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1 Colin Fox
ОглавлениеOxford ist eine allseits bekannte englische Industriestadt an der Themse, etwa neunzig Kilometer von London entfernt, deren Gründungsdatum weit ins achte Jahrhundert nach Christus zurückgeht. Seit dem Jahr 1542 trägt sie den Titel City of Oxford und beherbergt mittlerweile rund hundertfünfzigtausend Einwohner. Das wohl bekannteste Wahrzeichen der Stadt ist die University of Oxford, die in den Top Ten der führenden Universitäten der Welt vertreten ist und bereits seit 1167 besteht. Neben einigen kleineren privaten Teams sind die Ruderer der Universitätsauswahl die wohl schärfsten Konkurrenten des Cambridge-Teams. Trotz dieser offensichtlichen und seit einigen Jahrhunderten bestehenden Rivalität zwischen den beiden Hochschulen, gibt es immer mal wieder Studenten, die an beiden akademischen Institutionen studieren.
Colin Fox war einer von ihnen. Als Sohn eines deutschen Akademiker-Ehepaares hatte er schon früh sein Talent im Umgang mit so gut wie allem und jedem unter Beweis gestellt. Trotz seiner offensichtlichen Hochbegabung hatte er nie ein Problem damit gehabt in den angesagtesten Cliquen mitzumischen und beendete aufgrund der Solidarität zu seinen Freunden, wie er es nannte, erst mit siebzehn die Schule, wobei keiner seiner Lehrer je daran gezweifelt hätte, dass er sein Abitur problemlos bereits einige Jahre früher mit der Bestnote hätte abschließen können.
Mit siebzehn Jahren meldete er sich also an der Cambridge University an und schaffte bereits zwei Jahre später einen Postgradual-Abschluss in den Fächern Sprachen und Medienkulturwissenschaften. Sein darauffolgender Wechsel an die University of Oxford wurde anfänglich von einigen Schwierigkeiten im Bezug auf die Sympathie der Kommilitonen überschattet, doch nachdem er zweimal als Sieger aus spontan angezettelten Duellen hervorgegangen und ein wichtiges Mitglied des Ruderteams geworden war, galt er schnell als mehr oder weniger unantastbar.
Man konnte also meinen, nachdem Colin Fox auch in Oxford bereits nach dreieinhalb Jahren einen Postgradualabschluss in den Fächern Politik und Wirtschaft gemacht hatte (Naturwissenschaften hatten ihn nie besonders interessiert, wobei auch in diesen Bereichen sein Talent mindestens zu einem gehobenen Abschluss ausgereicht hätte), wäre sein Leben ein reines Freudenspiel. Und es stimmte auch in gewisser Weise: Dem Traum von einer Karriere in der Filmwirtschaft schien so gut wie nichts im Wege zu stehen. Doch den Enkel eines schottischen Großvaters (daher das Fox) bedrückte etwas.
Wie bereits erwähnt, war Colin Fox durchaus nicht nur auf das Ausleben seiner Fähigkeiten im akademischen Bereich fixiert. Seit jeher war er auch ein angesehenes Mitglied in den Amüsier-Bereichen des Lebens; soll heißen: Auch auf Partys war er ein gern und vor allem häufig gesehener Gast. Nicht nur sein gutes Aussehen hatte ihm außerdem bei Mädchen und Frauen einen guten Ruf eingebracht; es war vielmehr sein Charisma, sein Talent im Umgang mit Menschen. Sein galantes, vornehmes und kultiviertes Auftreten machten ihn zu einem idealen Frauenverführer.
