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Die Ranch am Ende der Welt
F. R. David „Words“ (1982)

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Wir waren Helden. Das stand außer Frage.

Wir hatten lineare Algebra überlebt, auf totem Latein herumgekaut und den Großteil der Zeit überstanden, in der uns uralte Eltern uralte Lebensweisheiten zwischen die Synapsen kippten. Wir Mädchen hatten Brüste bekommen und die Jungs ihre ersten Mofas, manche sogar schon den abgelegten Kadett des großen Bruders. Viel mehr brauchst du nicht, um ein Held zu sein.

Vor allem aber wussten wir ganz genau, wo es langging.

Wie wir werden wollten.

Ach was! Wie wir schon längst waren!

Und dass wir dieses Leben niemals zur flachatmenden Existenz der Alten verrotten lassen würden. Mehr war nicht zu tun. Das lag uns im Blut, das konnte gar nicht schiefgehen.

Und bis es endgültig so weit war, hieß es einfach durchhalten. Und notwendige Weichen stellen.

Eine enorm wichtige Weichenstellanlage befand sich am Rande vom heimatlichen Arsch der Welt. Ganz außen, am Ende der Dorfstraße, nach der nur noch Felder und Wald folgten. Dort, wo im Mai stechend gelb der Raps blühte und im Winter karge Einsamkeit. Und dazwischen Pickel- und Pokerfaces, mitten drin in der Ranch. Dem coolsten Ort von allen. Dem einzigen zumindest, der mit stolzen Brüsten und ersten Mofas zu erreichen war.

Ein verlottertes Abbruchhaus, das der Bürgermeister heimlich vergessen und wir ebenso heimlich gefunden hatten. Und das irgendwann tatsächlich wieder bewirtschaftet wurde. Mit einem speckigen Tresen, abgewetzten Barhockern, billigen Eichenfurnier-Tischen, umrundet von Herzchenrücken-Holzstühlen mit ausgestellten Beinen. Die kleinen Fenster guckten hinter verräucherten Gardinen blind nach draußen, auf den winzigen Biergarten hinaus. Den wir selten nutzten, da Helden bekanntlich stets im Schummerlicht trinken. Neben der Musikbox, die ausgerechnet bei „Wild Thing“ oftmals hängen blieb und mit einem beherzten Fußtritt wieder auf Spur gebracht werden musste. Oder lässig an den raumfüllenden Billardtisch gelehnt, den Queue mit abgenudelter Spitze in der Hand. Aber immer frisch gekreidet und die schwarze Acht ins gegenüberliegende Loch, Profis wissen um das richtige Equipment.

Hinterm dunklen Tresen stand Emmi.

Das Leben hatte sie in undefinierbarem Alter noch einmal in eine Gastronomie gespuckt. Und deshalb stand sie da im fleckigen Landfrauenkittel, das lange, strähnige, graue Haar zu einem Dutt auf den Kopf gezwirbelt, die braunen Reste einer ehemals weißen Zahnlandschaft im Gesicht, und machte uns glücklich. Reichte Asbach-Cola in schlecht gespülten Gläsern herüber, mit faltigem Arm am ordentlich ausgehängten, wenn auch vergilbten Jugendschutzgesetz vorbei.

Für ganz Mutige hatte sie in der Rumpelküche stets etwas vorbereitet. Einen strammen Max, nie ausgehenden Kartoffelsalat aus der Fünf-Kilo-Schüssel oder eine Frikadelle auf die Hand, mit viel scharfem Senf direkt aus der Tube. Irgendwo stand immer ein Putzeimer mit grauem Wischwasser herum, der allerdings nur zum Auffeudeln umgekippter Getränke genutzt wurde. Hätte sich jemals ein Typ vom Gesundheitsamt an den Arsch der Welt verlaufen, er hätte unser aller Glück direkt an denselben bekommen und den Laden mit Mann und Maus dichtgemacht.

Aber hey! Wir hatten lineare Algebra überlebt, wir wussten genau, wo es langging, wie sollten uns die coolsten Salmonellen des Universums etwas anhaben können? Haltbar geräuchert von Lord und Peter Stuyvesant: erste Fluppen, zu Hause einzeln heimlich geklaut oder von denen mit erstem Lehrgeld zusammengeschnorrt. Das Leben meinte es gut mit uns. Außerdem war das ja erst der Beginn. Der Beginn von etwas unbeschreiblich Großem, das wir nur noch unterwegs einsammeln mussten. Wenn man uns denn endlich einmal ließe.

