch, um sich zu seiner Verlobten zu setzen, die in einen der beiden breiten Ledersessel gesunken war.

"Wie kommst du voran?", fragte sie.

Nakoa nippte am heißen Kaffee und warf Rhea über den Tassenrand hinweg einen undeutbaren Blick zu. Er besprach nicht gern Firmendinge mit ihr und wenn, dann nur, falls sie gezielte Fragen stellte. Wie vor drei Tagen, als sie wissen wollte, was ihn momentan so sehr beschäftigte. Er hatte ihr erzählt, dass er mit einem französischen Forschungslabor in Verhandlungen stand.

"Wir nähern uns einander an. Unsere Anwälte sind zuversichtlich." Er nahm einen zweiten Schluck.

"Das ist schön zu hören", meinte Rhea versonnen und schloss die Hände um die heiße Tasse, als wäre ihr kalt. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und fühlte sich dabei, als hätte er sie in eine warme Decke eingehüllt.

Nakoa war ihre große Liebe. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie das erkannte. Gemocht hatte sie den stillen Siebzehn­jährigen ja schon, als er nach Darach Manor kam. Dass er ihr Teampartner geworden war, hatte sie gefreut, denn mit dem ein Jahr älteren Jungen zu arbeiten hatte sie sich schön vorgestellt.

Und dann war dieser verhängnisvolle Einsatz in dem alten Schloss gekommen. Da war ihr klargeworden, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. Die Angst, ihm das nicht mehr sagen zu können, war unerträglich gewesen. Und der Gedanke, ihn zu verlieren, hatte ihr die Luft zum Atmen genommen.

Doch eines der geretteten Laborkinder, Tanyels Pflegesohn Mirek, besaß die Gabe des Heilens und er hatte es geschafft, Nakoas Gesundheit fast vollständig wiederherzustellen.

Sechs Jahre lag das zurück. Inzwischen war eine Menge passiert. Nakoa und sie würden heiraten. Das war beschlossene Sache. Aber erst wollte ihr Verlobter sein duales Studium beenden. Er steckte mitten in den Prüfungen und die wenigen Minuten, die er ihr schenkte, waren ihr kostbar.

"Woran denkst du?", fragte er leise und musterte sie.

Rhea starrte in ihre Tasse und lächelte wehmütig. "An diese Zeit damals, vor sechs Jahren."

"Was, immer noch?" Fast mitleidig schüttelte er den Kopf.

"Immer noch und immer wieder. Ich kann es nicht vergessen. Manchmal träume ich sogar davon. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Angst ich um dich hatte." Jetzt hob sie den Kopf und schaute ihn an. "Wenn ich dich vor mir sehe, dann muss ich mir immer wieder sagen, wieviel Glück ich habe. Dass du noch lebst und dass du dich wieder bewegen kannst. Und was du alles erreicht hast in dieser Zeit …" Sie schluckte und brach ab.

Er setzte die Tasse ab, stand auf und trat hinter ihren Sessel. "Du bist nicht der Einzige, der in dieser Zeit Angst hatte", sagte er ruhig und legte ihr die Hände auf die Schultern. "Ich bin froh, dass das Ganze damals mir passiert ist und nicht dir."

Er drückte einen Kuss auf ihren Scheitel. "Auch ich hätte mir nicht vorstellen können dich zu verlieren."

Sie wandte den Kopf, um zu ihm hochzusehen. "La'ith macht sich heute noch Vorwürfe wegen damals."

"Ich weiß", meinte Nakoa schulterzuckend und ging zurück an seinen Schreibtisch. "Ich kann es ihm nicht ausreden." Zwischen ihm und dem verschlossenen Guardian herrschte ein eigenartiges Verhältnis. La'ith gab sich die Schuld, dass ihm dieses Gift damals fast zum Verhängnis geworden war. Und auch dass er wegen seiner geringen körperlichen Belastbarkeit kein Guardian mehr sein konnte, lastete La'ith sich an.

Nakoa wusste, dass das ständige Schuldgefühl dazu führte, dass Ahmads Bruder ihm bis heute aus dem Weg ging. "Ich würde La'ith ein wenig Freude in seinem Leben wünschen", meinte er, schob die Hände in die Hosentaschen und sah aus dem Fenster. "Und sei es nur, um ihn einmal lachen zu sehen."

Rhea war hinter ihn gekommen und schlang ihm die Arme um die Taille. "Ich würde auch dich gern öfter lachen sehen", sagte sie vorwurfsvoll und lehnte die Stirn an seinen Rücken. "Du bist viel zu ernst. Ich mache mir Sorgen, dass du dich von der Firma auffressen lässt."

