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Prolog:
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WENN DIE WELTORDNUNG AUS DEN FUGEN GERÄT, KOLLABIEREN DIE ALTEN ELITEN
Es war die beste bisher denkbarste Zeit und es war die denkbar schlechteste Zeit – eine Ära höchster Erkenntnis und größter Verdummung, eine Epoche des Anfangs und Endes, des dicksten Luxus und Überflusses, des tiefsten Elends und unglaublichsten Fortschritts, der ausgesucht klügsten Köpfe und größten Spiegelfechter. Kurzum, die Zeit, in der der Verstand sich laufend halbierte, war der gegenwärtigen ziemlich gleich. Wir halten im Jahr des Herrn 1873. –
Europa, das seinen Kolonialbestand in Übersee ständig zu vergrößern verlangte, lag mit sich selbst in immerwährenden, eifersüchtigen Streit. Während die Mächtigen in den Ländern des Kontinents versicherten, dass alles zum Besten gediehe, drang aus den Tiefen der geknebelten Massen nur ein dumpfes Murren hervor. Der wackere englische Marineleutnant Verney Lovett Cameron unternahm erstmals den Versuch, Afrika auf seinem 3000-Meilen-Marsch von Osten nach Westen zu durchqueren. Seinen Namen neben so berühmte Vorgänger wie Livingstone, Speke, Mungo Park und Heinrich Barth setzend, schickte er sich soeben in höllischer Hitze an, über Sansibar in den unerforschten Schwarzen Kontinent vorzudringen, wo jenseits des Landes der menschenfressenden Stämme die geheimnisvolle Terra incognita anfing.
Im nebeligen London heizte Fanny Janauschek, eine aus Prag gebürtige, überaus knusprige, korsettgeschnürte Demoiselle, die auf Cameron wohl ein kokettes Auge geworfen hätte, inzwischen dem ewig fröstelnden Theaterpublikum ein. Als erste fremdländische Mimin, die erfolgreich die Vereinigten Staaten bereist hatte, war sie, sich virtuos die fremde Sprache aneignend, raketenartig zur am meisten gefeierten englischen Schauspielerin ihrer Zeit aufgestiegen. Darüber hinaus galt sie als mindestens ebenso scharfgeladen, wie die neueste englische 81-Tonnen-Kanone; das schwerste Geschütz der Welt, übertraf die Geschoßwirkung dieser Wunderwaffe alleine die Kruppsche 35,5 Centimer-Kanone. Im sonnigen Mittelitalien hatte das nunmehrige Königreich sich die Ländereien des ehemaligen Kirchenstaates einverleibt. Der Papst, dem nur noch der Besitz des Vatikans, des Laterans sowie seiner Villa Castelgandolfo verblieb, erhielt als Äquivalent dafür die jährliche Dotation von über drei Millionen Lire – das Einkommen tausender italienischer Handarbeiter. Sozusagen zum bescheidenen Trost, bescheinigte das Vatikanische Konzil dem Statthalter Christi gleichzeitig seine Infallibilität (Unfehlbarkeit) in sämtlichen Glaubensfragen. Die dahinsiechende Stahlproduktion Frankreichs, das in wütenden Revanchegelüsten über seine blamable Niederlage bei Sedan, dem Fall von Paris, dem Verlust Elsaß-Lothringens sowie über die deutsche Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles schwelgte, zog nach dem frustrierenden Kriegsverlauf, wieder zufriedenstellend an. In Österreich-Ungarn, respektive der viel besungenen Donaumetropole Wien, ging die Regentschaft Kaiser Franz Josephs I. bereits ins fünfundzwanzigste Jahr. Neben seiner außergewöhnlichen, von grauen Fäden durchzogenen Barttracht und einer Stirnglatze, besaß der Monarch den ratenden Blick eines Menschen, der Worte vernimmt, ohne sie verstehen zu können und sprach mitunter so leise, wie es Leute, die mit innerer Spannung eine Katastrophe erwarten, dies meistens zu tun pflegen.
