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5. Kapitel
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Nachdem es Bismarck zwecks Konsolidierung seiner ureigenen Interessen gelungen war, das vom Schock seiner militärischen Niederlagen in Königgrätz kaum noch wiedererholte Österreich von jedem Gedanken einer etwaigen Revanche sowie einer höchst unerwünschten Allianz mit Frankreich abzuhalten, hatte er in Fürst Gortschakow sowie in Graf Andrássy inzwischen maßgebliche Männer dafür gefunden, die drei mächtigsten Kaiserreiche Europas einander anzunähern und zu einem monarchisch-konservativen Dreibund zusammenzuführen, an dem, wie für Bismarck gleichzeitig feststand, auch die ihm höchst widerwärtige, "trübe Flut der Sozialdemokratie ohnmächtig zerschellen" sollte.
Diese Annäherung, die nach einem in Berlin erfolgten Zusammentreffen der drei Staatsoberhäupter als >Dreikaiserpakt< zur politischen Realität geworden war, um angeblich den europäischen Frieden zu stützen, de facto aber einer Einkreisungspolitik der maroden Türkei gleichkam, bot dem Zaren zugleich die Chance, seine auf dem Balkan gehegten Absichten nunmehr mit Unterstützung des verbündeten Österreich-Ungarn durchzuführen, sobald St. Peterburg nur die dortigen Interessen einer solchen Allianz mit einkalkulierte.
Andrássy, der schon kurz nach seinem Amtsantritt postuliert hatte, dass die Welt über seine russenfreundliche Politik noch staunen würde, hatte dagegen keinerlei Bedenken gezeigt, Österreich-Ungarn in einen Bund hineinzuführen, dem neben Russland auch Deutschland angehörte, umso mehr ein überaus enges Zusammengehen mit dem Deutschen Reich den eigentlichen Kern seines politischen Systems bilden sollte.
Die Waffe gegen die Pforte war somit geschmiedet, die Stoßrichtung allen Beteiligten sonnenklar.
Der Zar, der sich bemühte, seine Macht nach dem ungünstigen Ausgang des Krimkrieges wiederherzustellen, in dem England, Frankreich und Sardinien die Türkei unterstützt und Russland jeden Anspruch genommen hatten, weiterhin Seekriegsfestungen und eine Kriegsflotte im Schwarzmeergebiet zu unterhalten, durfte mithin zufrieden sein.
St. Petersburg aktivierte daraufhin augenblicklich seine Außenpolitik im Nahen Osten – damit entsprach die zaristische Regierung den natürlichen Wirtschaftsinteressen ihrer Großgrundbesitzer, die vor allem vom Export des Brotgetreides auf dem kürzesten Seeweg durch Bosporus und Dardanellen abhängig waren, da rund 75 Prozent aller zu exportierenden russischen Waren in dieser Zeit aus landwirtschaftlichen Produkten bestanden, die, größtenteils aus der Ukraine und den südlichen Wolgagebieten kommend, den Schwarzmeerhäfen am nächsten lagen.
Mittels großer Gesten, die beweisen sollten, wie fern man sich einem Krieg fühlte, reichten die tonangebenden Großmächte des europäischen Kontinents sich nunmehr zum brüderlichen Bunde die Hände.
Der Zar, der davon ausgehen konnte, dass ein Sieg über die Türken sowie eine Befreiung der Slawen die Position des Hauses Romanow festigen und zugleich sämtliche revolutionären Tendenzen im Landesinnern beseitigen würde, hatte sich in Wilhelm I. und Franz Joseph I. somit zwei wertvolle Verbündete zur Unterstützung seiner Pläne geschaffen. Tatsächlich löste der sogenannte Dreikaiserbund sich jedoch bereits 1878 schon wieder auf, um 1881/86 aber nochmals kurzfristig aufzuleben.
Während Europa sich somit in scheinbarer Friedenssicherheit wähnte, wuchsen die ohnedies verworrenen Zustände auf dem Balkan sich dagegen zunehmend bedrohlicher aus.
