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Der Schnauz. Oder vom Überm-Zaun-Hängen zum Vokuhila
Falco „Jeanny“ (1986)

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Silvester 1984 wurde der alte Widersatz eingemauert. Meine Eltern sprechen heute noch davon, wie witzig das gewesen sei. Den Widersatz einzumauern. Vermutlich, weil das zu den wenigen Dingen gehörte, bei denen sie damals selbst witzig waren. Überraschend spaßig mit den Nachbarn und dicht bis unter die Hutschnur, hatten sie beim gemeinschaftlichen Schneeräumen übrig gebliebene Ziegelsteine gefunden und dem Letzten der Straße damit die Haustür bis oben hin professionell verrammelt. Was für ein Spaß, als der Widersatz am nächsten Morgen das schmucke Eigenheim über die Terrasse verließ.

Dass ich in derselben Nacht kotzend überm Zaun hing, fand man hingegen nachbarschaftsübergreifend weniger witzig. Das Kind hatte sich dummerweise an der Bowle vergriffen und war dank einer großmütigen Runde Erwachsener – „Na, ausnahmsweise ein kleines Glas mit Sprudel, weil Silvester ist“– durch gut vergorene Früchte beim schändlichen Ausnahmezustand gelandet. Um anschließend lautstark durchs Dorf zu stromern und Gleichgesinnte zu rekrutieren.

So lange war es mir gelungen, die kleinen Asbach-Cola-Sünden zu vertuschen, jetzt legte mich ausgerechnet eine elterliche Bowle flach über den idyllischen Jägerzaun und ließ mich Unflätigkeiten schimpfen. Weniger gegenüber dem alten Widersatz, zu dem ich Spross einer unmusikalischen Familie regelmäßig traben durfte, um meine Gitarre für neue talentbefreite Cat-Stevens-Klampfereien stimmen zu lassen. Sondern gegenüber allen, die mir so gewaltig lange auf den Sack gingen, dass man dafür schon mal überm Zaun hängen darf.

Die morgendliche Standpauke auf hämmernden Schädel sprach von Enttäuschung und fiel auch eher enttäuschend aus. Somit passten Auslöser und Ergebnis recht gut zusammen, wie mein watteweiches pubertäres Hirn, das auch zu solch grenzgenialen Überlegungen wie „Wenn es hier morgen ebenso scheiße ist, kannst du dich ja immer noch umbringen“ fähig war, treffsicher zu kombinieren verstand.

Und schließlich gehörte ich zu den Helden. Helden auf Heimaturlaub. Der würde irgendwann vorbeigehen. Alles Unerträgliche würde vorbeigehen. Und das unaussprechlich Gute bleiben. Es musste doch bleiben, es musste beständig sein und sich durchsetzen. Das war doch das Einzige, worauf man sich beim Schicksal verlassen können musste, dass das Gute verlässlich siegen würde. Ansonsten machte das alles hier doch überhaupt keinen Sinn.

Ein paar Monate später zog mein Vater aus. In irgendeinem theatralischen Schinken würde man schreiben: „Er ging, wie er gekommen war.“ Was natürlich Unsinn ist. Weil er bereits lange vor meiner Zeit gekommen war und ich keine Ahnung habe, was er damals dabeihatte. Aber er ging zumindest nicht mit mehr, als in den eckigen Familien-Benz passte, und das kann so viel nicht gewesen sein.

Kein Auszug mit Umzugswagen. In meiner Erinnerung standen wir beiden Töchter einfach eines Tages blöde winkend in der Auffahrt und ein Kapitel schloss sich. Eher untheatralisch und leise. Ums Verrecken fällt mir bis heute keine Emotion dazu ein. Vermutlich werde ich eine gehabt haben, aber ich komme nicht darauf. Es bleibt ein großer schwarzer Raum, nie nachgefragt. Was ich mich aber zu wetten traue, ist, dass ich vermutlich Mitleid mit ihm hatte. Wie er es denn nun so alleine schaffen sollte.

