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Der Legionär spielt Schicksal
Frankie goes to Hollywood „Relax“ (1984)

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Es gibt Menschen, die sind offen wie ein Buch. Die bieten oder wanzen dir ihre Seiten an und du brauchst nur noch darin zu blättern oder im Stichwortverzeichnis nachzuschlagen. Und schon steht da alles fein säuberlich zusammen. Meist nicht weiter spannend und wenig zu entdecken.

Andere sind offen wie ein Weg, auf den sie dich einladen. Und den du dankbar zu Fuß begehen kannst. Schwungvoll auf der Geraden, interessant in den überraschenden Kurven. Man mag dann an den Kreuzungen verweilen und sich überlegen, warum da einer hierhin und nicht anders gegangen ist. Und an manchen Dornenhecken stehst du stumm und erkundest vielleicht ein geschütztes Geheimnis. Findest ein kleines Nest zwischen den Zweigen, ein Blütenmeer hinter der verdorrten Buschreihe oder eine versteckte Leiche unter den Wurzeln.

Und dann gibt es welche, die sind verrammelt wie eine Tür. An denen magst du dir vielleicht die Knöchel wundklopfen und Splitter unter die Nägel reißen. Aber in Wahrheit ziehen sie dich an wie ein schwarzes Loch. Und wenn du glaubst, sie geöffnet zu sehen, reicht es nur in einen unbegrenzten, dunklen Raum aus Nichts, in dem Unsagbarkeiten lauern. Die du im gar nicht wissen willst. Und im besten Fall auch nie erfährst. Aber wenn du dort schon einmal stehst, dann werden sie geflüstert. Und du bist dumm genug, es anzuhören.

Einer von denen, mit verrammelter Tür, saß eines Tages einfach in der Ranch. Groß und blond, vollbärtig und eher schweigsam zwischen den schmalen Lippen.

Die einen sagten, dass sie ihn schon einmal hier gesehen hätten. Den anderen war er fremd, wohl irgendwie angekommen im Einsiedlerhaus, draußen vor dem kleinen Ort. Fakt war, keiner wusste, wer er war. Unbestritten umgab ihn ein gewaltiges Geheimnis. Und dass es kein gutes sein konnte, das war allen klar.

Er trank viel. Und wurde davon nicht betrunken.

Sein Blick war kalt wie Stahl und es entging ihm einfach nichts.

Wir Teenager wurden vor ihm zu Schissern und selbst die alte Emmi servierte Frikadelle und Korn ein wenig leiser und war deutlich auf der Hut.

Nur Pete lehnte ein, zwei Tage lang entspannt am Tresen und besah ihn sich wortlos am Tisch in der Ecke. Um schließlich hinüberzuschlendern und ein Bier auszugeben.

Vielleicht hätte er das besser bleiben lassen sollen. Denn jeder, der für dich plötzlich einen Namen trägt, ist zwar besser einzuschätzen, aber er kommt dir auch näher als zuvor. Vielleicht so nahe, wie du es ansonsten niemals zugelassen hättest. Nicht wenn du gewusst hättest, dass in Teilen für immer etwas davon bleiben wird. Aber das weiß man ja nicht immer. Woher sollte man das schon wissen?

Ab diesem Tag und diesem Bier zumindest war der Bärtige der „Österreicher“ und trug für alle einen Namen. Nur diesen, keinen persönlicheren. Wer abenteuerlustiger war, nannte ihn „den Legionär“. Und auch das war richtig, denn er hatte seine Seele wirklich an die französische Elitegarde verkauft, die es damals nicht so genau nahm mit der Vergangenheit ihrer Söldner. Er hatte sich ihr verpflichtet. Für ein geregeltes Einkommen und, was wohl noch wichtiger war, für eine neue Identität.

Er kam frisch aus dem Tschad, hatte im libanesischen Bürgerkrieg geschlachtet und war es gewohnt, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Und nun saß er am anderen Ende der Welt, wippte auf einem Biergartenstuhl, die Sommersonne im Gesicht, und ließ uns Dorfwinzlinge um einen Wurf kleiner Kätzchen zittern, die ausgerechnet zwischen seinen Beinen herumtollten.

Hin und wieder nahm er eines hoch, streichelte es mit seinen großen, knorrigen Fingern und legte ihm dann die geschlossene Hand ums winzige Genick, um die Bewegung eines raschen Bruchs, eines Abreißens anzudeuten. Die Leichtigkeit des Tötens. Vielleicht auch die Lächerlichkeit des Seins. Was weiß ich. Eine beherrschte Kälte, die uns Junghelden mit panischen Blicken die Luft anhalten ließ. Worin vermutlich sein bevorzugtes Vergnügen lag.

Nur Pete hatte beim ersten Mal die Augen zu Schlitzen verengt und das Schwert gezogen, das in Anwesenheit des Österreichers stets unsichtbar an seiner Hüfte hing.

„Wage es nicht. Das wäre keine gute Idee“, hatte er geraunt und graue Kälte gegen blaue gehalten. So lange, bis wir fast vor Aufregung erstickt waren und der Österreicher, grölend lachend, das Kätzchen lebendig ein paar Meter weiter warf.

Ja, wir gruselten uns vor ihm, und das nicht unberechtigt. Aber wir wurden ihn auch einfach nicht mehr los. Eigentlich tat er nichts, er schlenderte immer nur mitten hinein in unser kleines Domizil und sein mieses Schicksal streifte wie ein riesiger schwarzer Umhang hinter seinem Rücken über den schmutzigen Boden. Wirbelte Staub auf, der nach Tod und Teufel roch. Wir waren immer bemüht, auszuweichen, damit er uns nur nicht berühren konnte. Und gleichzeitig war er so faszinierend wie ein Horrorstreifen, von dem du den Blick nicht wenden kannst.