Gleichsam hors concours (außer Wettbewerb) wanderten, mit nichts als ihrem Unglück beladen, einige zehntausend, bettelarme, scheel angesehene orthodoxe Juden, den Ostrand des Reiches verlassend - Sinnbild eines riesigen, sich schier unendlich ausbreitenden Elends -, in die Haupt- und Residenzstadt ein.
Karl Lueger, nachmals christlich-sozialer Groß-Bürgermeister von Wien, dümpelte zwar vorläufig noch im historischen Dunkel umher, doch ein klerikal-konservatives, einem Grafen gehörendes Presseorgan behauptete nichtsdestoweniger, als dass die unerwünschten Kaftan-Träger den Wüstensand zwischen ihren Zehen aufwirbelten, der die Stadt zu überschwemmen begänne.
Während die große Not, die Menschen und Ratten gleich hungrig zurücklässt, immer unverschämter um sich griff, ohne noch ihren Höhepunkt zu erreichen, betrug die Wahlberechtigung im Lande satte sechs Prozent der Bevölkerung, während die Mindeststeuerleistung, erst mit diesjähriger Verordnung herabgesetzt, bei 10 Gulden lag. Durch die Ausbeutung seiner böhmischen Sklaven ein ungeheures Vermögen zusammenscharrend, war aus dem Ziegelbrenner Heinrich Drasche ein Edler von Wartinberg geworden; sich eine Barttracht in kaiserlicher Manier erlaubend, wurde der behäbige Bierbrauer Markhof zum Ritter von Mautner, wogegen der Geldschrankfabrikant Wertheim gar zum feinen Baron avancierte. Zwei gewiefte Journalisten, hatten Michael Etienne und Max Friedländer die >Neue Freie Presse< gegründet und residierten seither in einem Palast ähnlichen Ringstraßengebäude. Mittels seiner Einrichtungen und modernsten Maschinen sämtliche Konkurrenten an pekuniären Erfolgen weit übertrumpfend, war das Blatt im Eilzugtempo zum absoluten Bannerträger der verfassungstreuen, deutsch-österreichischen Bevölkerung geworden. Gleichzeitig mit dem Kaiserjubiläum hatte in Wien, wo der Himmel bekanntlich immer voller Geigen hängt, mit großem Pomp die Weltausstellung begonnen. Dem emsigen Architekten Hasenauer war es solcherart vorbehalten gewesen, nach Entwürfen, die das Gremium einem Engländer abgekauft hatte, eine 80 Meter hohe, riesenhafte Kuppel, 105 Meter im Durchmesser, die so genannte Rotunde, zu konstruieren. Verbündeten wie gegnerischen Mächten sollte vor ungläubigem Staunen das Maul offenstehen, welche enormen, exorbitanten technischen Fortschritte der totgesagte alte Habsburgerstaat dennoch zu leisten imstande war.
