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Die Lara Croft der 80er
Survivor „Eye of the tiger“ (1983)

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Aber ein wenig blieben wir noch.

Man traf sich. Die Fußläufigen aus dem Ort und die echten Helden, die mit Führerschein, aus all den verschiedenen Irgendwashausen rund um das unsere herum. Man darf zu Recht behaupten, dass unser schändliches Paradies das abgerissenste von allen war. Aber vielleicht war es auch wie die dreckige Küche einer riesengroßen Party, die mit geradezu magischen Kräften alle anzieht, die noch nicht nach Hause gehen wollen. Dreckig geht immer, Saubermänner werden wir noch früh genug.

Was muss Schnabel unter unserer Euphorie gelitten haben, als er mit seinem alten Kadett die schlechteste Karte von allen zog. Sechs passten mit Mühe rein. Wenn es nicht anders ging, saß auch noch eine Elfe auf seinem Schoß, vorne auf dem Beifahrersitz. Auf dem er Blut und Wasser schwitzte. Um seine knirschende Kupplung, den x-fach von uns abgewürgten Motor und seinen Lappen, auf dem der Stempel noch feucht war. Und natürlich rund um die panische Vorstellung, dass selbst am Ende der Welt irgendwann eine Polizeistreife auftauchen könnte, die ihn für diese verbotenen Touren an die Wand stellen würde. Mindestens. Vielleicht auch Schlimmeres.

Pete hatte immer nur grinsend den Kopf geschüttelt, aber wir anderen quetschten uns gerne rein in den Kadett. Um uns von Schnabel über die geschlungene kleine Straße hoch auf den Hügel zwischen die Felder kutschieren zu lassen. Dort, wo es ein paar Kilometer weiter auf Schleichpfaden zum nächsten Ort ging. Dort wo man aufpassen musste, dass kein großer Bruder auf dem Trecker entgegenkam und dumme Fragen stellte.

„A-chtung!“, lautete der Warnruf, woraufhin sich alle blitzschnell übereinander warfen. Die hochroten Köpfe irgendwie unter den einsehbaren Bereich des Heckfensters gequetscht, bis die Gefahr vorüber war.

Oben am Waldrand, auf Feldwegen voller Schlaglöcher und staubigen Schotterpisten, lernten wir alle das Autofahren. Dort würgten wir hübsch nacheinander die Kiste ab und röhrten mit dem Standgas. Dort zuckten und zockelten wir mit vierzig Stundenkilometer dem autarken Leben entgegen, alle mit den Oberkörpern abrupt Richtung Frontscheibe geworfen oder von der Fliehkraft in die grauen Sitze gedrückt. Da war noch nichts mit Gurtpflicht und Kopfstützen, aber was war das Leben für ein Spaß, die Fenster weit heruntergekurbelt, die lachenden Gesichter wie hechelnde Hunde in den Fahrtwind gehalten.

Der Kadett überlebte jede Baumwurzel und jedes Schlagloch. Unsere Eltern entgingen durch die Gnade der Unwissenheit einem vorzeitigen Herzinfarkt und Schnabel überlebte uns. Keine Ahnung, was er sich damals genau davon versprochen hatte, vielleicht war er einfach nur zu nett, um Nein zu sagen. Aber gar nicht so viele Jahre später heiratete er Sibylle, die Elfe vom Beifahrersitz. Sein Schoß schien sie doch ausreichend beeindruckt zu haben.

Heute leben die beiden noch immer bei und mit ihren Eltern und züchten irgendeine Art von langhaarigem Tibet-Pinscher mit Abstammungsurkunde und Überbiss. So kann es gehen, wenn man nicht Nein sagen kann und der Erste gleich der Beste ist. Sibylle war eine Zicke vor dem Herrn und folgte ihrer neurotischen Mutter auf hohen Hacken. Lang und zart, mit dünnem blondem Gezottel bis zum kleinen Hintern. Eine echte, schlecht gelaunte Rapunzel, die vom Turm winkte und dem erschöpften Ritter nach sieben getöteten Drachen eine Prachtpartie im väterlichen Königreich versprach. Und genauso ist es dann wohl auch gekommen.