Der Gefühlsklassiker, den ich bis heute jedem Mann gegenüber habe, der geht. Wie er es denn nun wohl so alleine schaffen soll, der Arme. Auch wenn sich sicherlich nicht alle Gegangenen übergangsweise von Spaghetti Bolognese, fix und fertig zubereitet in der Dose, ernährten. Aber beim Anblick dieser Blechbüchsen im neuen Kühlschrank meines Vaters, habe ich tatsächlich voll erschrockenen Mitgefühls ein paar Mädchentränen vergossen. Alle anderen blieben mir später verschlossen.

Wobei Kühlschränke im Allgemeinen grenzenlos überbewertet werden. Männer bleiben selten lange hungrig, irgendwer bekocht sie immer wieder neu, beizeiten. Ganz ohne Mitleid, nur aus reinem Appetit. Was ja nicht das Falscheste ist, nur das Schmerzlichste.

Aber damals war es eben der Kühlschrank. Im Allgemeinen und im Besonderen. Und da der heimische aus verständlichen Gründen damals reichlich Eis ansetzte, erkor ich den einsam Gegangenen kurz darauf zum Vorbild und machte mit siebzehn schändlich die Fliege. Wissend, dass meine Mutter, nie öffentlich schmutzige Wäsche waschend, sondern alles still ertragend, nicht den Hauch einer Chance hatte, einen ernst zu nehmenden Graben zwischen mich und meine verwegenen Pläne zu setzen.

Jahre später habe ich versucht, das wieder ein wenig gutzumachen. Aber damals nutzte ich die Chance und rannte. Weg aus dem Heimaturlaub für angehende Helden, weg vom Arsch der Welt.

Haltlos, zügellos, unbeschwert, mein kleines Jugendzimmer unterm Arm, rannte ich dem Leben entgegen. Direkt an den ersten neuen Arsch knallend, der am Wegrand stand. Mit Vokuhila, Schnauzer und ein paar Delikten auf dem Zettel. Man mag es nicht glauben.

Es sollte Stellen im Leben geben, wo man zu ordentlichen Öffnungszeiten eine Nummer zieht, anklopft und nach einer Auskunft verlangt. Wo es denn bitteschön zum nächsten guten Heldenweg gehe, beispielsweise. Man könnte anschließend an der Kasse anstehen, 4,30 Euro einwerfen und sich mit dem gültigen Bon die Antwort an Schalter drei abholen.

Aber verflixt noch mal, ich habe diese Stellen nie gefunden. Was mich nicht daran hinderte, dann eben ohne Auskunft dem Leben entgegenzurennen. Dass Umwege keine Wege seien, konnte damals wie heute noch keiner standhaft behaupten. Na bitte, dann eben außen herum anstatt quer durch die Mitte. Und irgendwas, irgendwas geht doch immer. Nur dass es ausgerechnet Vokuhila und Schnauzbart sein mussten, daran hat man auch als Heldin, geboren in den 70ern, ausreichend lange zu knabbern.

Vokuhila Schnauz also.

Nein, kein unangebrachtes Mitleid bitte! Nicht ein besserer Name für ihn wird jemals aus meiner Feder fließen und damit ist er noch mehr als gut bedient. Vokuhila Schnauz war Mitte der 80er Anfang dreißig, hasste seine Mutter, fuhr einen klapprigen Alfa Romeo und machte in Weißware. Damit wäre das gesamte Kapitel im Grunde auch schon erzählt. Aber man kann es ja nicht ausradieren, ohne das Blatt durchzurubbeln und somit ein Loch im gesamten Buch zu hinterlassen.

Weißware also. Waschmaschinen, Kühlschränke, Gefrierkombinationen. Auch mal eine Kaffeemaschine dazwischen. Oder ein Staubsauger. Diesem „Bauknecht weiß, was Frauen wünschen“-Typen war ich mitten im schönsten Lebenslosrennen in die Arme gelaufen. Und würde mich in ihnen tatsächlich ein paar wenige Jahre wundern, warum die so bunt ausgemalte Freiheit so wenig mit der Realität zu tun hatte.