Dergestalt eröffnete der Kaiser am 1. Mai in eigener Person die gigantische Weltausstellung im Wiener Prater. Unter den Anwesenden waren nicht nur sein alter Intimfeind Bismarck, sondern auch sämtliche europäische Potentaten, aber auch eine Reihe exotischer Adabeis wie der Juwelen funkelnde Schah von Persien, ein des Schreibens und Lesens unkundiger, ehemaliger Ziegenhirt, hochrangige Osmanen, Japanesen, Negerkönige mit Nasenringen, gepiercten Lippen, Löwenfellen und Speerträgern, aber auch der - sinnigerweise als ungarischer General - kostümierte Zar Alexander II. von Russland. Sie alle waren einträchtig nach Wien gereist, um hier dem erst 43-jährigen Herrscher von Gottes Gnaden, der schon als 18-jähriger Jüngling den Habsburgerthron erklettert hatte, ihre unentbehrlichen Glückwünsche aufzusagen. Das großangelegte Unterfangen der Weltausstellung, welches das nahezu atemlose industrielle wie kulturelle Tempo der zeitgenössischen Entwicklung in den Mittelpunkt seiner zukunftsträchtigen Botschaft stellte und zugleich der Versuchung erlag, mittels seines weit gespannten technisch-geistigen Überbaues das Kaiserjubiläum gewissermaßen gebührend zu krönen, erwies sich jedoch allzu rasch bloß als hohler Gipfelpunkt des aufgeputschten Gründerzeitrausches. Während die Hofburg und die modernisierte Stadt, in der überdies eine Choleraepidemie ausbrach, weiterhin Schauplätze glanzvoller Festivitäten waren, wie man solche seit dem vielzitierten Wiener Kongress nicht mehr erlebt hatte, kam es nur ganze 8 Tage später zum gewaltigen Börsenkrach, der das ganze Ausmaß an falscher Prosperität brutal entlarvte. Allein seit 1870 waren in Wien 33 Bankhäuser gegründet worden, 1872 gleich 530 fressgierige, Messer und Gabel bewehrte, neue Aktiengesellschaften dem urbanen Boden entstiegen. Ihre eleganten Kontore überschwemmten die Börse mit drei Milliarden Gulden Papierwert, hinter denen in Wahrheit nicht einmal eine Milliarde an Gründungskapital stand. Noch in den letzten Tagen vor dem großen Crash wechselten Wertpapiere in der unverschämten Höhe von 20 Millionen Gulden ihre Besitzer, kauften hasardierende Spekulanten und Glücksritter mit ihrem letzten Geld die heiß begehrten Coupons - wer nimmer liquid war, kaufte auf Kredit. Die Kurse zogen somit weiterhin an und eine Unzahl an Spekulanten warteten fiebernd ab, um ihre Aktien zu noch höheren Preisen absetzen zu können.
Die Regierungspartei, hieß es indessen hämisch, betreibe im Parlament Börsengeschäfte und mache an der Börse Politik.
Aber die euphemistischen Pressemeldungen, die zunächst noch einem so genannten "Reinigungsprozess, den die Börse seit Wochen durchmachen müsse" das Wort geredet und die Tatsachen schöngefärbt hatten, trogen. Innerhalb einer einzigen Stunde des 9. Mai stürzte die Credit-Aktie zu wohlfeilen 25 Gulden plötzlich ins Bodenlose - 5000 Gulden in österreichischen Staatspapieren brachten kaum mehr den Gegenwert von 500 Gulden. Acht Großbanken sagten darauf Konkurs an, 40 weitere Banken wurden liquidiert, sechs Versicherungen sowie ganze 52 (!) Industrieunternehmungen gingen kopfüber bankrott, der gesamte Geld- und Kreditapparat schlitterte in den Abgrund. Zu wertloser Makulatur geworden, brach der heißgelaufene Aktienmarkt zusammen wie ein Kartenhaus.
Tausende Pleite gegangene Firmen, unzählige Einzelinsolvenzen, eine schier unübersehbare Masse augenblicklich ruinierter, bürgerlicher Existenzen waren die Folge. Aber auch namhafteste Kreise waren der hitzig überschwappenden Spekulationswelle letzthin auf den Leim gekrochen - selbst der Kaiser besaß Aktien der Ferdinand-Nordbahn sowie der Mährisch-Schlesischen-Nordbahn, aus denen er Dividenden bezogen hatte. Eine Welle von Selbstmorden griff seuchenartig um sich - wer keine Schusswaffe erübrigen konnte, schluckte Gift, hing sich einfach am Halse auf, stürzte sich aus dem Fenster, oder fügte sich sonst wie den Ehrentod zu. Endlose Leichenzüge wankten, fromme Litaneien absingend, den Friedhöfen zu, Armenbegräbnisse hatten Hochsaison.
Selbst der im Dänischen Feldzug erfolgreich gewesene Militärkommandeur General von Gablenz, schied freiwillig aus dem Leben.