Schon 1873 hatte die christliche Bevölkerung Bosniens-Herzegowina eine (auf Umwegen von Andrássys Agenten veranlasste) Denkschrift an den Kaiser in Wien gerichtet, worin dem Monarchen ihre überaus bedrängte Lage unter der türkischen Gewaltherrschaft drastisch vorgetragen wurde. Seine Rolle als Außenminister einer christlichen Schutzmacht bekräftigend, sandte Graf Andrássy daraufhin eine scharfe Protestnote an die Pforte, in der er die Notwendigkeit eines gerechteren Vorgehens gegenüber den Christen betonte und ein rasches Ende sämtlicher Missbräuche forderte. Obzwar eine lautstarke nationale Presse seinem Begehren beipflichtete, um die Türkei verbal an den Ohren zu ziehen, war Andrássys Aufruf, wie für alle Beteiligten schon vorhersehbar, jedoch ohne jedes Ergebnis geblieben.
Von allen Reisen, die Kaiser Franz Joseph I. in dieser Zeit unternahm, war sein von einer Reihe ausgewählter Journalisten begleiteter Besuch in Dalmatien daher seine wohl wichtigste diplomatische Mission. Am 1. April 1875 fuhr der Regent zunächst nach Triest, wo er die neu gebauten, groß angelegten Hafenanlagen besichtigte und feierlich ein Denkmal für seinen in Mexiko ermordeten Bruder, Erzherzog Maximilian (eigentlich Ferdinand Max), enthüllte.
Über die alte Insonzostadt Görz, die zu Kaisers Ehren einen großen Fackelzug veranstaltete, ging die Fahrt zum italienischen König Victor Emanuel nach Venedig weiter.
Salutschüsse, deren Klang Papp seinen Lesern ausführlich in lautmalerischer Sprache beschrieb, begrüßten den kaiserlichen Sonderzug, als der Habsburger seinem Salonwagen entstieg, um dem kleinen italienischen König die Hand zu reichen, wobei beide Monarchen einander demonstrativ umarmten und küssten.
Auf der Bahnhofsterrasse erwartete eine jubelnde Menge die gekrönten Häupter, die, von ihrem Gefolge begleitet, eine bereitstehende, mit himmelblauem, golddurchwirktem Stoff geschmückte Gondel bestiegen. Ein langer Zug schwarzer Kähne setzte sich nun dahinter in Bewegung; aus allen Palästen des Canale Grande, von der Rialtobrücke sowie von den Uferstellen, winkte ein tausendköpfiges Publikum herüber. Die italienische Kronprinzessin Margerita empfing den hohen Gast aus Wien schließlich auf der Freitreppe des königlichen Palastes, in dem zu seinen Ehren eine große Festtafel stattfand.
Schon am 7. April wieder nach Pola eingeschifft, traf die kaiserliche Jacht, der Papp mit großer Kollegenschaft gefolgt war, abends dort ein. Franz Joseph, dem die Stadt durch ihren Ausbau zum Kriegshafen ihren wirtschaftlichen Aufschwung verdankte, besichtigte die verschiedenen Marineanlagen und ließ rasche Flottenmanöver vornehmen, die, wie er erklärte, zu seiner vollen Zufriedenheit ausfielen.
Schon drei Tage später trat er die Weiterfahrt an, um einen ganzen Monat über sein eigentliches Ziel Dalmatien zu bereisen, wobei der Kaiser das gesamte Bergland bis zu den entlegenen Stützpunkten sowie sämtliche bedeutenderen Inseln aufsuchte - eine Expedition, die vor allem für den verwöhnten Presseklüngel fast unerträgliche Strapazen bedeuten sollte. Von Massen an Wanzen, Flöhen, Motten, Ameisen, Fliegen, Kopfläusen und Kakerlaken gepiesackt, ohne über genügend Insektenpulver zu verfügen, sahen die Fremden sich in dem unzivilisierten Land außerdem ganzen Armeen von Trick-, Taschen- und sonstigen Dieben ausgesetzt, die ihnen alles, was nicht niet- und nagelfest war, faktisch unter den Augen wegstahlen. Aber das war an Unbill noch nicht genug - aggressive Bettlerhorden belagerten das Gefolge, zum Stehlen abgerichtete Kinder griffen den Reisenden bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit in die Taschen. Söhne prostituierten für ein paar Münzen die Mütter, Mütter ihre Töchter, Väter boten schmutzige Kleinkinder zum Verkauf an, zahnlose Greisinnen ihre ausgemergelten Körper. Auf sämtlichen Wegen lauerten, neben dem landesüblichen Raubgesindel, außerdem entsetzliche Seuchen und fiebrige Sümpfe. Die halbverfallenen, an lehmigen Straßen gelegenen Dörfer starrten ebenso vor Schmutz, wie die meist gleich mitten unter ihren Hühnern, Hasen und Ziegen hausende Bevölkerung; der Mangel an Waschgelegenheiten, halbwegs sauberen Betten sowie das ungewohnt heiße Klima machte die Pressemeute beinahe verrückt. Nicht nur Ari Papp verfluchte heimlich die Fahrt.