Das Problem allerdings war recht einfach zu beschreiben, es hatte sogar einen Namen: Lavinia Lichtsteiner. Schon seit er sie das erste Mal auf dem Schulhof seines Heimatgymnasiums gesehen hatte, wusste er, dass er mit genau diesem Mädchen würde zusammenleben wollen. Kein anderes Mädchen, das er bisher kennengelernt hatte, hielt einem Vergleich mit ihr stand und er war sich sicher, auch in Zukunft würde keine Andere je eine Chance bei ihm haben. Das Problem war, dass ihm bei diesem Mädchen sein durch und durch attraktives Äußeres wie Inneres nichts half. Nicht seine maronenbraunen kurzen Haare, nicht sein freundliches Gesicht, das genau an den richtigen Stellen kantig war, nicht seine grau-blauen Augen, nicht seine Größe von einem Meter dreiundachtzig und nicht sein makelloses Auftreten; kurz gesagt: rein gar nichts.
Nun könnte einem schnell der Gedanke kommen, dass das Leben des mittlerweile Einundzwanzigjährigen, der an einem Samstagmorgen nach den Geschehnissen in Schottland in einem Hörsaal der Oxforder Universität saß und einer Lesung beiwohnte, die in Zusammenhang mit einem Ferienprojekt, für das er sich vor den Semesterferien angemeldet hatte, stattfand, in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren relativ problemlos und unspektakulär ablaufen würde. Dem war allerdings nicht so. Mit dieser Vermutung läge man sehr schief. Und eine romantische Lovestory sollte sein Leben auch nicht werden.
Colin nahm sein iPhone aus der Jacketttasche. Die Zeitanzeige teilte ihm mit, dass sein erstes Date mit Lavinia seit längerem noch eine ganze Zeit auf sich warten lassen musste. Er hoffte inständig, dass seine Nachricht, in der er ihr mitgeteilt hatte, wann sein Flieger in Düsseldorf ankommen würde und was er mit ihr heute Abend vorhatte, sie bereits erreicht hatte. Er erkannte an diesem wunderschönen Augustsamstag die Chance seines Lebens. Endlich würde er die Insel wieder einmal hinter sich lassen. Der Duft von Freiheit lag in der Luft. Auf dem Kontinent war es doch deutlich angenehmer als bei den spießigen Briten mit ihrem Royalistenquatsch. Er wusste, dass sein Großvater diese Gedanken lieber nicht hören sollte. Dieser hatte es nie verwunden, dass seine deutsche Frau ihn als stolzen Schotten dazu verpflichtet hatte, in ihre Heimatstadt Dortmund zu ziehen. Aber Colin hatte das Leben auf der Insel so langsam satt. Da bot sich der Trip in seine westfälische Heimat geradezu an.
Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, als er an den wundervollen Abend dachte, der vor ihm lag. Er hörte gerade noch, wie der Professor ihn mit der Frage: -„Was meinen Sie denn dazu, Fox?“ aus seinen Gedanken riss, als zwei Männer durch die Schwenktüren des Hörsaals traten. Beide trugen schwarze Kleidung, die aus Cordhose, langem Mantel und einem Hut mit breiter Krempe bestand. Unvermittelt gingen sie auf den Professor zu. Die drei Männer wechselten ein paar Worte miteinander und nach kurzem Zögern winkte der Professor Colin zu sich.
-„Sie sollen kurz etwas mit diesen beiden Herren klären. Es geht um ein nicht uninteressantes Angebot. Tun Sie das aber bitte vor der Tür. Ich werde meinen Vortrag derweil fortsetzen.“
Colin Fox folgte den beiden Männern nach draußen.
