Читать книгу Fahrschein zum Tod - Callum M. Conan - Страница 7
Prolog
ОглавлениеSelbst in den Ausbildungscamps des MI6 war sie bei ihren zahlreichen Trainingsstunden bisher niemals so schnell gelaufen. Und nun ging es bereits um Alles oder Nichts: Bridget Henderson rannte um ihr Leben.
Sie rannte über den kleinen Parkplatz des Eilean Donan Castle und über die schmale Brücke auf den unebenen Trampelpfad, der in das angrenzende Wäldchen führte, um die Verfolger endlich abzuschütteln. Doch der Landrover-Jeep ließ sich auch von dem engen Parcours zwischen den Bäumen hindurch nicht aufhalten. Während Bridget über die schmalen Pfade hechtete, schossen ihr Bilder des gerade Erlebten durch den Kopf.
Sie war mit einigen ihrer Kollegen im Eilean Donan Castle gewesen, wo der MI6 seit einiger Zeit eine schottische Kontaktstelle eingerichtet hatte. Nachdem die Sonderkommission, zu der Bridget gehörte, in den letzten 72 Stunden den Plan eines größenwahnsinnigen neuseeländischen Unternehmers größtenteils aufgedeckt hatte, wollten sie nun MI6-Chef John Sawers in London über ihre Ergebnisse informieren. Bridget war gerade auf dem Weg von der Wohnküche, wo sie und ihre Kollegen gemütlich beisammen gesessen hatten, in ihr Arbeitszimmer um die MI6-Zentrale zu verständigen, als ein lautes Klirren sie aufhorchen ließ. Verzweifelte Schreie drangen durch die Gänge. Schüsse, vermutlich von einem Maschinengewehr, übertönten die angsterfüllten Stimmen. Dann war eine plötzliche und beunruhigende Stille eingetreten. Ihr war sofort klar gewesen, dass dies eine Gefahrensituation der Stufe drei darstellte. Während ihrer kurzen Abwesenheit waren vermutlich alle ihre Kollegen von irgendwelchen Eindringlingen erschossen oder zumindest überwältigt worden. Ihr Gewissen hätte ihr vermutlich geraten nachzusehen und ihren Kollegen, von denen einige überdies auch noch gute Freunde waren, zu helfen. Aber an der Stelle, wo andere Menschen ein Gewissen haben, hatte sich durch ihre Ausbildung beim Britischen Geheimdienst etwas entwickelt, das ihr in dieser Situation befahl, ihre Pflicht zu tun und alles andere zu vergessen.
Schnell und mit den eleganten Bewegungen einer Katze schlich sie in ihr Büro und wählte die Nummer des MI6-Headquarters. Das heißt, zumindest die Londoner Vorwahl. Weiter kam sie nicht, denn eine maskierte Gestalt war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und kam bereits mit bedrohlich schnellen Schritten auf sie zu. Entsetzt sah Bridget sich um. Wie konnte sie sich retten? Ihr Blick wanderte abschätzend durch das Büro. Da sah sie das offene Fenster hinter dem Eindringling. Riskant, aber einen Versuch war es allemal wert. Bridget nahm all ihren Mut zusammen, rannte blitzschnell auf ihn zu, nutzte das Überraschungsmoment und schwang sich geschmeidig aus dem Fenster.
Nun rannte sie also, gefolgt von dem Jeep, durch das kleine Wäldchen am Loch Ashmore. Die Situation wurde immer auswegloser. Der Wagen kam trotz der riesigen Schlaglöcher immer näher – Bridget sah jetzt flüchtig die maskierten Gestalten darin. Sie würde dieses Rennen nicht mehr lange durchhalten, so viel stand fest. Sie musste einen Ausweg finden, um jeden Preis… Plötzlich kam ihr die Idee: In ihrer linken Hosentasche ergriff sie das Handy, in dem auch die Nummer der MI6-Zentrale gespeichert war. Bridget würde zwar nur die Zentrale des MI6 erreichen, aber Sawers könnte sofort einen Trupp Polizisten aus dem Nachbarort rüberschicken lassen. Sie musste nur etwas Zeit gewinnen um wählen zu können. Doch während sie noch über einen letzten Selbstrettungsversuch nachdachte, wurden all ihre Hoffnungen zunichte gemacht: Sie stolperte über eine große Wurzel und fiel auf den feuchten Waldboden.
Jetzt ist es aus.