Dessen ungeachtet, galt des Kaisers Reise zunächst der Landeshauptstadt Zara, von wo aus er Ausflüge zu den nächstgelegenen Küstenorten und Inseln unternahm, Sebenico, Scardona sowie die Krka-Fälle besichtigte und die Schifffahrt schließlich nach Spalato fortsetzte. Von dort aus trat Franz Joseph mit seinem Hofstaat die Fahrt ins Landesinnere an. Am 29. April in Ragusa ankommend, begab der Kaiser sich nach Cattaro, um zu Pferd die einzelnen Grenzforts zu visitieren. Am 13. Mai erreichte der Monarch, der auf der Rückfahrt noch einige der größeren Inseln anlaufen ließ und die ihn begleitende Schar, deren Hinterteile die Maultiere größtenteils wund geritten hatten, endlich das kultivierte Fiume.
Die Reise, der sich Franz Joseph I. unterzogen hatte, um hunderte von Ansprachen zu halten, tausende Audienzen zu gewähren, Truppenteile zu mustern, seine üblichen Staatsgeschäfte gewissermaßen wie nebenbei zu erledigen und gleichzeitig überall Freundlichkeit und äußerste Leutseligkeit zu beweisen, war für alle Beteiligten daher außerordentlich mühevoll und anstrengend gewesen.
Während das rückständige Dalmatien kaum noch irgendwelche moderne Bequemlichkeiten aufwies, hatte der Monarch das Land jedoch keineswegs seiner eigentümlich reizvollen Landschaft oder gar der vielen Naturschönheiten des wilden Berglandes und seiner malerischen Küstengebiete wegen besucht, sondern sich dort vielmehr bewusst die unerschütterliche Gloriole des abendländischen Potentaten verliehen, der in einem stürmischen Triumphzug alles durcheilte, wobei die eigentlich treibende Kraft des ganzen politischen Unterfangens Feldzeugmeister Baron Rodich, ein eifriger Südslawe, gewesen war.
Und tatsächlich hatte sich dem Monarchen und seinem Gefolge allerorts ein überwältigender Empfang geboten. Man huldigte ihm nicht nur allein an den Hoftafeln, sondern sogar noch inmitten in der ödesten Felswildnis; noch die armseligsten Bewohner der nahen türkischen Provinzen pilgerten scharenweise aus den sich längs Dalmatien erstreckenden Grenzgebieten heran, um den Kaiser aus der Nähe zu sehen und ihm begrüßen zu können. Propagandistisch von Graf Andrássy mit Geldern des Außenministeriums, der Hochfinanz, der Kirche, diversen Zeitungsredaktionen, sowie von Papp und Konsorten inszeniert, breitete sich in der benachbarten Herzegowina darauf eine ungeheure öffentliche Erregung aus, die bis tief nach Bosnien hinein überschwappte.
Überall trug man offen die kaiserlichen Farben angesteckt – ebenso wie in Dalmatien, deutete die einheimische Bevölkerung den eigentlichen Zweck der kaiserlichen Fahrt naturgemäß im Sinn einer nahe bevorstehenden, österreich-ungarischen Militärintervention in Bosnien und der Herzegowina.