In der kam ich mit meinem knappen Lehrgeld aus der Buchhandlung nach Hause, während seine Finanzen stets ebenso geheimnisvoll wie unerschöpflich wirkten. Weiß der Teufel, was er zusätzlich unterm Ladentisch oder bei der Auslieferung vertickte, aber eines ist sicher: Es fehlte uns trotz seinem Geiz nie an ausreichend Elektroartikeln.

Als wir recht bieder herumtingelten. Von der ersten faden Lechhauser Vorstadtwohnung mitten aufs Land, in ein Absteigehäuschen wahrer Tristesse. Als wäre das Dorfthema noch nicht ausgereizt genug gewesen, gab ich dort La Mamma Mia, beim Sonntagskaffee aus der Blümchenkanne, neben dem Misthaufen. Die Wände waren feucht, die Träume trocken und an die Küchenfliesen klebten wir Prilblumen.

Einmal stand ich in der kleinen Hofküche, bis zu den Ellenbogen tief in einem Metalltrog, und zerteilte darin die erste und einzige Sau meines Lebens. Durch die quietschgelben Gummihandschuhe hindurch konnte ich die fast noch lebendige Wärme des toten Tieres spüren, das durch bitteren Zufall in unserer Küche gelandet war. Armes Wesen. Der Bauer von nebenan hatte zuvor an der rissigen Holztür geklopft und um Nachbarschaftshilfe gebeten. Die trächtige Sau müsse vom abgelegenen in den nahen Stall gebracht werden und da täte ein zweiter Mann Not. Der Schnauz war mitgegangen und gemeinsam hatten sie das Tier dann versehentlich in einen Herzstillstand getrieben. Jetzt lag eine Hälfte, nach der heimlichen Schnellzerlegung fast noch pochend, eben in meiner hässlichen Resopalküche.

„Das ist nicht dein Ernst!“, hatte ich den Schnauz angefahren als er damit um die Ecke gekommen war.

Aber natürlich war das sein Ernst. Das sei doch super, Braten bis zum Abwinken in der Truhe, und wenn er schon so schön gejagt hätte, dann wäre es doch auch eine passende Aufgabe für mich, die Sau einzutüten. Also hatte ich die Gummihandschuhe übergestreift, mit angewidertem Blick mitten ins blutgestockte Fleisch gegriffen und mir geschworen, nicht mehr da zu sein, wenn der erste Krustenbraten dieser unerwünschten Ausbeute im Ofen landen würde.

Ein glatter Meineid. Wie man weiß, strafbar. Irgendwie hatte ich den Absprung verpasst. Zu lange gezögert oder vielleicht hatte ich auch nur darüber nachgedacht und völlig vergessen, dieses nicht eben unerhebliche Gedankenspiel dem Schnauz mitzuteilen. Vermutlich hatte ich gehofft, er würde es mir von der Stirn ablesen oder selbst auf diese doch einzig logische Idee kommen. So wie man dem anderen ja auch jahrelang Nugat mitbringt, weil der ein einziges Mal selbst welches kaufte. Aber in Wahrheit war das damals für dich und der andere kann Nugat gar nicht ausstehen, aber isst es eben tapfer Jahr für Jahr weiter, um nicht im Nachhinein bei der ersten, inzwischen unverzeihlichen Lüge ertappt zu werden. Wer weiß? Vielleicht funktionieren sogar die meisten Beziehungen so. Dass einer am Anfang dummerweise den Zeitpunkt verpasst zu gehen und dann eben schweigend ein Leben lang mitläuft. So aus der Not heraus, weil nach der ersten Lüge die Wahrheit einfach niemals mehr passen wollte. Wer weiß schon, was wir uns alles Tag für Tag schweigend entgegenlügen, und wer will das schon wissen, wenn dabei der andere doch so brav mitläuft?