Der Jeep hielt neben ihr. Die Gestalten stiegen aus dem Wagen, ihre Gewehre im Anschlag. Bridget wusste nicht, was sie tun sollte. Sie schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Aufspringen und Wegrennen würde nichts nützen, nach zwei Metern wäre sie bereits von einem Kugelhagel durchlöchert. Aber es musste doch eine letzte Möglichkeit geben, dem Tod zu entkommen. Dies durfte nicht das Ende sein…
Die beiden Gestalten richteten die Gewehrläufe auf sie und entsicherten ihre Waffen. Eine unendlich lange Sekunde verstrich, danach hörte Bridget zweimal kurz hintereinander ein lautes Knallen.
Der erwartete Schmerz blieb aus. War sie schon tot? Ihr Gefühl verneinte. Sie öffnete die Augen einen Spalt breit und sah sich um. Die beiden Gestalten fielen rückwärts zu Boden, sie waren blutüberströmt.
Ohne über den Grund ihrer Rettung nachzudenken, nahm Bridget entschlossen das Handy und öffnete die Kontaktliste während sie aufstand. Hinter einem Baum vernahm sie ein Geräusch. Hastig blickte sie sich um. War es denn immer noch nicht vorbei? Da kam ein Mann auf sie zu; er musste ihr Retter sein. Langsam trat er ins Mondlicht und nun erkannte Bridget ihn:
-„Du?“, fragte sie überrascht.
Weiter kam sie nicht, denn da hatte bereits die Kugel einer Heckler und Koch USP ihre linke Herzkammer durchbohrt. Bridget fiel neben den beiden Gestalten auf den schlammigen Waldboden. Ihr Kopf allerdings berührte genau die Wahlbestätigungstaste ihres Handys. Sie war in der Kontaktliste nicht bis M wie MI6 gekommen, nur bis E wie ESS…
Währenddessen in der ESS-Zentrale in Deutschland:
Das Telefon klingelte. Es klingelte ein zweites Mal. Und ein drittes Mal. Keiner nahm ab. Dass Miss Maytree sich ausgerechnet heute ihren freien Tag genommen hatte, passte Rebecca Lavoir gar nicht. Es half allerdings nicht, sich darüber aufzuregen, denn ihre zuverlässige Sekretärin würde heute nicht mehr erscheinen. Also nahm die Chefin des European Secret Service missmutig den Hörer ab.
-„Rebecca Lavoir am Apparat, was kann ich für Sie tun?“
Am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand.
-„Hallo? Wer ist denn da?“
Dass man sich jetzt auch noch einen Scherz mit ihr erlaubte, war für Rebecca Lavoir die Höhe. Als sie gerade wutentbrannt auflegen wollte, hörte sie ein Geräusch am anderen Ende der Leitung. Es war ein kratzendes Knistern; eben genau so ein Geräusch, das man vernimmt, wenn man einen alten Weihnachtsbaum durch den Garten zum Komposthaufen schleift. Dann erklang plötzlich ein lautes Scheppern, auf das ein dumpfer Knall folgte. Dann wieder ein Knall, diesmal allerdings weniger dumpf, eher wie das Zuschlagen einer Tür. Das letzte Geräusch das Rebecca Lavoir vernahm, war ein Motorengeräusch. Danach herrschte unendliche Stille.
Für einen Scherzanruf klangen die Geräusche selbst und vor allem ihre Abfolge zu realistisch. Außerdem hatte sie in ihrem Ärger ganz vergessen gehabt, dass die Nummer der ESS-Zentrale in keinem Telefonbuch zu finden war. Nachdenklich lehnte sie sich in ihrem Bürosessel zurück und überlegte.
Rebecca Lavoir konnte es drehen und wenden, aber ihr fiel einfach nichts zu diesen mysteriösen Geräuschen ein. Allerdings wurde sie das dumme Gefühl nicht los, dass es sich bei diesem „Telefonat“ um etwas Entscheidendes gehandelt haben musste.
Also beauftragte sie das Rumpfteam der Abteilung Gamma, das „Gespräch“ einmal zu untersuchen. Vielleicht wurden sie ja schlau daraus. Die Abteilung bestand derzeit immerhin noch aus rund dreißig Mitarbeitern. Allerdings fehlte ihnen ihr genialer Cheftechniker Opal Gamma. Und so war die Produktivität dieser Abteilung doch stark eingeschränkt. Rebecca Lavoir würde ihrem Kollegen vom Ausrüstungsstab aber bestimmt nicht unter die Nase reiben, wie wichtig er für ihre Organisation war, sonst würde er ihr monatelang damit in den Ohren liegen und das wollte sie um jeden Preis vermeiden. Vorerst ging es nur darum, dass seine Mitarbeiter auch ohne ihn etwas Produktives zustande brachten. Und die Methode dazu war ihr so ziemlich egal.