Er drehte sich um und legte ihr die Arme um die Schultern, eine Geste, die sie an den Moment seiner Heimkehr von der Reha-Klinik erinnerte. Damals, nach den Monaten des Gelähmt-Seins, waren seine Bewegungen unbeholfen und steif gewesen. Trotzdem hatte er sie umarmt und sie damit unsagbar glücklich gemacht.

Seufzend schmiegte sie sich an ihn. "Ich brauche dich. Vergiss das nicht. Bitte pass auf dich auf."

"Versprochen."

Einen Augenblick blieben sie noch stehen, bis sie seine innere Unruhe spürte. Eine Viertelstunde für eine Tasse Kaffee gestand er sich zu, danach rief ihn die Arbeit zurück an den Schreibtisch.

Gegen den heftigen Drang ankämpfend, ihn weiter festzuhalten, löste sie ihre Arme von ihm und ging zu dem winzigen Tischchen. Als sie sich mit den Kaffeebechern in der Hand zur Tür wandte, saß er schon wieder in seinem Schreibtischstuhl und hatte den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Die kostbare Viertelstunde war um.

Lächelnd verließ sie das Büro.


"Was zum Donnerwetter ist los mit dir, Ethan?"

Hennak hatte sich neben dem Angesprochenen aufgebaut und stemmte die Arme in die Seiten. Das Wasser rann ihm aus den tropfnassen dunkelblonden Haaren über den nackten Oberkörper hinab und verschwand im Handtuch, das der Dreiundzwanzigjährige um die Hüften geschlungen hatte.

Yonas warf einen besorgten Blick zu den beiden, während er sich abtrocknete. Er hielt Hennak für ungeeignet, um Ethan dazu zu bringen, sein Verhalten zu überdenken. Der Angestellte bei einem Sicherheitsdienst besaß nicht das nötige Fingerspitzengefühl für solche Situationen, erst recht nicht, wenn Emotionen ins Spiel kamen.

Yonas hatte sich selber schon vorgenommen mit Brans Ziehbruder zu reden, bislang jedoch gezögert. Nun war ihm einer zuvorgekommen und der angehende Arzt befürchtete, dass Hennaks Wortwahl kein glücklicher Anfang war. Er hatte sich nicht getäuscht.

Ethan sah kurz auf und schenkte seinem Gegenüber einen geringschätzigen Blick. Man konnte deutlich sehen, dass er ihm nicht das Recht zugestand, ihn zu maßregeln.

"Nichts", knurrte er, drehte sich wieder um und rubbelte die feuchten Haare trocken. "Lass mich in Ruhe."

Bevor Hennak ihn am Arm packen konnte, weil er sich nicht so einfach abspeisen lassen wollte, mischte Yonas sich ein.

"Das ist Sadiks Angelegenheit", mahnte er. "Ethan hat Recht, lass ihn in Ruhe, Hennak."

Der Kamerad fuhr herum, um zu sehen, wer den einzigen Querschläger im Team zu verteidigte. Dabei bemerkte er Trajans langsames Kopfschütteln und schwieg. Ethan war es nicht wert, dass sie sich gegenseitig in die Haare gerieten. Früher oder später musste er merken, dass er mit so einem Verhalten seinen Platz im Team aufs Spiel setzte, denn was Yonas sagte, stimmte: Sadik würde sich das nicht mehr lange anschauen, ohne einzugreifen. Nach einem letzten, verächtlichen Blick auf Ethan, der sich inzwischen hingesetzt hatte, um sich anzuziehen, schüttelte er den Kopf und wandte sich ab.

"Wenn Hennak einmal richtig sauer ist, trau ich ihm durchaus zu, dass er Ethan eine reinhaut", raunte Bran, damit es außer Yonas neben ihm keiner hören konnte. Er hatte die Auseinandersetzung der beiden genauso besorgt verfolgt wie dieser, sich aber nicht eingemischt. Mit zunehmendem Unbehagen sah er, wie sein bester Freund sich veränderte. Ethan hatte kaum noch etwas gemeinsam mit dem freundlichen und stillen Jungen, der vor zehn Jahren zu ihnen ins Labor gebracht worden war.

Er selber war damals so froh gewesen, dass der Neue die Last, sich um die Jüngeren zu kümmern, ohne zu zögern mit ihm geteilt hatte. Damit war für ihn alles leichter geworden, erträglicher. Mit Ethan an seiner Seite hatte er sogar den Tod seines kleinen Bruders verkraften können. Aidan war in diesem Labor gestorben, ein Opfer der Versuche, die mit ihnen dort durchgeführt wurden. Er selbst, Ethan, und die drei kleineren Jungen hatten überlebt, genau wie die beiden Mädchen, Jala und Satu. Außer den zwei Jüngsten, Mirek und Satu, waren alle hier auf Darach Manor, manche noch, manche inzwischen wieder.