Das einfachere Landvolk, das sein Herz, zumindest laut Ari Papps mehrspaltigen, fettgedruckten Sondertelegrammen, auf der Zunge trug, begrüßte den Kaiser zumeist wie einen Erlöser. "Das ist ein Herr", klang es in Papps Eigenberichten häufig an, "das ist ein wahrer Zar, der selbst nachsieht, wie es in seinen Provinzen aussieht und zugeht..."
Neben etlichen christlichen Abgesandten aus den so genannten türkischen Provinzen, fanden sich auch etliche südslawische Patrioten ein, die Franz Joseph für ihre unter der osmanischen Fuchtel schmachtenden Landsleute heulend und zähneknirschend um Schutz und Hilfe bestürmten. Die vielfältigen Erwartungen und abenteuerlichen Hoffnungen, die verständlicherweise nicht nur seitens der Militärgrenzer durch die Reise des Kaisers neuerlichen Auftrieb erhielten, ließen, wie zu erwarten gewesen war, rasch einen gefährlichen Funken zum Aufstand in den türkischen Grenzgebieten überspringen.
Nur wenige Wochen später wagten christliche Kombattantenscharen daraufhin, wie schon - von Papp nachdrücklich beschworen - 1853, 1860 und 1862 - eine bewaffnete Erhebung gegen den Halbmond. Dem spannungsvoll erwarteten Auftakt, schlossen sich rasch große Teile der übrigen Slawen abwärts bis nach Bulgarien an.
Die bedrohliche Lage geriet zunehmend außer Kontrolle - der gesamte Norden der europäischen Türkei, von der Adria bis zum Schwarzen Meer, von der Donau bis zum Balkan, verwandelte sich damit jäh in einen drohenden Flammenherd.
Das eigentliche Zentrum der Kämpfe waren Bosnien und die Herzegowina, wo die anhaltende nationale, politische, ökonomische und religiöse Unterdrückung die christlich-slawische Bevölkerung, wie Papps Zeitungssprache es formulierte, zu erbittertem Widerstand aufstachelte, nachdem die Mehrzahl der Pächter der betroffenen Regionen sich in aussichtsloser Abhängigkeit von ihren mohammedanischen Grundherren befand, die ihrerseits völlig nach eigenem Gutdünken walteten. Als sogenannte Grundholden (an den Boden gebundene Hörige), mussten die – völliger Willkür und Schutzlosigkeit ausgelieferten – christlichen Kmeten (Bearbeiter) dort, rücksichtslos ausgebeutet, für die Einkünfte ihrer Feudalherren sorgen. (Erst in den Jahren nach der österreichischen Okkupation des Landes, wurde auch Nichtmohammedanern ein kontinuierlicher Aufstieg in die Klasse der Grundbesitzer damit möglich, deren Anteil aber noch 1910 mit 8,85 Prozent dünn genug ausfiel.)
Wie Arpad Papp überaus anschaulich zu berichten wusste, schindete der Kmet sich ausschließlich für seine diversen >Agas< und >Begs< ab, die ihm außerdem jeden bestimmten Fruchtanbau oder Anbauwechsel verbieten konnten, ohne dabei seinen eigenen Lebensunterhalt Rechnung tragen zu können. Neben den vor sich hinsiechenden Ertragssystemen und notdürftigen Agrarverhältnissen, verschärften überdies die sich häufenden Missständen innerhalb der verlotterten, völlig korrupten ottomanischen Verwaltung die Gegensätze der gleich in drei unterschiedliche religiöse Bekenntnisse gespaltenen Bevölkerung, die einander in traditioneller Feindschaft, Hass und Mord gegenüberstand. Rund die Hälfte der insgesamt 1,3 Millionen Einwohner in den besagten Provinzen waren mohammedanischen Glaubens, etwas mehr als ein Drittel orthodoxe Christen, der Rest katholisch. Dazu kamen außerdem eine Vielzahl bosnischer Konvertiten – einmal zu Einfluss und Grundbesitz gelangt, um dann als abtrünnige >Pseudotürken< -, wie Papp hervorhob, häufig umso unnachgiebiger auf ihren erworbenen Privilegien zu beharren, verstünden gerade sie es, hartnäckig alle - ohnehin nur auf dem Papier angekündigten - Reformen der Pforte zu verhindern.
