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Vorwort des Herausgebers
ОглавлениеMan sollte meinen, dass Schlaflosigkeit im 21. Jahrhundert kein ernstes Problem mehr darstellen dürfte. Chemische Präparate, die unsere Gehirnaktivitäten ruhigstellen und uns in einen mehr oder minder natürlichen Schlafzustand versetzen, sind in jeder Apotheke für wenig Geld zu haben. Darüber hinaus bieten Fernsehen und Internet zu jeder Tages- und Nachtzeit die Möglichkeit, uns von trüben Gedanken abzulenken. Aber so erleichternd es für den Augenblick sein mag — die Ursachen der Schlaflosigkeit lassen sich durch chemisches Ruhigstellen oder elektronisches Ablenken nicht beseitigen. Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass diese Mittel gerade in den schweren Zeiten des Lebens, wenn man sie am meisten brauchen könnte, versagen. Oder sie erfordern eine solch häufige Wiederholung und Steigerung der Dosis, dass ihre Nebenwirkungen schlimmer werden als das, was sie bekämpfen sollen.
Carl Hilty rät in diesem Buch, das vor über hundert Jahren erstmals erschienen ist, zu einem anderen Weg: Statt die sorgenvollen Gedanken, die den Schlaf verhindern, künstlich abzuschalten oder zu überlagern (was zu dieser Zeit ohnehin nur eingeschränkt möglich war), empfiehlt er, sie durch geeignete Lektüre auf konstruktive Bahnen zu lenken. Damit gewinnt er der Schlaflosigkeit eine gute Seite ab und verweist zugleich auf das einzige Mittel, das die Ursachen dieses Übels dauerhaft beseitigen kann. Und weil Hilty zu seiner Zeit keinen geeigneten Lesestoff für diesen Zweck empfehlen konnte, schaffte er ihn kurzerhand selbst — für jeden Tag des Jahres, oder genauer: für jede Nacht einen einzelnen Gedanken oder eine kurze Gedankenkette als Anregung zu eigenem Nachdenken. Eine höhere Dosis in Form längerer Aufsätze hielt er für schädlich.
Die Gedanken, die Hilty für dieses Buch niedergeschrieben hat, sind nach seinen eigenen Worten auf “Menschen in schweren Zeiten” berechnet. Aber sie lassen sich auch in den leichteren Lebensphasen mit Gewinn lesen, wenn einem der Sinn nach ernsthafterer Lektüre steht. Man darf nur nicht, wozu die Kürze der Texte verleitet, zu schnell oder zu viel auf einmal lesen. Hilty liefert keine eingängigen Sinnsprüche, die jeder sofort bejaht, nur um sie bei nächster Gelegenheit wieder zu missachten. Man kann Hiltys Gedanken nicht einfach zustimmen, dazu sind sie zu ungewöhnlich oder zu herausfordernd. Aber man kann sie auch nicht einfach ablehnen, dafür spürt man darin zuviel Lebenserfahrung und Klugheit. So bleibt nur die Möglichkeit, sich mit ihnen zu befassen, sie “nach” zu denken, im Lichte eigener Erfahrungen zu prüfen. Ob man Hilty dann am Ende beipflichtet, spielt dabei keine Rolle, solange man sich auf seine Fragen einlässt.
Übrigens ist in Hiltys Texten meist mehr enthalten, als man beim ersten Lesen und Nachdenken bemerken und nachvollziehen kann. Die “Schlaflosen Nächte” verlieren deshalb auch nach mehrmaligem Lesen nicht an Wert und eignen sich gut als dauerhafter Begleiter durchs Leben.
Martin Wandelt