Die Freundschaft mit Ethan hatte deshalb einen hohen Stellenwert in Brans Leben. Er konnte unmöglich tatenlos zusehen, wie sich sein Ziehbruder mit seinem Verhalten aus der Gemeinschaft manövrierte. Machte er auf diese Art weiter, würde Ethan früher oder später erreichen, dass er aus dem Team geworfen wurde. Hennaks Frage war berechtigt gewesen. Was war los mit ihm?

"Eine reinhauen? Soweit wird es niemals kommen." Yonas schlüpfte in die Schuhe, warf die Turnschuhe in den Spind und ließ seine verschwitzte Trainingskleidung in die Wäschebox fallen. "Streit ist okay, doch wir schlagen uns nicht. Du bist lange genug dabei, um das zu wissen. Wenn es drauf ankommt, müssen wir uns unbedingt aufeinander verlassen können."

Bran sah den zwei Jahre älteren Medizinstudenten an. Glaubte der wirklich, dass es Ethan auf Dauer gelang, sein Temperament im Zaum zu halten? Wenn Hennak ihn weiter provozierte, würde bald eine kräftige Prügelei als die erste ihrer Art in die Annalen der Guardians eingehen.

"Wir hatten schon lange keine Mission mehr", lenkte er ab, um das leidige Thema zu verlassen. Er hob die eigene Trainingskleidung mittels seiner Fähigkeit auf und ließ das Bündel quer durch den Raum bis hinüber zur Wäschebox schweben, in die er es fallen ließ. "Die letzte war Anfang Mai, wenn ich mich nicht irre."

Yonas nickte. Auch er sehnte sich nach Abwechslung. Das Medizinstudium fand er sehr interessant, aber es waren oft eintönige Inhalte dabei. Und sein Klinikalltag als Assistenzarzt war auch nicht sonderlich ereignisreich. Da waren solche Ereignisse wie eine Mission willkommen.

"Wartet nur, bis wir den Auftrag erhalten, uns um den Stealer zu kümmern", meinte Trajan, der Brans letzten Satz gehört hatte.

"Der Stealer? Wer ist das denn?" Eliasz hob neugierig den Kopf.

"Na der Typ, der den Begabten ihre Fähigkeit klaut. Noch nie von ihm gehört?"

Damit hatte Tianas Bruder die Aufmerksamkeit aller im Raum. Die anderen kamen näher.

"Wer soll das sein?"

"Nie gehört, den Namen."

"Klär uns mal auf, Gesetzeshüter!"

Alle redeten durcheinander.

Der dreiundzwanzigjährige Polizist lachte und zog das Shirt über den Kopf, das seine trainierten Armmuskeln und die breite Brust überspannte.

"In Ordnung, aber nicht hier. Lasst uns rausgehen. Ich will Sonne tanken!" Und damit drehte er sich um, ließ die anderen stehen und verschwand aus der Umkleide.

Binnen Sekunden war der gesamte Raum leer. Alle waren Trajan gefolgt. Fast alle.

Niemand hatte bemerkt, dass Ethan noch auf seiner Bank saß. Und keinem war aufgefallen, dass La'ith, der auf dem Korridor neben der geöffneten Tür stand, alles mitbekommen hatte.

Er wollte hineingehen zu dem Zurückgelassenen, stoppte aber vor der Tür. Ethan saß mit dem Rücken zu ihm, den Oberkörper vorgebeugt und die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Es war nicht zu erkennen, was er tat, also trat La'ith lautlos zwei Schritte näher und konnte sehen, wie der Guardian sein Handy aus der Tasche genommen und eingeschaltet hatte. Lange starrte Ethan einfach nur auf das Display und verharrte bewegungslos. Nach ein paar Sekunden hob er die rechte Hand und strich mit der Kuppe des Mittelfingers ganz langsam über den Bildschirm, behutsam, als würde er etwas zerbrechen, wenn er es grober berührte.

La'ith zog sich zurück, bevor Ethan ihn entdecken konnte. Er hatte genug gesehen. Und es passte zu dem, was er in der letzten Zeit beobachtet hatte.


"Also, wer ist der Stealer? Was hat es mit dem Namen auf sich?"

"Klingt wie aus einem Comic oder einem Fantasyfilm", meinte einer der jüngeren Schüler belustigt.