Der Schnauz und ich zumindest warfen lediglich den Inhalt der Kühltruhe bald in den Müll und zogen zusammen zurück in die Stadt, weil ich nicht laut gedacht hatte. In einen Altbaubunker mit Metalltüren, der gegen Ende des Krieges, direkt neben dem Knast liegend, vermutlich als Verhörraum diente. Aber billig war er. Unglaublich billig und passte damit zur gesamten Szenerie, als hätten die Bühnenbildner unseres Lebens Überstunden geschoben, um den Preis für die ausgezeichnetste Ausstattung zu erhalten.

Casting und Regie lagen ja schon lange ganz weit vorne. Schnauz liebte Eishockey passiv, ein ordentliches Zuhause und Fliegenfischen. Auf Menschen konnte er gut verzichten, auf mich anscheinend nicht, was unserer Beziehung eine recht eigenwillige Dynamik gab. Denn ich machte in Literatur, hatte mir im ersten Job einen neuen, engen Freundeskreis aufgebaut, aus dem er niemanden leiden konnte, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte, und hatte wilde Träume.

Und gemeinsam saßen wir am fliesengekachelten Couchtisch mit Häkeldeckchen und guckten „Auf Los geht’s los“ und „Am laufenden Band“. Er mit einem Bier und ich auf der Suche nach dem Fragezeichen. Ihm genügten völlig meine Anwesenheit und seine Gewissheit stets zurückzukehren, woher auch immer. Und irgendwann wird sicherlich auch das Wort Liebe gefallen sein. Ich erinnere mich nur nicht mehr in welchem Zusammenhang.

Mit neunzehn trug ich in logischer Konsequenz der Dinge einen Ring am Finger und hatte rosafarbene Verlobungskarten mit schwülstigen Texten an völlig geschockte Freunde verschickt. An Babette, die neue Lieblingskollegin, an Luke, den frisch freundschaftlich in meinem Leben eingetroffenen James Dean im ersten Lehrjahr, an einige Kollegen und Bekannte mehr und natürlich auch an Pete, der nicht zum ersten Mal die Augen verdrehte und fragte, ob ich wohl noch alle Latten am Zaun hätte.

Gefeiert wurde „Beim Gertl“. Eine bessere Vorstadtspelunke.

Gertl, stets braun gebrannt– die Sonnenstudios boomten–, mit blond gesträhnter Matte und dicker Goldkette um den Hals, hatte sein umfangreiches Gastronomiewissen als Gast aus der Ranch mitgenommen und in seine Zukunft investiert. Weshalb wir die unsrige dort tapfer begossen. Bei Bacardi Cola, einem Käsewürfel- und Mettigel-Büfett auf dem rustikalen Holztresen und Falcos gemeuchelter „Jeanny“ aus der Musikbox. Das war so ziemlich die schrecklichste Proll-Party meines Lebens, seitdem die Ranch als verjährt angesehen werden durfte. Aber ich wollte den hektisch-schrill blinkenden Déjà-vu-Einspieler einfach nicht sehen.

Alternativ zur Auskunftsstelle sollte es vielleicht auch einen intergalaktischen Ohrfeigenautomaten geben. Der dir hin und wieder zum richtigen Zeitpunkt einfach mal ohne Ansage eine verpasst und dabei ein kurzzeitiges „Herzlichen Glückwunsch und einen netten Gruß, dein Leben!“ auf der überraschten Wange hinterlässt. Ein solch universelles Erziehungsmittel hätte möglicherweise Potenzial.

Es gibt Ohrfeigen allerdings natürlich auch in Irdisch. Das nennt sich dann „sinnverdeutlichend“.

Zumindest war „sinnverdeutlichend“ hin und wieder Schnauz’ Antwort, wenn ich in seinen Augen zu viel Eigendynamik entwickelte. Frauen mit Dynamik, die hat der Teufel gesehen, das konnte man ihm wohl glauben.