-„Also, meine Herren, um was für ein Angebot handelt es sich denn genau?“ Er versuchte seine aufkeimende Neugierde zu verbergen. Wenn der Professor von einem „nicht uninteressanten“ Angebot sprach, dann musste es zweifelsohne lukrativ sein. Der eine der beiden Männer schlug vor, ein paar Schritte zu gehen. Colin stimmte zu und ging voraus in Richtung Ausgang. Es dauerte nicht lange und sie waren im Universitätspark angekommen. Während Colin zwischen den Männern über die breiten Wege des Parks schlenderte, begannen die beiden mit ihrem Vortrag. Nach den üblichen einleitenden Floskeln, die zumindest einen der beiden Männer als Amerikaner auswiesen, kamen sie zur Sache:
-„Die Harvard-Universität bietet Ihnen die Möglichkeit ihre Abschlüsse ideal einzusetzen. Sie können sich mit einem Forschungsprojekt Ihrer Wahl auf eine Professur vorbereiten und dann eine entsprechend dotierte Stelle übernehmen. Geld spielt dabei keine Rolle. Die Universitätsleitung wird alle anfallenden Kosten tragen.“
Colin war skeptisch. Mal abgesehen davon, dass er nicht vorhatte ein solches Angebot anzunehmen, zumal für ihn spätestens nach diesem Ferienprojekt die Zeit der Universitätsbesuche zu Ende sein sollte, sprach die Darstellung dieses Angebots nicht gerade für die Überzeugungskraft der beiden Abgesandten. Während er sich bereits eine höfliche Absage zurechtlegte und der Amerikaner die Vorzüge der Harvard-University anpries, nahm der andere Mann plötzlich ein kleines Gerät aus der Tasche, das Colin nur aus dem Augenwinkel wahrnahm. Er bemerkte gerade noch, wie ihm das Gerät gegen den Hals gedrückt wurde und wollte etwas unternehmen, aber da war er bereits bewusstlos.
Ein leichtes Schaukeln ließ ihn eine ganze Zeit später wieder zu sich kommen. Anfangs interpretierte er die Bewegung als Nachwirkung des elektrischen Schocks. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Vorerst orientieren! Wo war er? Ein kurzer Blick nach rechts und links gab ihm die Antwort: Colin befand sich in einem Kleinbus, dessen Fahrersitz von den restlichen Passagieren durch eine Scheibe getrennt war. Außer ihm befand sich niemand in dem Fahrzeug. Colin blickte aus dem Fenster. Der Kleinbus war eingekeilt zwischen Dutzenden von anderen Vehikeln. Rechts eine Reihe und links zwei Reihen mit Autos, Bussen und Lastkraftwagen. An die äußeren Reihen angrenzend konnte Colin eine riesige Glasfläche erkennen, die den Blick auf das Wasser freigab. Erst jetzt realisierte Colin, wo er sich wirklich befand: auf einer Fähre mitten auf dem Meer. Auf dem Meer? Dafür war das Ufer auf beiden Seiten eigentlich zu gut zu erkennen. Aber eine andere Erklärung hatte er vorerst nicht. Wie war er überhaupt hierhergekommen und warum? Er erinnerte sich vage an eine Unterhaltung mit zwei Männern in schwarzer Kleidung. Was dann geschehen war, wollte ihm nicht einfallen.
Unterdessen war der Fahrer des Kleinbusses an seinen Platz zurückgekehrt. Colin klopfte an die Scheibe, doch der Mann zeigte keinerlei Reaktion. Bei einem Blick aus der Frontscheibe erkannte Colin den Fährhafen, der nun lediglich noch wenige Meter vor ihnen lag. Langsam fuhr das Schiff an den Anleger. Neben ihnen startete gerade eine weitere Fähre, allerdings deutlich älteren Datums. Keine riesige Fensterfläche. Keine Designerlampen an der Unterkante des oberen Decks. In schlichtem Weiß und Hellblau gehalten, außerdem mit etlichen Rostflecken versehen, wirkte sie reichlich heruntergekommen. Als die schwimmende Brücke direkt neben ihm war, konnte er den Namen der Fähre lesen: „Konstanz“ stand in großen Lettern auf der Außenwand des Schiffes. Aber natürlich, dass er nicht sofort darauf gekommen war! Das Gewässer, das er gerade überquert hatte, war der Bodensee. Und der Fährhafen, in dem sie soeben anlegten, war der des Konstanzer Vorortes Staad. Ein Ruck ging durch das Schiff, als sie an den Anleger andockten und die Fahrrampe in die Verankerung einrastete. Der Fahrer des Kleinbusses startete den Motor und löste die Handbremse.
