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IV.
ОглавлениеOb es schließlich Menschen gibt, die in diesem Sinne eine besondere Heilgabe besitzen, das ist eine andere Frage. Die Heilige Schrift spricht nicht dagegen, sondern dafür. Unzweifelhaft ist es aber nicht die größte Gabe und auch keine alleinstehende, für sich allein denkbare und vorhandene. Die Heilung kommt dabei wahrscheinlich auf keine andere Weise zustande als mittels der kräftigen Anregung eines kranken Geistes durch einen ganz gesunden und die Herstellung einer Verbindung zwischen beiden, die nicht erklärt, jedoch wohl gespürt werden kann. Jedenfalls wendet sich diese Art von Heilung ganz an den inneren Menschen des Kranken. Er wird zu neuem Leben erweckt und kräftig gemacht oder von den vorhandenen Hindernissen dieses inneren Lebens befreit. Zu lernen ist sie nicht, wie eine neue amerikanische Schule es annimmt, sondern es ist eine Gabe und als solche kann sie auch verlorengehen, wenn sie nicht mit Weisheit und mit völliger Treue verwaltet wird. Es gehört wohl vor allen Dingen ein eigener sehr fester Glaube dazu, der auf den Kranken einwirken, teilweise sogar in ihn übergehen muss, und eine gänzliche Freiheit von Ehrsucht oder Eitelkeit, wie sie bei solchen unzünftigen Krankenheilern nicht immer anzutreffen ist. Jede auch noch so geringe Spur dieser Eigenschaften bildet jedenfalls einen triftigen Grund, diesen Menschen zu misstrauen; denn sie heilen ja niemals aus eigener, sondern aus einer fremden Kraft, die sich nicht täuschen lässt — ganz im Gegensatz zu den meist sehr leichtgläubigen Kranken, die auf allen Wegen und allzu eifrig Hilfe suchen.
Am allerwenigsten aber lässt sich eine solche Heilgabe durch ein Amt übertragen oder in besonderen Familien vererben. Es ist eine ganz individuelle Gnadengabe Gottes, die sich auch nicht an bestimmte Heilstätten oder sogenannte »Reichs-Gottes-Orte« bindet. Das gehört vielmehr schon in den Bereich des Aberglaubens, der auf diesem Gebiet stets bereit ist, die Stelle des Glaubens einzunehmen, sobald es ihm an völliger Reinheit und Freiheit von allem »Menschlichen« zu fehlen beginnt. Dann geht es gewöhnlich mit raschen Schritten abwärts, selbst bei guten Anfängen. Solche Beispiele sind zu allen Zeiten vorhanden gewesen und werden in unserer nächsten Zukunft wieder häufiger werden, da wir uns in einer großen Übergangs- und Entwicklungszeit sowohl der Theologie als auch der Medizin, und darin ganz besonders der Psychiatrie und der Nervenheilkunde, befinden.
Von diesen Gesichtspunkten gehen die hier wiedergegebenen Gedanken für schlaflose Nächte aus. Die Einteilung in Tage eines Jahres ist eine ganz zufällige und unverbindliche, bloß dazu da, um eine natürliche Begrenzung zu gewinnen und eine Häufung von zu viel auf einmal zu vermeiden.
Es sind keine Gedanken dabei, die nicht auf eigenem Nachdenken und eigener Erfahrung im Leben beruhen. Sie müssen aber in schlaflosen Nächten, oder doch vorzugsweise in schwerer Zeit gelesen werden; dafür sind sie am geeignetsten.
Grund muss erst gegraben werden,
Eh’ man Türme bauen mag,
Und das Korn muss in die Erden,
Vorher kommt kein Erntetag;
Wir erfahren mit den Jahren, Was wir denen, die uns fragen, Von der Hoffnung Zions sagen. (Zinzendorf)
»Wer rein nicht sein Gewissen nennen darf,«
Sprach er, »wen eigne Schmach, wen fremde drücket,
Dem schmeckt wohl deine Rede streng und scharf.
Dennoch verkünde ganz und unzerstücket
Was du gesehn, von jeder Schminke frei,
Und lass nur den sich kratzen, den es jücket.
Ob schwer dein Wort beim ersten Kosten sei,
Doch Nahrung hinterlässt’s zu kräft’germ Leben,
Ist des Gerichts Verdauung erst vorbei.«
(Dante, Paradiso 17)