Der Teufel in mir allerdings hatte brav bis mürrisch um seinen Hals einen meterlangen Panther-Fan-Schal gestrickt, die ekligen Reste ausgenommener Fische weggekärchert, bekanntlich eine frisch geschlachtete halbe Sau gefrierfertig verpackt und zwei, drei eher namenlose Schlampen ignoriert. Von denen eine besonders aufgeschlossene ihren unerträglich guten Willen zur überflüssigen Freundschaft unter anderem darin bewies, den gesamten Inhalt meines Bücherregals nach Farben zu sortieren. Selten hat mich etwas so aus den Schuhen kippen lassen wie diese Überraschung.

Des Bücherliebens mächtige Freunde von Insel und Suhrkamp werden an dieser Stelle möglicherweise den Hauch einer Vorstellung entwickeln, wie sich Hesse, Walser, Rilke und Co. regenbogenprächtig an der Wand machen können. Von Brecht-Orange links oben über alle zauberhaften Rückenschattierungen bis zum darkest James-Joyce-Black ganz unten rechts.

Manchmal weißt du einfach nicht, wofür du eine dich streifende Schlampe mehr verachten sollst. Dafür, dass sie den falschen Schwanz im Mund hatte, oder einfach nur aufgrund ihrer unverzeihlichen Dummheit. Wobei du dich natürlich auch beides selbst fragen könntest, aber lassen wir das, es nutzt ja nichts, heimlich im Lebensbuch zu radieren.

Ich hatte das jedenfalls alles durch und meine Lehrzeit nach wenigen Jahren in jeder Hinsicht beendet. Das Fragezeichen von „Am laufenden Band“ hatte sich zum Imperativ gewandelt und auch wenn der nette Tanner niemals eine echte Option gewesen wäre, so hatte ich doch begriffen, dass selbst der beste Heldenproll Schimanski einem Vokuhila Schnauz haushoch überlegen war.

Somit war es an der Zeit zu gehen.

Nur lieber schön bedächtig und langsam. Weißwaren-Fuzzis verfügen über mächtig Muckis. Und wer dir auf deiner Scheiß-Rosa-Herzchen-Verlobungsfeier eisglatt lächelnd „Keine Sau bekommt dich aus dieser Nummer wieder raus. Auch Pete nicht. Sei dir sicher“ ins Ohr flüsterte, wird auch ansonsten allzu forschen, eigendynamischen Ansätzen zu begegnen wissen.

Babette, eine durch Zauberhand in mein erwachsenes Leben geworfene Kollegin und recht schnell zur unverzichtbaren Freundin gemausert, kam der Schnauz auf der Abschussrampe gerade recht. Ihre mörderischen Rachegedanken zur Abwehr gefährlicher Weißwaren-Fuzzis waren legendär. Nach dramatischer Rauswerfaktion den Haustürgriff dauerhaft unter Strom zu setzen rangierte ganz weit vorne.

Ob es am fehlenden Starkstrom oder unzureichender technischer Ausrüstung scheiterte, kann ich nicht mehr sagen. Vermutlich waren wir einfach nur zu gut sozialisiert. An ausreichender Fantasie weiblicher Eigendynamik– bekanntlich Schnauz’ größte Sorge– mangelte es zumindest sicher nicht. Jedoch leider an der Umsetzung. Weshalb Schnauz und ich unseren verspäteten Honeymoon nach erster Trennung wildromantisch über zwei Tage zu Hause verbrachten. Er, eingestiegen durchs Altbau-Türenfenster als Überraschungsgast. Ausgestattet mit ganz fantastischen Ideen zur Wiederbelebung eingerosteter Liebschaften stand er mitten in der Nacht plötzlich vor meinem Bett und ich reagierte zugegeben wenig dynamisch.

Die Herren von der Polizei sollten das kleine Stelldichein, zusammen mit meiner Anzeige, später als „aus dem Ruder gelaufenen Paardisput“ zu den Akten legen. Vielleicht hatten sie uns aufgrund des bunt schillernden Bücherregals auch nur für ein durchgeknalltes Pärchen auf LSD-Trip gehalten. Oder mein kleiner Heldenanteil war einfach zu angepasst, um als akzeptable Gegenwehr durchzugehen. Man weiß es nicht. Und manchmal will man es auch gar nicht wissen. Irgendetwas von Schlampe und Nicht-besser-verdient wird schon dabei gewesen sein.