"Oh, er hat den Namen nach der Tat. Das erste Mal habe ich kurz nach dem Saint George's Day von ihm gehört, also vor vier, fünf Wochen. Inzwischen ranken sich die wildesten Stories um ihn. Sein Name kommt davon, dass er - wie schon gesagt - Begabten ihre Fähigkeit stehlen kann. Es ist bisher viermal vorgekommen, aber das sind nur die bekannten Fälle. Die Dunkelziffer ist wohl höher. Keiner der Betroffenen hat Anzeige erstattet. Was sollte er auch als gestohlen angeben? Und solange es von der Inneren Sicherheit nicht als kriminelle Aktivität betrachtet wird, ermittelt auch keiner", erklärte Trajan.

"Aber wenn es keine Anzeigen gibt - woher wisst ihr dann davon?"

Der Polizist zuckte mit den Schultern. "So etwas 'schweigt' sich herum. Einer erzählt es dem anderen und irgendwann erfahren auch wir es."

Koll, der schwarzhaarige, wortkarge Ire, hatte sich in den zurückliegenden Jahren nicht verändert. Der Zweiund­zwanzigjährige überlegte noch immer erst gründlich, bevor er sprach. Nach Trajans Worten runzelte er die Stirn. "Wie macht der Kerl das?", wollte er wissen.

"Vielleicht hat er selbst eine Gabe, die ihn dazu befähigt? Ich habe zwar noch nie von einer solchen gehört, aber es gibt sicher eine Menge Fähigkeiten, die wir noch nicht kennen", mutmaßte der Polizist. "Wir haben auch keine Ahnung, ob er es gezielt auf bestimmte Gaben abgesehen hat. Die bisher gestohlenen waren Giftimmunität, Wasseratmung, Elektrizität erzeugen und Schwingungen spüren. Und wie gesagt, da das Ganze bislang nicht als besorgniserregend angesehen wurde, ermittelt auch niemand deswegen."

"Soll das heißen, er kann einfach so weitermachen?!" Hennak starrte ihn so empört an, als wäre die Tatenlosigkeit der Polizei dafür verantwortlich.

Trajan grinste.

"Ganz ruhig, Hennak", meinte Koll. "Ich denke, es wird genau so kommen, wie Trajan gesagt hat. Irgendwann wird einer klagen, weil einem Familienmitglied oder Freund die Fähigkeit gestohlen wurde. Besonders wenn diese dafür genutzt wurde, Geld in die Haushaltskasse zu spülen. Und wenn die Polizei an ihre Grenzen stößt, dann bekommen wir den Auftrag."

"Oder wir bekommen ihn sofort", ergänzte Trajan, "denn es ist schwierig für die Polizei. Keiner der Bestohlenen kann beweisen, dass er je über eine Gabe verfügte. Es gibt weder Zeugen des Diebstahls noch Verdächtige und nicht einen einzigen brauchbaren Anhaltspunkt. Ich bin wirklich froh, dass ich kein Ermittler bin."

"Hast du Sadik schon davon erzählt?", wollte Yonas wissen.

"Nein. Meinst du, ich sollte es?"

"Ich denke schon. Dann kann er sich schon mal ein wenig darauf vorbereiten, falls wir doch ins Spiel kommen."

"Ich rede heute Abend mit ihm." Trajan erhob sich und dehnte die Schultern. "Erst geh ich noch eine Runde laufen vor dem Abendessen. Kommt jemand mit? Niemand? Dann los, Jais, auf geht's." Er sah den ehemaligen Teampartner auffordernd an.

Obwohl der junge Däne bereits frisch geduscht war, schnürte er widerspruchslos seine Turnschuhe fester und schloss sich Trajan an, der schon einige Meter Vorsprung hatte.

Wie immer schlug der Polizist die Richtung zum Wald ein. Es war seine Lieblingsstrecke. Sie führte über den Weg, den die Kameraden vor sechs Jahren als Fußpfad selbst geschlagen und später mit reichlich Mühe und Schweiß ausgebaut und befestigt hatten, bis hin zum See. Dort stand die Hütte, in der La'ith lebte, und gleich daneben war dessen Bruder begraben worden.