Hatte der Sultan beispielsweise veranlasst, dass jeder Bauer in Bosnien und der Herzegowina alljährlich den zehnten Teil seines Ertrags der Steuer abtreten, ein Drittel aber den Gutsbesitzern zufallen sollte, wurde diese Verordnung schon deshalb nicht eingehalten, weil die tatsächlichen Abgaben der Bauern und Pächter in Wahrheit die Offiziellen weit übertrafen.
Das korrupte System der Begs (Landbesitzer) sowie das faktische Fehlen jeder behördlichen Kontrolle bedinge daher, wie Papp in funkelnder Sprache geißelte, den hörigen Christen nahezu sämtliche Bodenerträge abzupressen, um sie trotz ihrer ewigen Plackerei verarmen zu lassen und in tiefes Elend zu stürzen.
Unmittelbarer Anlass des nunmehr ausgebrochenen Aufstandes, der im Juli 1875 seinen blutigen Anfang nahm, war ein von Sultan Abdul-Asis geforderter Zuschlag von 25 Prozent auf die Zehnten-Abgabe gewesen, sowie die Tatsache, dass die Ernteerträge in diesem Jahr ungewöhnlich mager ausfielen und die wirtschaftliche Lage der Bauern entsprechend verschlechterte, deren Not noch durch käufliche Steuerpächter, Zwangsarbeit, erzwungene Bewirtung sowie die herrschende Willkür weiterhin zunahm.
Hatten die mohammedanischen Grundbesitzer der türkischen Provinzen bisher ebenso traditionell gegen den fernen Großherrn rebelliert, wie etwa die Pächter gegen die Grundbesitzer rebellierten, zeitigten die emsige Wühlarbeit der panslawistischen Kräfte sowie das unentwegte, mehr oder minder offenkundig gewordene habsburgische Werben, das bestimmte südslawische Kreise außerdem unterstützten, bald eine Polarisierung beider christlichen Konfessionen. Vom Fieber des Nationalismus geschüttelt, standen einander rasch bis an die Zähne bewaffnete Parteien gegenüber, deren Gräueltaten das übrige zivilisierte Europa erschrocken aufhorchen ließen.
Die romantisierten, in Lumpen gehüllten Menschentypen des Ziegenhirten, Gauklers und Wasserträgers mit vom Wetter gegerbten, exotischen Zügen schwanden so spurlos aus der Vorstellung der Abonnenten, als wären sie nie da gewesen, um stattdessen Papps verschlagenen, grausamen Banditenhorden, die mordend die steinigen Höhen des Balkans terrorisierten, weichen zu müssen.
Der gesamte europäische Orient stürze, so schrieb er, in eine anhaltende, tiefe Krise, die vor allem den fortschreitenden Zersetzungsprozess der Pforte offensichtlich mache. Tatsächlich wurden die Nachrichten, die von Bosnien-Herzegowina in die Welt hinaus drangen, wie nicht allein Papp warnend bekräftigte, tagtäglich bedenklicher.
Die Aufständischen forderten nichts weniger als die Ersetzung des Aschar (einer 10-prozentigen Naturalabgabe) durch eine Bodensteuer und verlangten nationale Gleichberechtigung, Religionsfreiheit, die Aufhebung des Frondienstes, der Pachten, der Arbeitsverpflichtung, der verlustbringenden Militäreinquartierungen sowie die Beseitigung der unerträglichen Beamtenwillkür.
Teilweise tendierten diese Kräfte nach Österreich-Ungarn, teilweise fanden sie Rückhalt und Unterstützung in Serbien.
Obwohl die türkische Regierung sich als zu schwach erwies, den Aufstand, der in den Grenzregionen Dalmatiens und Montenegros begonnen hatte und sich in rasender Schnelligkeit ausbreitete, um schon nach wenigen Tagen ein Drittel der Herzegowina zu erfassen, niederzuschlagen, wies Andrássy die diplomatische Vertretung in Konstantinopel ausdrücklich an, alle diese Vorgänge als eine interne Angelegenheiten der Türkei zu betrachten, sich selbst jeder Einmischung zu enthalten, die Pforte im übrigen aber wissen zu lassen, dass Österreich-Ungarn nur eines wünsche – nämlich die Erhaltung der Ordnung.