Jahrelang waren wir auf Rollschuhen die schmale Straße vor dem Haus abgefahren. Erst auf zittrigen Beinen, quer rüber von Gartenzaun zu Gartenzaun, die Arme weit nach vorne gestreckt, um die Entfernung zu verkürzen. Hatten uns die Blutkrusten in möglichst großen Stücken von den Knien gepult, wieder das Wässrige unter dem Schorf freigelegt, dann die frische zartrosa Haut hervorgeholt, lachend aufs gute Heilfleisch gespuckt.

Bis die gerollten Strecken länger wurden und aus der Geraden viele Kurven und Kreise. Agnetha und Anni-Frid im Ohr, „Dancing Queen“, nie sicher, ob wir nun lieber die starke Dunkle oder die süße Blonde werden wollten, aber ahnend, dass wir vermutlich wir selbst bleiben mussten, auch wenn davon nicht allzu viel zu erwarten war. Zumindest kein „Bravo“-Starschnitt, keine Kostüme mit Pailletten-Stirnband und metallen glänzenden Schlaghosen und schon recht keine zum Heulen schönen Songs, die sich irgendwer so wie wir Freitagabend um sechs aus der aktuellen Hot-Twenty-Songlist auf Kassetten archivierte.

Wie besessen. Das war die wichtigste Stunde der Woche gewesen, wenn wir zu Hause im Schneidersitz vor dem Radio saßen, ehrfürchtig Record- und Play-Tasten drückten und mit Glück nach 3:20 kein vernichtender Verkehrsfunk den Lieblingssong unterbrochen hatte. Den besten von allen, der jetzt immer wieder anzuhören war. Immer wieder aus dem gewaltig großen Kassettenplayer, der die lange Auffahrt hinuntergeschleppt und auf die kleine Mauer gestellt wurde. Und dann Kreise auf Rollschuhen, „Dancing Queen“ auf Teer mit Stopper unter der rechten Fußspitze.

Wir Mädchen hatten im Reitstall ein paar Dörfer weiter gemistet, was das Zeug hielt. In den Ferien frühmorgens in den vielen Boxen, Hauptsache, in den hohen Gummireitstiefeln stecken, schnaubende, warme Pferdekörper striegeln, wichtig an Weidezäunen hängen, ein Halfter lässig über die Schulter geworfen. Um dann die verdienten Hallen-Reitstunden einzusacken, jeden Sonnabend rauf aufs mannshohe Glück, das Versprechen von Freiheit und Abenteuer zwischen den Beinen, im Winter mit Frostbeulen an den Zehen, aber das war tatsächlich egal gewesen.

Von Sonntag bis Freitag mussten dafür wieder die Fahrräder herhalten. Wir hatten ihnen Zaumzeug und Zügel aus Gurten an den Lenker gebastelt, führten sie auf die weiten Wiesen hinterm Haus, fütterten Vorderräder, klopften beruhigend auf Gepäckträger und kratzten Pedalen die Hufe aus. Um dann wieder aufzusteigen, hoch in den Sattel, die Lenkerzügel in der Hand, wild durchs Dorf galoppierend. Imaginäre stolze Amazonen auf imaginierten wilden Hengsten, die Welt war magic, wenn wir sie dazu machten.

Inzwischen war das mit den Pferden längst vorbei. Das war lächerlicher Zeitvertreib gewesen, Zeitfüller, Zeitfresser, Zeit war genau das, was wir nun nicht mehr hatten. Jetzt mussten wir raus, jetzt hieß es endlich selbst galoppieren. Schließlich war die Kinderhaut längst aufgeplatzt und hing uns in Fetzen an den noch unentschiedenen Körpern. Die einen zu lang und schlaksig, die anderen gestaucht und pummelig und ganz und gar nicht Abba-like. Aber ganz ohne Frage standen wir jetzt am Beginn von etwas unbeschreiblich Großem, wenn man uns nur endlich laufen ließe.

Wer mit Mitte, Ende zwanzig hier noch herumhing, der hatte das mit den Weichen nicht richtig kapiert. Das war uns durchaus klar. Der würde bleiben und nach kurzem sinnlosem Aufbäumen das Leben der Alten fristen. Die Söhne der Bauern gehörten dazu, auch die Schwestern Sonja und Gabi. Beide schon um die zwanzig, die eine flach wie Schneewittchen, die andere unglaublich dick wie Frau Holle. Irgendwas mit den Drüsen. Oder mit eimerweise Chips. Beide mit Schlafzimmerblick unterm Dauerwellenpony und ständig im verdreckten Klo, um sich den fetten schwarzen Lidstrich oder die Lippen nachzuziehen. Oder einen der Kerle herein, auch das kam vor, dass die engen, schlecht gefliesten Räume das Stöhnen lernten.