Trajan legte an Ahmads Grab immer eine kurze Pause ein. Jais respektierte das und er lief jedes Mal einfach weiter, um dem Kameraden ein paar Minuten des Alleinseins zu ermöglichen, obwohl dieser ihn nie darum gebeten hatte. Die Strecke führte um den See herum zum Haupttor am Ende der Nordauffahrt. Bis dahin hatte Trajan ihn eingeholt. Wenn das dem Älteren noch nicht reichte, liefen sie weiter an der Straße entlang, um über das Osttor wieder auf das Grundstück zu kommen. Von dort ging es zu den Wirtschaftsgebäuden, vorbei am Gartenhäuschen und den drei Gedenksteinen und wieder zum Haus. Meistens waren sie pünktlich zurück, so dass sie duschen konnten, bevor der Gong zum Abendessen rief.


Erst nach dem Abendessen war Tamira wieder dazugekommen, Informationen über Clarice im Netz zu suchen. Sie forschte akribisch, doch außer der Vermissten­anzeige war nichts zu finden.

Tiana hatte gesagt, dass zwei weitere Elternpaare die Anmeldung ihrer Kinder von der Schule zurückgezogen hatten. Einer plötzlichen Eingebung folgend wies Tamira ihren Computer an, nach allem zu suchen, was im Internet über deren Sprösslinge zu finden war. Vielleicht gab es ja da etwas Auffälliges zu entdecken oder gar einen Zusammenhang.

Sie begann mit der ältesten Meldung. Das ist wirklich interessant, dachte sie bei sich. Der zwölfjährige Junge aus Guatemala war ebenfalls als vermisst gemeldet worden, nachdem auch er vorher spurlos verschwunden war. Am fünften Mai, drei Tage später, fand man ihn. Unverletzt. Und bei Tian-Ti, dem Mädchen aus der Mongolei, lag der Fall genauso: Eine Vermisstenanzeige, aufgegeben nach ihrem Verschwinden, und auch sie wurde drei Tage nach der Entführung gefunden.

"Jetzt wird es aber echt mysteriös", murmelte Tamira und legte die Stirn in tiefe Falten. Romaru, dem Jungen aus Guatemala, und Tian-Ti war dasselbe widerfahren wie Clarice. Die Entschuldigung von deren Eltern hatte mehr als fadenscheinig geklungen und ihr Wahrheitsgehalt durfte mit diesen neuen Erkenntnissen getrost angezweifelt werden.

"Beide haben eine besondere Begabung und deshalb eine Einladung erhalten, hierher an die Schule zu kommen." Mechanisch trommelten die Finger ihrer rechten Hand auf die Maustasten. Sie konnte besser nachdenken, wenn sie ihre Gedanken laut aussprach.

"Mit wem redest du?" Die Tür war aufgegangen und Tiana kam herein. Vorsichtig stellte sie Tamira eine randvolle Tasse Tee auf den Schreibtisch.

Die antwortete nicht, denn sie studierte aufmerksam den Kalender, den sie auf ihrem Computerbildschirm vergrößert hatte.

"Schau dir das mal an, sie sind genauso verschwunden gewesen", murmelte sie.

"Wer denn?"

"Oh danke." Genießerisch sog die Ältere den Duft ihres Lieblingsgetränkes ein, bevor sie antwortete.

"Tian-Ti und Romaru", meinte sie nach dem ersten vorsichtigen Schluck.

"Wirklich? Genau wie Clarice?" Tiana prüfte die Daten und nickte verblüfft. "Und ebenfalls nach drei Tagen wieder da … Ob das was zu bedeuten hat?"

"Ich gehe mal davon aus, dass die Fälle in irgendeinem Zusammenhang stehen. Ansonsten wäre es schon ein außergewöhnlicher Zufall, oder?"

"Sieht so aus."

Tamira nickte mit gerunzelter Stirn. "Wenn ich richtig gerechnet habe, dann wäre morgen bei Clarice der dritte Tag. Kanada liegt neun Stunden zurück, also ist dort Morgen, wenn es bei uns schon früher Abend ist. Lass uns abwarten, ob sie da wieder auftaucht. Und wenn ja, dann wissen wir ganz genau, dass die Fälle zusammenhängen, denn das kann dann kein Zufall mehr sein." Sie schwieg einen Moment und überlegte. "Du hattest noch zwei Schüler erwähnt heute Mittag, erinnerst du dich?"

"Ja", bestätigte Tiana, "doch bei denen stand die Aufnahme an der Schule noch nicht fest. Da ist eine Absage nicht unbedingt ungewöhnlich."

"Gut", meinte Tamira, "dann werde ich morgen gleich nach dem Frühstück versuchen, Genaueres über die beiden rauszufinden. Lass uns hier Schluss machen und abwarten, was wir morgen Abend aus Kanada hören. Wenn Clarice gefunden wird, müssen wir mit den anderen darüber reden. Das sieht mir nach einer ernsten Sache aus."

GUARDIANS - Der Verlust

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