In der zweiten Jahreshälfte glückte es den Aufständischen inzwischen, den starken türkischen Armeegruppen schwere Niederlagen zuzufügen, die ihre militärischen Operationen im darauf folgenden Winter, von den jahreszeitlichen Bedingungen in den Bergen abhängig, vorübergehend überhaupt einstellten und Verhandlungen führten. Noch im September hatte auch die erste bulgarische Erhebung begonnen, die sich zwar im April 1876 fortsetzte, um aber Ende Mai bereits vorläufig vernichtet zu werden. Wie zu vermuten gestanden war, zogen die blutigen Vorgänge auf dem Balkan, beziehungsweise die Presseberichte darüber, schon bald die Aufmerksamkeit der europäischen Großmächte auf sich, wobei die Uneinheitlichkeit der nationalen Interessen und Standpunkte einmal mehr offen zutage trat und alle gemeinsamen Ansätze einer konstruktiven Orientpolitik daher schon im Voraus vereitelte.
In England war man festen Willens, der russischen Flotte auch in Zukunft Bosporus und Dardanellen zu sperren, um den Fortbestand des Osmanischen Reiches damit abzusichern. Bereits nach der Eröffnung des Suezkanals, der sogleich eine enorme Bedeutung für das britische Empire erlangt hatte, war seitens London befürchtet worden, dass dieser hochwichtige englische Seeweg durch das Mittelmeer, der das Mutterland über Gibraltar und Suez mit seinen fernen Kolonien verband, durch eine Konsolidierung russischer Interessen auf der Balkanhalbinsel, die die politische Einflussnahme der Briten in der Türkei sowie in Mittelasien zwangsläufig schmälerten, gefährdet sein würde. Großbritannien hatte daher gleichzeitig begonnen, der Türkei große Mengen an Rüstungsgütern zu liefern, dem Sultan verborgene Militärhilfe zu leisten und etliche Kommandeure, die bezeichnenderweise offiziell weiter im englischen Offizierskorps ihren Dienst taten, insgeheim zur Unterstützung der türkischen Armee zu versetzen.
Demgemäß hatte der englische Gesandte in Konstantinopel, Sir Henry Elliot, dem Sultanat namens seiner Regierung angeraten, den gegenwärtigen Aufstand "mit allen Mitteln zu unterdrücken" - eine Empfehlung, der man in der Türkei durch unzählige grausame Vergeltungsmaßnahmen nachkam, um sogleich Berge abgehackter Hände und Köpfe zu häufen.
Während England somit sämtliche russische Versuche zu verhindern suchte, die Orientkrise zugunsten der Slawen zu lösen und sich als Hauptgegner des Zarentums verhielt, das seinerseits auf eine Zerstörung der Integrität der Türkei abzielte, blieb Frankreich dagegen, ähnlich wie Italien, nur marginal an den Angelegenheiten des Balkans interessiert – beide Länder beschäftigte vielmehr der weitere fleißige Ausbau ihrer afrikanischen Kolonien. Daneben bemühte die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie sich weiterhin im Stillen, eine Aufteilung des Balkans zu eigenen Gunsten zu erreichen.
Deutschland, das immer noch eine französische Revanche für den Verlust Elsaß-Lothringens sowie einen Zusammenstoß mit den als "Alpdruck" bezeichneten Koalitionen befürchten musste, betrieb in der Balkanfrage eine Politik, die sowohl die russischen wie auch die österreichisch-ungarischen Machtansprüche in diesen Gebieten sorgsam im Auge behielt, da das >Dreikaiserabkommen< Fürst Bismarck, der seinerseits zwar bereit schien, Österreich in der Orientfrage weitgehend zu unterstützen, es jederzeit ermöglichte, die Lage auf seine Weise zu kontrollieren, indem er die Beziehungen Russlands zur Türkei gelegentlich heimtückisch zuspitzte.