Natürlich musste der Koffer trotzdem vor die Tür. Nur ein klein wenig verzögert, im zweiten Anlauf. Für manche Dinge muss man noch mal tief Luft holen, dem furchtsamen inneren Kettenhund Mut zusprechen und ihn dann in den Keller sperren, bis man den nötigen Teufelsjob alleine erledigt hat. Und es ist ein Teufelsjob, wenn der dunkle Schatten, den du endlich loshaben willst, wie in einem schlechten Film einfach durch die geschlossene Tür geht. Als würde ihn nichts aufhalten können, nichts, was du abschließt und dir selbst als selbstverständliche Grenze erscheint.

Für mich waren abgeschlossene Türen eine klare Grenze. Für den Schnauz nicht.

Nicht das Erste, worin wir unterschiedliche Wahrnehmungen hatten. Zumindest ging er einfach durch, irgendeinen dummdreisten Kumpel an der Seite. Während ich anschließend etwas ramponiert auf dem beigen Cordsofa saß, eine Tränengaspistole in der einen, den Hörer in der anderen Hand. In geschlossenen Räumen nicht die allerbeste Wahl, aber zumindest eine, von der man ein wenig Eindruck verlangen konnte.

Letztendlich funktionierte einfach die panische Telefonkette über Babette und James Dean, der sich wiederum in gesunder Einschätzung eigener Durchsetzungsfähigkeit an den einzig Richtigen fürs schwere Gedeck gewandt hatte. Als die Kawasaki unten auf der Straße herandröhnte, wurde es oben schon ein wenig ruhiger und anschließend die Sache ein für alle Mal auch recht zügig geklärt.

Als Retter des Kapitels Schnauz kam also Pete unbezwingbar rückenbreit und wild entschlossen durch die Tür. Wodurch sich ab diesem Tag nicht nur eine begründete lebenslange Punk-/Vokuhila-Feindschaft manifestierte, sondern sich auch der böse Verlobungsfluch löste. Manchmal brauchst du einfach einen, der sich auch die Finger für dich schmutzig macht und keine großen Reden schwingt.

Nicht vermeiden ließ es sich allerdings, erst einmal die Stadt zu verlassen, um dem Schnauz Vergessen abzutrotzen. Freunde von Freunden wurden aus den hintersten Seiten von Notizbüchern herausgesucht, um dem Ganzen keine nachvollziehbare Logik zu geben. Was für ein Abenteuer.

Mein erster Anlaufpunkt war zum ersten Mal Berlin. Damals noch nicht einmal Hauptstadt. Am Checkpoint Charlie fuhren noch Busse los. Nach drüben, über die Transitstrecke. Man konnte sich gruseln bei der Wessifahrt durch Ossiland, über endlose graue Autobahnen und auf einen Muckefuck mit Butterkuchen, für Devisen, am vorgegebenen Rastplatz. Mehr war außerhalb des Busses nicht zu sehen, durfte auch nicht besucht werden. Und selbst wenn man brav wie eine Klosterschülerin mit gefalteten Händen im Schoß auf seinem Platz saß– sobald die riesigen Spiegel unter die Fahrzeugachsen gerollt wurden, fühlte man sich als Staatsfeind. Als ertappte Westspionin, durchgehend abgehört und jetzt an der Grenze für alle Zeiten nach drüben inhaftiert. Man hatte, mitten in einer blütenreinweißen Weste steckend, tatsächlich Angst vor Unfreiheit.

„Sie werden mir das jetzt noch nicht glauben können, aber diese Mauer wird fallen. In gar nicht allzu langer Zeit. Denken Sie an meine Worte“, sagte damals der Fahrer, als er uns Tagestouristen komplett, wohlbehalten und mit unseren zurückerhaltenen Pässen wieder auf der richtigen Seite ablieferte. Und wir dachten, der Typ spinnt. So viel grausames Grau in Grau, mit Stacheldraht umwickelt, bekommt die Welt nie wieder ausgebügelt.