Eine meiner weiteren Etappen auf dem Heldenweg würde ich nur allzu gerne verschweigen. Sie ist nicht rühmlich. Eher rustikal. Verdammt rustikal für jemanden, der doch allen Traditionen abschwören und ein wirklich wildes Leben führen wollte. Doch es darf nicht verschwiegen werden - es gab eine Zeit, da wurde ich zur Schützenliesel.

Ja, das ist bitter. Aber Schnabel zwei, der kleine Bruder vom Großen, aber selbst schon alt genug für ein Mädchen an der starken Schulter, der brauchte eine. Um sich nach einem Jahr erfolgreichen Luftgewehrschießens im Vereinsheim als König feiern zu lassen.

Ich schien ihm wohl dafür geeignet und deshalb stand er da, mit einem zarten Blumensträußchen in der Hand, und wagte mich zu fragen. Ich wurde selten und schon gar nicht mit Blütenargumenten nach solch verbindlichen Arrangements gefragt, also sagte ich zu. Denn das ist ja schon etwas, in königliche Gefilde aufzusteigen und ein kleines Reich zu übernehmen, wenn sich sonst nebenan nur Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Meine Eltern schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, besorgten für eine unglaubliche Kohle ein mädchenhaftes blaues Dirndl mit rosa Schütze, und mit geballter Kraft brachten wir uns, im Kinderzimmer kreisend, gegenseitig den Walzer bei.

Es existiert tatsächlich ein Foto vom Ehrentag dieser Thronbesteigung. Er breit lachend, groß und schlank, im grünen Schützenhemd und mit schwerer Königskette wie ein ausgezeichneter Jungbulle. Und ich ein wenig pummelig und unsicher, in Zahnspange und Dirndlgerüsche, mit Blümchenarrangement in Papierspitze daneben. Dazu noch einen C&A Anorak übergeworfen, es scheint winterlich gewesen zu sein, als wir zwei spitznasigen Helden vor dem versammelten Ort im geschmückten Vereinsheim zunächst den Eröffnungswalzer und schließlich das Krönungslied aufs Parkett legten.

Ja, das ist absolut unverzeihlich. Zu meiner Rettung sei gesagt, dass Schnabel zwei gar nicht so schlecht küsste und wir uns für einige Zeit mit einer gewissen Ernsthaftigkeit als Pärchen versuchten. Sehr harmlos, sehr weit weg vom starken Punk, aber ich kann mich bis heute an ihn erinnern, an meinen ersten König im ersten Königreich.

Außerdem war ich eine wirklich bemühte Liesel und tauschte das samtene Kropfband um meinen Hals im Laufe der kommenden Monate gegen einen eigenen Schießhandschuh und eine Vereinsmitgliedschaft aus. Es scheint, dass mir die Abneigung dagegen, nur Anhang von einem Kerl zu sein, damals schon durch die wilden Venen floss.

Somit öffnete sich ein weiteres Kapitel, in dem ich jeden Freitagabend in langen dunklen Gängen anlegte, zielte und traf. Hatte sich Pete auch kürzlich aus ethischen Gründen gegen den Dienst an der Waffe entschieden - ich wurde zum Flintenweib und versuchte mich durch alle Möglichkeiten. Luftgewehr, Kleinkaliber, Tontaubenschießen, Pistole: kaum etwas, das ich ausgelassen hätte.

Knapp fünfzehn Jahre später habe ich mir dann noch den Motorradführerschein geschnappt. So aus einer Laune heraus, weil man sich zu seinem Dreißigsten doch irgendetwas fürs Leben schenken sollte. In Erinnerung an das furchtbare Geräusch von Rettungshubschraubern vor Bergketten bin ich viele Jahre nicht mehr selbst gefahren, aber streng genommen könnte ich es. Ich könnte in einer echten Dangerous Zone die Zigarette wegschnippen, auf eine starke Maschine steigen, den Kickstarter betätigen, mit der linken Stiefelspitze den Gang einlegen und aufdrehen. Ich könnte sie mit der Hüfte nach unten drücken und mich in die Kurve legen. Ich könnte auf der nächsten Geraden auch eine Pistole aus der Innentasche meiner Lederjacke ziehen und auf die zielen, die mir an Leib und Leben wollen. Und nicht nur mit Glück würde ich treffen. Streng genommen könnte ich es.