Dass sich die dicke Gabi allerdings so lange auf dem Waschbecken ficken ließ, bis das olle Ding aus der Wand brach und sich Toni gemeinsam mit einem Wasserrohrbruch ergoss, das fand Emmi gar nicht witzig. Da wurde tatsächlich mal lautstark gezetert und großräumig gefeudelt, nachmittags um vier, als die meisten von uns noch an der Drehbank standen oder über Hausaufgaben gebeugt waren und Englischverben konjugierten. Oder auch, es ist nicht auszuschließen, frustriert mit F.R. David im Schmalztopf saßen und „Words don’t come easy“ in Endlosschleife seufzten.

Nein, nicht alle würden es schaffen.

Aber wir jungen Zugezogenen, die sich in Kürze zumindest zum miesen Abitur fighten würden, wir hatten eine Chance. Und diejenigen, die begriffen hatten, dass sie dem Arsch der Welt irgendwann selbst den Blanken zeigen mussten. Damit das endlich mal aufhörte mit den stagnierten Träumen und der wortlosen Ergebenheit. Mit all den nicht gelebten Existenzen, die das Wort Leben gar nicht verdienten. In all ihrer furchtbaren Langweiligkeit, ohne Schnaps und Sex und Liebe.

Und ohne Sehnen nach mehr und Meer, immer nur den stinkenden Kuhfladen auf der Hauptstraße ausweichend, ohne Aufbäumen den scheißgelben Raps idyllisch findend.

Als würde es nichts Eigenes geben, nichts, was dort draußen irgendwo steht, so groß wie ein gewaltig blinkender Neonpfeil am Firmament, der genau auf deine Bestimmung zeigt. Wenn man ihn halt suchen und sehen will und nicht schon längst so blind ist wie die verdreckten Fenster der Glücksranch am Ende der Stichstraße.

Die seltsamerweise wie in einem kleinen Bermudadreieck lag. Erziehungsberechtigt wusste man wohl von ihr, aber die Kraft zu endlosen Diskussionen schien allseitig durch Lern- und Schulaufforderungen verbraucht zu sein. Irgendwann musste so ein Teenager ja auch mal raus, an die frische Luft. Und weit kommen konnte er hier ja nicht. Aber vom besonderen Glück der alten Ranch geahnt, geahnt hatten sie es. Gottergeben, vermutlich.

Meine Oma hat sich damals verraten. Die es mit den erzieherischen Herausforderungen aus der zweiten Reihe noch etwas genauer nahm. Sie kam tatsächlich einmal kugelrund im Stechschritt die lange Straße heruntermarschiert. Meinen aufrechten Opa im Schlepptau, der in der braunen Einkaufstasche ein Nudelholz für alle denkbaren Eventualitäten am Mann trug.

Plötzlich standen sie da, mittendrin im schummrigen Gastraum. Wie echte Überzeugungstäter. Der Plan ihres Lebens: mich, in Abwesenheit meiner Eltern, pünktlich nach Hause zu bugsieren, trotz offensichtlicher Sorge um Leib und Leben. Opa mit der lederumwickelten Küchenwaffe in der Hand, Oma mit der kühnen Entschlossenheit eines ganzen Gebirgsjägerbataillons.

Die Ansage war klar: „dass nun Feierabend wäre, junge Dame! Und die Herren sicherlich Verständnis hätten für außergewöhnliche Mittel, an einem Tag wie diesem, an dem sie schließlich die ganze Verantwortung trügen.“– Was unter den halbstarken Jungs um mich herum für großes Gejohle und eine spontane Einladung auf einen Kurzen sorgte. In Grund und Boden wollte ich sinken.

Ja, an diesem Abend hätte mir meine Familie beinahe mein junges Heldenleben versaut.

Aus der Ranch abgeführt, von den eigenen Großeltern. Peinlicher geht’s nicht. Dass sie aber auch niemals, wirklich niemals verstanden, dass das alles hier keine Einbahnstraße war.

Sondern ein Highway.

Der erste wichtige Zubringer in ein wirklich großes Leben.

Was für Banausen!

Wir waren keine Helden

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