Kurze Zeit später fuhren sie in einer langen Schlange von der Fähre auf das Konstanzer Festland. Dann ging es im Eiltempo in Richtung Stadtzentrum. Vorbei an den wartenden Fahrzeugen im Hafen, vorbei am Klinikum und über die alte Rheinbrücke in Richtung Laube. Noch einmal bogen sie rechts ab, um kurz darauf abermals rechts abzubiegen und dann fuhren sie geradewegs auf die Fahrradbrücke über den Rhein zu. Kurz davor, neben einem gelblichen Sandsteingebäude mit roter Backsteinverzierung hielten sie an. Der Fahrer stieg aus und öffnete die hintere Tür. Mit einer Handbewegung wies er Colin an, ihm zu folgen. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwarten würde. Sein Verstand riet ihm allerdings, den Anweisungen dieses Mannes zu gehorchen. Colin folgte dem Mann um das Haus herum, zum Haupteingang des Gebäudes. Zwischen zwei großen Handwerkerstatuen aus Stein gingen sie ein breites Treppenportal hinauf zu einer Tür, neben der ein Schild angebracht war, auf dem stand:
Handels- und Handwerkskammer Konstanz
Webersteig 3
Geöffnet an Werktagen von 8:00 Uhr bis 18:00 Uhr
Sie betraten das Gebäude und im Innern wurde Colin von einem Mann in Hausmeisterkleidung zu einer Treppe gebracht, die vermutlich in den Keller führte. Er stieg die wenigen Stufen hinab und fand sich in einem hell erleuchteten Gang wieder. Der Innenarchitekturstil passte so gar nicht zu der äußeren Fassade der Handels- und Handwerkskammer: helle Fliesen, nobel wirkende Lampen, edle Wandfarben in rot und weiß und an der Treppe moderne Geländer.
-„Die erste Tür links“, sagte der Mann in Hausmeisterkleidung, der noch immer auf der obersten Treppenstufe stand. „Sie werden bereits erwartet.“
Colin drehte sich nicht einmal um, sondern ging geradewegs auf die erste Tür links zu. Wer oder was mochte ihm darin entgegenblicken? Immerhin wurde er selbst bereits erwartet – von wem auch immer. Als er nur noch einen halben Meter von der Tür entfernt war, öffnete sie sich automatisch. Auch dieses Einrichtungselement passte nicht zu dem äußeren Stil des Gebäudes. Eine Metallschiebetür mit Bewegungssensor – Hightech statt Handwerkskunst. Als die Tür zur Seite geglitten war, trat Colin in den Raum dahinter. Er wusste nicht, womit er gerechnet hatte, aber so einen hochmodernen Konferenzraum hatte er definitiv nicht erwartet. Ein vierzig mal zehn Meter großer Raum mit einem ovalen Tisch in der Mitte, an dem zwanzig bequeme Bürosessel standen; vor jedem Platz ein Touchscreen, in der grauen Ledertischplatte eingelassen. Im Zentrum des Tisches war ein zusätzlich eingebautes und in diesem Fall vermutlich auch ausfahrbares Modul zu erkennen. Außerdem weitere Bildschirme an den Wänden, eine große Weltkarte, mehrere Videoprojektoren und eine ausfahrbare Leinwand. Des Weiteren noch ein Fax-Gerät, mehrere Telefone und ein Kaffeeautomat. Colins Blick wanderte zum Ende des Raums, wo gerade eine Verbindungstür geöffnet wurde. Eine Frau in den Fünfzigern trat in den Raum und kam auf ihn zu. Colin fiel sofort die Anstecknadel am Jackenrevers des Hosenanzugs der Frau auf, in die ein Opal eingearbeitet war.
-„Willkommen“, begrüßte sie ihn. „Freut mich, dass ich Sie jetzt hier bei uns begrüßen darf.“ Die Stimme der Frau klang freundlich. Colin wusste allerdings nicht, was er sagen sollte, denn der Grund und die Umstände dieser Zusammenkunft waren ihm noch vollkommen unklar. Eine einfache Entführung war dies jedoch in keinem Fall.