Nächtlicher Weise auf der Prager Kleinseite flaschenweise süßlichen Krimsekt leerend, diskutierten Ari Papp und ein russischer Journalistenkollege dazwischen hitzköpfig und bis zur Erschöpfung ihre verschiedenen politischen Standpunkte, ohne naturgemäß einen gemeinsamen Nenner zu finden.
"Seine Majestät, der Zar, ist so vollkommen erfüllt von patriotischer Hingabe an sein russisches Reich, wie kaum einer seiner Untertanen es sein kann", erklärte der Moskowiter, seine Zigarre paffend, schlussendlich mit schwerer Zunge. "Ebenso hegt er ein - wie soll ich es nennen – wahrhaft tiefes Verwandtschaftsgefühl für die slawischen Völker am Balkan -"
"Um sie mit seinen Kampagnen aufzuhetzen!" warf Papp unverblümt ein. "Man nehme nur die ständige Agitation der russischen Presse, die die nationale Selbstständigkeit der Slawen als eine angeblich heilige Pflicht Russlands beschwören will, um deren tiefe Verbitterung damit bewusst auf die Spitze zu treiben."
Sein hartnäckiges Gegenüber ließ sich davon jedoch nicht beirren: "Mein Gott, Ihre Seite ist nicht besser als die unsere und behandelt uns äußerst schäbig. Aber der Zar möchte keinen Krieg – und noch weniger möchte er alle slawischen Völker unter die russische Krone rufen." Einen tiefen Schluck nehmend, zog der Russe ein wichtigtuerisches Gesicht.
"Machen Sie, Freund, beruflich bitte keinen Gebrauch von dem, was ich Ihnen hier anvertraue - Sankt Petersburg ist nämlich längst klar, dass uns grade die Macht am meisten zu schwächen versucht, die immerzu als unser bester Freund auftritt: Deutschland. Schon seit langem suggerieren preußische Diplomaten und Generäle – ähnlich wie auch Andrássy in Wien – unserem Kriegsminister darum die angebliche Notwendigkeit eines Konfliktes mit der Türkei."
"Lauter Lügen", entgegnete Papp, plötzlich wieder hellwach, bewusst provokant. "Faule Manöver - wollen Sie mich etwa zum Besten halten? Werter Freund, Sie bluffen doch nur."
Sich bequem auf das Sofa an seiner Seite des Tisches zurücklehnend, um seine Hand nach der Flasche auszustrecken, starrte der Russe ihn glasigen Auges an. "Wir wissen nur zu genau, woran wir mit Bismarck und Österreich hinkommen!" begehrte er in sorgenerfüllter Stimmung auf. "Man erwartet von uns doch bloß, dass wir für euch damit die Kastanien aus dem Feuer holen sollen. Spitzen Sie Ihre Ohren, Sie Besserwisser, denn ich verrate Ihnen jetzt ein Staatsgeheimnis - unser Herr Kriegsminister hat den Zaren in einer vertraulichen Denkschrift erst neulich ausdrücklich gebeten, Bismarcks Drängen auf einen Krieg mit der Türkei keinesfalls nachzugeben; dies natürlich höchst inoffiziell. Jetzt steht Ihnen aber das Maul offen, Herr Papp, oder?"
Dieser zuckte nur schnippisch die Achseln. "Sie, sehr wahrscheinlich hört sich das nicht an."
"Es ist eine Tatsache!" schäumte der Russe, den es ärgerte, angezweifelt zu werden. "Ich gehöre ja sozusagen selbst zum Informanten-Kreis des Ministers."
Als Papp am frühen Morgen in sein Hotelzimmer zurückkehrte, um es ebenso rasch wieder zu verlassen, sandte er, ohne sich aufzuhalten, eine Eildepesche an seine Redaktion in Budapest ab. Die ihm sozusagen unter der Hand zugegangene Information als Trumpf benutzend, bezeichnete er die zaristische Außenpolitik darin als doppelbödig, intrigant und für die Sicherheit Europas als brandgefährlich. Gleichzeitig wusste Papp in scharfen Tönen davor zu warnen, dass Bismarck und Andrássy als ehrliche Sachwalter des Friedens St. Petersburg weiterhin blindlings vertrauen sollten.