Zum Soundtrack von „Rocky III“. Was für eine Vorstellung! Genau der wäre es, kein anderer kommt infrage. Remember? Rocky Balboa, der Gescheiterte, während seiner Vorbereitung zum Kampf gegen Apollo Creed? Seine einzige Chance, die letzte vermutlich, und deshalb trainiert er sich bis zum Kotzen die Seele aus dem Leib. Boxt gegen Rinderhälften im Schlachthaus und rennt immer wieder diese beschissen lange Treppe hoch. Zu Survivors „Eye of the tiger“, dem Hammersong mit dem wuchtigen Gitarrensolo am Anfang.

DAM!– DAMDAMDAM!– DAMDAMDAAAA! Bis er es sich wieder zutraut. Alles. Und schließlich in diesem verdammt harten Kampf Apollo ausknockt. Und dann: ADRIAN!

Ja, das wäre der Soundtrack. Das wäre mein Gewinnersong, für die Motorradinszenierung. So und nicht anders würde das zeitlose Flintenweib in mir sie durchziehen.

Streng genommen könnte ich es. Aber das war nicht immer so.

Als junges Mädchen hatte man mich gerne verschickt. Das war damals nicht weiter ungewöhnlich. Wenn ein engagierter Jugendarzt sorgenvoll den Kopf schüttelte und ernste Worte sprach über den aufgestauten Baby- oder Sorgenspeck, der in diesem Alter nicht mehr hingehörte an ein gutes Kind, dann hat man es eben verschickt.

Ihm das Köfferchen gepackt, die Wange geküsst und es in einen Zug gesetzt. Um die Sommerferien in einer gesunden Umgebung zu verbringen, an einem fremden Ort, mit vielen anderen dicken Kindern. Und viel zu dünnen. Man nahm das damals nicht so genau. Die einen wurden eben aufgepäppelt, die anderen abgespeckt. Am selben Tisch, das war völlig normal.

Mich hatte man mal irgendwo in die Mitte Deutschlands verfrachtet. In einen wahren Gesundbrunnen von Kinderheim. Ein riesiges Gelände, ein riesiges Haus mit Nebengebäuden, mit einer riesigen, nach Schweiß stinkenden Turnhalle und einem unendlichen Trimm-Dich-Pfad durchs bergige Land. Wie gemacht, um dicken unsportlichen Kindern in neu gekauften, drückenden Turnschuhen ein ganz fantastisches neues Körpergefühl zu vermitteln.

Zur Lebensaufgabe hatte sich dies ein echter Ausbund an Sportlichkeit, Gesundheit und sauberem Deutschtum gemacht. Herbergsvater Ratayczak gereichte seinem Namen zur Ehre. Stark, gestählt, preußisch, unbezwingbar! Elementare Werte, um dumme, dicke Lämmer zurück auf den rechten Pfad des Lebens zu führen. Ratayczak führte Regiment. Als Trainer der blökenden Kinderschar ebenso wie als Vorsteher der gesamten Herbergsfamilie, die sich zwischen Großküche, Schlafsälen und Wiegeraum organisierte.

Wie sehr habe ich ihn gehasst. Den stählernen Ratayczak, der mir vom ersten Augenblick an ansah, wie gering mein Respekt gegenüber seinen Werten war. Und den Wiegeraum, in den täglich zum Gewichtsrapport gerufen wurde. Erster hatte sich auf die Fahne geschrieben, dass offensichtliche Frechheit mit mehr Einsatz zu bezahlen sei. Zweites war für alle die gleiche Qual. Anstellen in Zweierreihen, warten, bis man dran ist, das mannshohe Monster von Waage betreten. Sich in Luft auflösen wollen, wenn Scham und Schande von der pädagogischen Fachkraft durch den Raum gerufen wurden, damit sie an anderer Stelle auf einer riesigen, offenen Tabelle vermerkt werden konnten. Und sich im besten Falle schließlich ein Nicken für dreihundert Gramm weniger abholen. Oder eben die Sonderrunde auf dem Teerplatz.