Eines Tages beschloss er, seines zu teilen und mit uns Schicksal zu spielen.

Vermutlich nur aus einer windigen Laune heraus. Ein wenig Furchtpokern gegen die verdammte Langeweile.

Er nahm Manfreds Hand und später Bernds, zwei harmlose, sechzehnjährige Jungs aus dem Nachbarort. Aus ganz normalen Familien, einen ganz normalen Lebensweg erwartend. Der eine klein und drahtig, gesund gebräunt, immer gut drauf, mit einem Scherz auf den Lippen. Er wollte zur Bahn. Warum auch immer. Gleise verlegen. Kein Mensch will freiwillig Gleise verlegen. Aber Bernd erschien das gut und von fünfzig Jahren Brav-Dasselbe-Tun fehlte uns doch allen auch nur der Hauch einer Vorstellung.

Manfred hatte beim Griff in den Sack voll Sonnenschein weniger gut abgeschnitten. Ein wenig schlaksig, etwas unbeholfen und eher ernst. Seinen Witzen fehlte öfter mal die Pointe und seinem Gesicht das Einnehmende, das vieles leichter macht, selbst wenn du zum Arsch werden solltest. Der wusste noch nichts. Vielleicht irgendwas mit Motoren. Vielleicht auch nicht.

Der Österreicher nahm Manfreds Hand, mit der Handfläche nach oben. Ganz unspektakulär. Nicht wie ein mystisches Kräuterweibchen, das mit spitzen Fingern feine Linien nachfährt. Eher grob. Warf einen Blick dort hinein und dann dem Jungen ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen und einem unmerklichen Kopfschütteln, bevor er sie einfach wieder losließ und nach Bernds sonnengebräunter griff.

Die Stimmung um die drei herum entwickelte sich zu verhaltener Spannung. Nicht dass irgendwer das Spielchen ernst genommen hätte, aber interessant wird es eben doch, sobald das Schicksal ins Spiel kommt.

Der Österreicher setzte ein breites Grinsen auf, gab Bernd einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange und tönte amüsiert: „Immer schön weitermachen. Das wird was. Vor allem mit den Weibern.“

Was für eine formidable Zukunftseinschätzung.

Aber da stand auch noch Manfred unsicher in der Gegend herum, der sich wohl auch gerne etwas Vielversprechendes bezüglich Weibern abgeholt hätte. Den ließ der Österreicher stehen, beschloss alle fragenden Blicke kurz angebunden mit „Da sehe ich nichts“ und einem Griff zum Bier.

Man sah sich an. Allgemeines Schulterzucken. Muss man ja akzeptieren, wenn die Seher nichts mehr sehen. Und irgendwie und sowieso war ja alles nur ein Spaß, auch wenn sich ein gewisser Ernst eingeschlichen hatte. Man weiß ja nie, worauf die alten Götter wetten.

Als Manfred und Bernd sich getrollt hatten, saßen nur noch Pete und ich am Tisch. Und der Legionär, der Steinchen Richtung Kätzchen schnippte.

„So, komm, tu raus“, warf Pete zum Bärtigen hinüber.

„Der kleine Dunkle?“

„Yes.“

„Es würde ihm nichts helfen, wenn ich ihm sage, er solle auf sein Bein aufpassen. Das hat er nicht selber in Hand.“ Sprach er und amüsierte sich laut lachend über den eigenen flachen Wortwitz.

„Und weiter?“

„Du meinst euch zwei Hübschen?“

„Wenn du dir Klareres zutraust?“

„Wenn du damit leben kannst?“

Ich sagte gar nichts. Ich saß nur brav im Geweihgefecht zweier Alphahirsche und hoffte auf einen gnädigen Ausgang. Jetzt hier, heute und morgen, was immer auch aus der Schicksalswundertüte springen wollte. Aber feige ging nicht. Feige ging nie. Nicht damals, nicht unter Helden.

„Dann mal her mit den Patschehändchen! Oder soll ich es euch direkt von der Stirn ablesen?“, grölte der Legionär.

Zwei Hände schoben sich dann über den Tisch. Die eine groß und cool, abwartend, aus reiner Neugierde. Die andere zart und unsicher. Beide bereit, sich ein Leben abzuholen. Und mehr, wenn es sein musste.

Eines Tages war der Legionär dann einfach verschwunden. So unverhofft, wie er gekommen war. Und hatte nichts außer ein paar Sätzen zurückgelassen. Die man nicht allzu ernst nehmen musste - was droht und plappert Wahnsinn täglich in der Welt herum. Wir dachten sogar lange, wir hätten sie vergessen.

Aber Pete feierte ein halbes Leben später, längst einen Tod überlebt, zweimal hintereinander seinen neunundvierzigsten Geburtstag. Weil der Legionär sagte, er würde seinen fünfzigsten nicht erleben. Und ich liebe meine späte Tochter und habe niemals geheiratet, obwohl ich von zwei Männern zu unterschiedlichen Zeiten einen Antrag bekam. Irgendetwas hat mich immer zurückgehalten, dem bösen Teil des Schicksalsspruchs von damals eine Chance zu geben. Vielleicht, wenn wir niemals erfahren hätten, was aus Manfred geworden war. Vielleicht wäre das gut gewesen. Aber das erfuhren wir schon in den 90ern.

Er hatte recht bald sein rechtes Bein verloren. Es war ihm bei einem Mopedunfall einfach weggerissen worden. Und es hieß, er habe danach mit dem Saufen begonnen. Vermutlich ist es mit den Weibern niemals richtig angelaufen.

Was will man machen?

Nicht nur die Besten, einfach irgendwer stirbt manchmal jung.

Wir waren keine Helden

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