-„Ich merke schon, dass ich Ihnen eine Erklärung schulde. Aber dazu sollten wir uns setzen. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Diese Elektroschocker können ja doch eine gewisse Nachwirkung mit sich bringen, was die Konzentrationsfähigkeit angeht. Ein Muntermacher ist da sicher nicht schlecht.“ Colin bejahte die Frage und setzte sich in einen der Bürosessel. Auf dem Touchscreen vor ihm bewegte sich ein Bildschirmschoner in Form des UNO-Wappens. Als die Frau den Kaffee auf den Tisch gestellt und sich ebenfalls gesetzt hatte, begann sie aufs Neue:
-„Ich muss mich vor allem erst einmal für diese etwas rustikale ‚Einladung‘ entschuldigen. Wir wussten ja nicht, ob Sie einer formellen Einladung gefolgt wären.“
-„Eine Entführung ist ja nicht weniger formell“, bemerkte Colin. Die Frau lächelte amüsiert.
-„Jetzt sollte ich mich vielleicht doch einmal vorstellen. Und dann sollen Sie natürlich wissen, warum diese Zusammenkunft hier überhaupt stattfindet. Also vorerst zu mir: Mein Name ist Rebecca Lavoir und meine Aufgabe als Vorsitzende des European Secret Service, kurz ESS, ist die Koordinierung dieses Geheimdienstes.“ Sie tippte etwas auf ihrem Touchscreen, daraufhin fuhr die Leinwand an der einen Seite des Raumes herunter und einer der Videoprojektoren warf ein scharfes Bild der Internetseite der Vereinten Nationen auf das Leinen. „Ich schätze, Sie haben bislang nichts vom ESS gehört. Das macht aber nichts, uns gibt es erst seit 2008. Ich will Ihnen jetzt auch gar nicht die ganze Entstehungsgeschichte unserer Organisation erzählen, aber nur um Sie von der realen Existenz des European Secret Service zu überzeugen, hier einmal die Internetseite der UNO. Wenn Sie auf den Button Sicherheitsrat klicken und dann nach den eingesetzten Geheimdiensten sehen, dann steht hier alles über uns, was man als normaler Besucher dieses Web-Portals wissen darf.“ Sie scrollte zu einem Bild, unter dem ein kurzer Informationstext stand. Ohne Zweifel, das war eine Beschreibung des ESS. Die Frau sagte also die Wahrheit. „Die Vereinten Nationen haben 2002 einen Weltgeheimdienst in Auftrag gegeben: die WSIO – World Security Intelligence Organisation. Seitdem sind kontinentale Ableger dieser Organisation eingerichtet worden – so auch der ESS für Europa. Unser großer Vorteil gegenüber anderen Geheimdiensten wie der CIA oder dem MI6 besteht vor allem in unserer Unabhängigkeit. Keine Regierung schreibt uns unser Programm vor. Für die Gewährleistung der Weltsicherheit ist das ein erheblicher Faktor. Um jetzt einmal auf Ihre spezielle Einladung zu kommen: Eigentlich ist das alles recht einfach. Bei uns läuft seit unserer Gründung ein Headhunter-Programm, mit dem wir versuchen die geeignetsten Personen für eine Agentenanstellung bei uns ausfindig zu machen. Na ja, und da Sie allein durch Ihr Durchsetzungsvermögen an zwei Universitäten in England und Ihre überragenden Qualitäten, die Ihre Abschlüsse beweisen, grundsätzlich in unser Profil passen, wurden Sie letztendlich ausgewählt, um von uns diese Einladung und ein Angebot zu erhalten.“
Rebecca Lavoir lächelte ihn freundlich an. Interessant war die ganze Geschichte natürlich schon. Ein Geheimdienst, von dem er noch nie etwas gehört hatte, der als oberstes Gremium die Vereinten Nationen hinter sich wusste, würde in der heutigen Zeit eine echte Bereicherung für die Weltsicherheit bedeuten. Allerdings leuchtete ihm die Begründung, warum ausgerechnet er in dieses Metier einsteigen sollte, noch nicht ganz ein, wenn sie ihm auch schmeichelte. Grundsätzlich freut sich wahrscheinlich jeder Mann über ein solches Angebot. Es ist ja kein Zufall, dass die wenigstens Schauspieler nein sagen, wenn sie die Rolle eines Ethan Hunt, Jason Bourne oder James Bond angeboten bekommen.