Ich habe in diesem Sommer das Sportpensum für mein ganzes Leben erfüllt. Mit und ohne Ratayczak. Mit Knöcheln, angeschwollen auf Tennisballniveau, mit ganz großartigen Waldläufen im Regen, bei denen die Letzten auch wirklich die Letzten waren. Blödes Spiel, die Ausgehungerten immer vorneweg, die behäbige Masse hinterher, und abends beim Prellball– so ein gesundes Nachtmahl muss ja auch verdient sein – den Losern noch eines aufs dicke Fell gedengelt.

Nach acht Wochen war ich durch mit Liegestützen und Kniebeugen, mit verhunzten Klimmzügen und mit einem wachen Geist in einem fast schon probegestählten Körper, der nur so gar nicht mehr zu mir passen wollte.

Nein, das war natürlich nicht alles schlecht. Das waren auch Nachtwanderungen mit herrlichem Gruselfaktor und romantische Lagerfeuer mit Gitarrenmusik und abgezählten Würstchen. Wir lagen hungrig vor Madagaskar und so. Das waren schöne Freundschaften unter Leidenden, die je nach Gewichtsklasse zu Verschworenen wurden. Das war sehnsüchtiges Warten auf ein Päckchen von zu Hause und hin und wieder Marsriegel-Schmuggeln und Coolsein-Üben.

Und cool waren wir allemal. Besonders beim spontan initiierten Ohrlochstechen. Irgendeiner kam auf die Idee und alle machten mit. Einer nach dem anderen. An einem freien Nachmittag setzten wir uns schön brav nacheinander auf einen Stuhl, ließen uns ein Mickey-Maus-Buch zwischen die Zähne schieben und anschließend die an einer Kerzenflamme desinfizierte Nadel durchs rechte Ohrläppchen. Um in diesem schwer verdienten Loch von nun an einen gruppengenormten Federohrring zu tragen. Das war der Plan, in Wahrheit trugen wir alle für den Rest der Verschickung rot blinkende und schmerzhaft eiternde Ohrläppchen. Man muss eine Menge dafür tun, um aufrecht groß zu werden.

Aber am letzten Abend, zu dem jeder etwas beisteuerte – was von mir nur ein endloses Strophengedicht im Viererzählreim sein konnte, einfach gemacht, aber jeden Einzelnen der Meute deutlich charakterisierend –, da zeugte mir sogar erstmalig der stählerne Ratayczak seinen Respekt, obwohl auch er ein paar deutliche Spitzen einstecken musste.

Ich hatte mein Soll erfüllt. War verschickt, ausgehungert und gut abgehangen worden. Fast schon fit.

Aber letztendlich hat das alles nichts gebracht. Der Hunger nach dem Leben blieb.

Wobei die Älteste der Töchter Ratayczaks sich ihrem Vater widersetzte und laute, wilde Lieder sang. In einer Band. Verwegen, saucool, mit Röhre und im Minirock über den viel zu dicken braun gebrannten Beinen. Wunderschön. Mit langem Haar und Sexappeal und einem klugen Kopf und einem Herz so groß, dass jeder Kerl sie haben wollte. Die hatte mir zum Abschied in ein schmales Buch geschrieben. In eines von Erich Fried, über den wir in einigen Nächten gesprochen hatten. Heimlich flüsternd und unerlaubt. Dann, wenn die schöne Röhre Nachtdienst vor dem Mädchen-Schlafsaal schob und ich Kleine im Etagenbett nicht schlafen konnte.

„Zwischen dem Gestern und Morgen verstecke ich mich heute“, stand da vom großen Erich Fried. Und die wilde, wunderschöne Röhre hatte schwungvoll in Blau daruntergesetzt: „Verstecke du dich nie!“ Und genau das habe ich seitdem auch nie mehr getan. Nicht einen verdammten Tag lang.

Mit unglaublich viel wirrer Fantasie war ich damals dank Sommerausbildungslager, lyrikgestütztem Selbstbewusstseinstraining, einer Mitgliedschaft im Schützenverein und einem verstrahlt mädchenhaften Hang zum Auge des Tigers also so etwas wie die Pummelvariante der Lara Croft der 80er am Arsch der Welt.

Und könnte sie heute wiederbeleben.

Hammer! Heldenhafter geht doch kaum.

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