Mit den Montagsdemos hatte mein junges Hirn damals nicht allzu viel zu tun. Dafür war ich viel zu sehr mit meiner eigenen Revolution beschäftigt. Aber er hat unbestritten recht behalten. Nur wenige Jahre später fiel glücklicherweise die Mauer zwischen Deutschland Ost und Deutschland West.

Letztendlich beschränkte sich mein kurzer erster Stopp in Berlin aber nur auf meinen konkreten Fluchtpunkt. Wie in einem Fassbinder-Film gab ich die junge Schygulla in Dunkelhaarig, als ich mein Köfferchen in einen fremden fünften Stock irgendwo in Kreuzberg schleppte. In eine kleine Notfallkammer, freundlich für mich freigeräumt, mit Matratze auf dem Boden und Blick über die Stadt aus der Dachluke. Klo auf dem Flur. Und Eierkohlen im Keller. Doch, Fassbinder hätte etwas daraus gemacht, ich bin mir sicher.

Recht schnell ging es weiter nach Frankfurt. Diesmal im eigenen alten Fiat Punto, mit angeschlitzten Reifen. Ein Abschiedsgeschenk vom Vokuhila Schnauz. Die Reifen. Nicht der Wagen selbst. Im Radio spielten sie damals Frank Zappas „Bobby Brown“ rauf und runter. Und ich grölte „you can kiss my heini“ inbrünstig mit, mit etwas anderer, sehr weiblicher Intention.

In Frankfurt sollte mich nicht nur ein hilfsbereiter, netter Fremder aufnehmen, er hatte sogar einen Aushilfsjob für mich parat. Meine Aufgabe war es, die Adressen von Tausenden hoffnungsvollen Gewinnspielteilnehmern für einen Flugkartenversender in die EDV einzugeben.

Hallo! Computer! Ende der 80er! Ich war dabei!

Noch heldenhafter kann ich lediglich mit der Auskunft dienen, dass Mathias Rust, ziemlich zeitgleich zu meiner kleinen Flucht, mit einer georderten Karte eben dieses Hauses mit seiner Cessna 172 auf dem Roten Platz in Moskau landete, was den Laden ganz schön in Aufregung brachte.

Hach ja, man lebt erschrocken in Geschichte.

Und schreibt, willentlich oder auch nicht, selber eine.

Nach ein paar Monaten war der Spuk vorbei und ich kehrte zurück nach Hause.

Um ein paar Erfahrungen reicher und mit ausreichend gestärkter Wut im Bauch, um mich vor dem Schnauz nicht mehr verstecken zu müssen.

Ich habe ihn tatsächlich erst viele Jahre später wiedergesehen. Er stand vor einem Bühneneingang und wollte mich scheitern sehen. Und verwarf seine Pläne nach meinem langen Blick in seinen. Gestochen durch die Pupillen, durch alle Hirnwindungen, durch die Schädeldecke hinten wieder raus. Da ist er wortlos gegangen. Vermutlich begreifend, dass ich nie wieder eine Straßenseite gewechselt oder auch nur einen Blick gesenkt habe, wenn mir menschliches Unkraut aus dunklen Ecken entgegenwucherte.

Denn zurück aus Frankfurt hatte ich beschlossen zu leben.

Die ganz, ganz große Dose aufzumachen.

Keiner würde mir jemals wieder verboten im Weg stehen. Niemand brauchte mehr Häkeldeckchen auf Kachelcouchtischen. Niemand brauchte überhaupt einen Couchtisch.

Und es war unbestritten an der Zeit, alles zu setzen!

Ich, die ich mich bisher von allen Fahrgeschäften dieser Welt ausschließlich in die harmlose Leopardenspur rückwärts gewagt hatte, verlangte nach Exzessen. Schluss mit dem faden, kleinen Kettenkarussell! Mich zog es viel, viel weiter.

Mit ganz viel Mut vielleicht sogar in die rasante Wilde Maus.

Wir waren keine Helden

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