-„Um zum Punkt zu kommen: Wir bieten Ihnen an, ein dreiwöchiges Training bei uns zu absolvieren. Sie haben danach die Möglichkeit auszusteigen und wir haben auf der anderen Seite ebenfalls die Möglichkeit, wenn wir Sie nicht für gut genug befinden. Zusätzlich zu dieser Anstellung, die Ihnen in dieser Zeit selbstverständlich wie eine volle Stelle vergütet wird, halten wir für Sie eine Wohnung in der Nähe unseres Hauptquartiers bereit, in dem wir uns gerade befinden. Bei einer Festanstellung nach Ablauf der drei Wochen können Sie die Wohnung übernehmen, wobei Sie ab diesem Zeitpunkt die Kosten dafür selbst tragen müssten. Das Jahressalär von rund fünfundsiebzigtausend Euro sollte dies allerdings möglich machen.“
Colin überlegte eine Weile. Nachdenklich blickte er immer wieder auf das projizierte Bild des UNO-Internetportals. Er wusste, dass er sich nun schnellstens entscheiden musste, ob er all seine Pläne der letzten Jahre einfach so begraben wollte. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass er nach den drei Wochen mit Erinnerungen an ein spannendes Training und frohen Mutes in seine Welt zurückkehren konnte. Aber was, wenn während des Trainings etwas passierte, dass er niemals vergessen würde? Oder wenn er das Angebot am Ende annähme? Bis auf das Summen der Computer war nichts zu hören. Colin schloss die Augen um sich zu konzentrieren. Die Lust, sich einfach auf diesen Job einzulassen, war riesengroß. Doch war es auch risikolos? Die Antwort kannte er bereits.
Als er seine Augen wieder öffnete, hatte er sich entschieden. Er würde das Angebot annehmen. Schiefgehen würde es schon nicht, er würde aus der Sache mit heiler Haut herauskommen – das war er bis jetzt immer, warum also nicht auch dieses Mal? Die drei Wochen konnten ihm ungeahnte Perspektiven verschaffen. Also erwiderte er:
-„Also gut, überredet. Sie können auf mich zählen. Ich hätte allerdings gerne noch ein paar genauere Informationen über meinen neuen Job. Das können Sie ja möglicherweise in den nächsten Tagen nachholen. Wann soll ich denn anfangen und womit überhaupt? Ich hoffe doch, dass es sich nicht um Briefkastenwühlen und Telefonabhören handelt.“
-„Nein, darum nun wirklich nicht.“ Rebecca Lavoir lachte. „Wir sind nicht nur ein Nachrichtendienst im herkömmlichen Sinne, verdeckte Operationen gehören zum Tagesgeschäft. Der ESS ist also durchaus auch Exekutive der Auftraggeber, in diesem Fall der Vereinten Nationen. Aber wir wollen nicht in Bürokratie verfallen. Für Sie gilt in den nächsten drei Wochen eigentlich nur, Ihren Ehrgeiz und Ihr Können unter Beweis zu stellen. Morgen werde ich Ihnen dann alles Weitere über die nächsten Tage vorlegen können. Sie müssen nur noch hier unterschreiben – damit verpflichten Sie sich, die drei Wochen inklusive Anschlussvertrag, wenn Sie keine andere Vereinbarung über einen Ausstieg mit uns treffen, zu absolvieren und die Geheimhaltung der Geheiminformationen von denen Sie erfahren, zu gewährleisten.“ Colin kritzelte seine Unterschrift unter die Verträge und legte den Füllfederhalter zurück in das kleine Kästchen, aus dem er ihn entnommen hatte. „So, das war’s schon“, fuhr Rebecca Lavoir fort. „Sie haben jetzt bis morgen Zeit alles zu verarbeiten und sich auf die nächsten drei Wochen vorzubereiten. Wie Sie sicherlich bemerkt haben, befindet sich unser Hauptquartier derzeit im Gebäude der Konstanzer Handels- und Handwerkskammer. Die zentrale Lage in Europa und die Nähe zur Schweiz, machen diese Stadt zur idealen Steuerungszentrale für unser Agentennetz. Das Dossier über Sie verriet uns, dass Sie sich in Konstanz auskennen. Es dürfte also kein Problem für Sie sein, Ihre Wohnung zu finden. Rausgehen wie Sie gekommen sind, dann über die alte Rheinbrücke und in den Grüngang einbiegen, direkt neben dem Casino ist das Haus Nummer elf. Sie bewohnen die Wohnung Nummer sieben mit Seeblick und Balkon im zweiten Obergeschoss. Wir haben uns erlaubt, Ihr Gepäck schon mal aus Ihrer Studentenwohnung in Oxford zu holen.“
Colin war froh, dass jetzt erst mal Ruhe einkehren würde, nachdem ihn die letzten Stunden doch reichlich beansprucht hatten. Nach den Strapazen der Fahrt und vor allem der Bewusstlosigkeit schrie sein Körper nun nach einer Ruhepause. Und es sollte nicht das letzte Mal bleiben in den nächsten Wochen.
Der European Secret Service schien auf seine Ankunft bestens vorbereitet gewesen zu sein und es verwunderte ihn auch nicht, dass sein Gepäck bereits hier war. Nur: Was hätten sie gemacht, wenn er nicht zugestimmt hätte? Alles sah wie ein harmloses Angebot aus, aber möglicherweise hatte er gar keine Wahl gehabt. Er schob diesen Gedanken beiseite, da er nur unzählige andere Fragen aufwarf. Er war zufrieden mit dem, was ihn demnächst als Trainings-Agent so alles erwarten würde.
-„Morgen um acht Uhr erwarte ich Sie dann wieder hier.“ Die Stimme seiner neuen Vorgesetzten klang überaus freundlich. „Leben Sie sich jetzt erst mal gut ein und genießen Sie das wunderbare Wetter am See.“
-„Wie spät ist es denn jetzt?“
Der Mann, der ihn hergefahren hatte, stand plötzlich in der Tür und sah nun auf seine Uhr. Es musste eine Omega sein.
-„Halb neun“, antwortete der Mann kurz. Es war das Erste, das er sagte, seit Colin ‚Bekanntschaft‘ mit ihm gemacht hatte.
Während Colin aus der geöffneten Schiebetür trat, begann der Mann bereits angeregt mit seiner Chefin zu sprechen. Colin drehte sich noch einmal kurz um und nickte Rebecca Lavoir zu. Sie lächelte und wandte sich wieder dem Fahrer zu.
Colin folgte Rebecca Lavoirs Wegbeschreibung und war blitzschnell vor dem Haus Nummer elf im Grüngang. Er betrat den Hausflur durch die geöffnete Tür, neben der ein Schild darauf hinwies, dass das Haus erst vor einer Woche fertiggestellt worden war und man doch bitte alle Anschlüsse kontrollieren solle und entschied sich, die Treppe anstelle des Aufzuges zu nehmen. Wenig später stand Colin in der Diele seiner Wohnung, sein Gepäck, wie von Rebecca Lavoir bereits angedeutet, zu seiner Rechten. Colin sank erschöpft in einen Sessel und warf seine Schuhe von sich. Er atmete tief durch und schloss die Augen. Eine wunderbare Aussicht war das. Drei Wochen bezahlter Urlaub. Das würde er genießen. Durch das halb geöffnete Fenster drang Musik ins Zimmer. Im Casino schien irgendetwas los zu sein. Colin entschied sich, seinen neuen „Nachbarn“ gleich noch einen Besuch abzustatten und vielleicht sogar an der einen oder anderen Pokerrunde teilzunehmen. Aber vorher würde er noch jemanden anrufen, den er bislang fast ganz vergessen hatte.