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I.
ОглавлениеSchlaflosigkeit kann aus vielerlei Ursachen entstehen. Meistens kommt sie von Krankheit oder von Sorgen und unruhigen Gedanken, mitunter aber auch von zu viel Ruhe, zu bequemer Lebensart, Unmäßigkeit aller Art oder vom Schlafen am Tag zu unrechter Zeit. Wir wissen überhaupt nicht, was der Schlaf eigentlich ist, und man kommt bei dieser Frage über praktisch ziemlich unfruchtbare Untersuchungen und Auseinandersetzungen kaum hinaus. Nur soviel wissen wir mit Sicherheit aus Erfahrung, dass er in geeignetem Maße zur Erhaltung der Gesundheit notwendig ist und bei Erkrankungen, besonders denen des Nervensystems, das allerbeste, unentbehrlichste Heilmittel darstellt; ferner dass er zur Nachtzeit, und zwar vor Mitternacht beginnend und in einer ununterbrochenen Dauer von wenigstens sechs bis acht Stunden am wirksamsten ist und dass die künstlichen Schlafmittel wenn irgend möglich beiseitezulassen sind.
Die Schlaflosigkeit ist immer ein Übel und nach Möglichkeit zu beseitigen, außer wenn sie aus übermächtiger innerer Freudigkeit entsteht (dann gehört sie zu den größten Freuden des Lebens) oder wenn sie offenbar dazu gesendet ist, dem Menschen eine stille, ungestörte Zeit zum Nachdenken über sein Leben zu verschaffen, die ihm sonst fehlen mag. In diesem Fall ist sie eine nicht gering zu schätzende Gelegenheit, die größten Fortschritte des inneren Lebens zu machen und sich in den Besitz der besten Lebensgüter zu setzen; unendlich viele Menschen werden die entscheidenden Einsichten und Entschlüsse ihres Lebens in schlaflosen Nächten gefunden haben.
Es kann auf keinen Fall schaden, die Sache unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Ein israelischer Weiser, der Rabbi Chanina, Sohn Cachinais, sagt: »Wer nachts wach ist und wer allein auf dem Wege ist und dabei sein Herz dem Müßigen einräumt, der versündigt sich an seiner Seele«, das heißt, er verliert die beste, nicht so leicht wiederkehrende Gelegenheit, einen großen geistigen Gewinn zu erlangen, und setzt sich überdies den Gefahren aus, die unnütze Gedanken leicht in ihrem Gefolge haben.
Man wird also immer gut daran tun, auch die schlaflosen Nächte als eine »Gabe Gottes« anzusehen, die benutzt und nicht ohne weiteres bekämpft werden soll. Mit anderen Worten ist es ratsam sich zu fragen, ob die Schlaflosigkeit nicht einen Zweck haben könne und solle, und dann auf die leise Stimme zu hören, die in solchen Stunden vernehmlicher als sonst spricht, alle anderen Gedanken aber abzuweisen. Dieses »Warum kommt mir diese schlaflose Nacht?« kann ein großer Segen sein, über den schon das Buch Hiob — offenbar aus tiefster Erfahrung heraus — spricht. Es ist auch möglich, dass die Schlaflosigkeit aufhört, wenn ihr Zweck gefunden ist, weil mit diesem Finden eine Beruhigung der Seele eintritt, die auf die körperlichen Organe und besonders die Nerven zurückwirkt.
Hierbei ist noch Folgendes zu beachten: Es ist nicht gut, sich bei Schlaflosigkeit seinen Gedanken willenlos hinzugeben, gewissermaßen sein Schifflein von ihren Wogen treiben zu lassen. Vielmehr muss man den Gedanken befehlen, wohin sie sich wenden sollen. Man soll daher nicht mit sich selbst reden, was gewöhnlich nur zu vermehrter Unruhe führt, sondern mit Gott, bei dem stets eine feste Ruhe zu finden ist, oder — wenn man dies nicht vermag — mit liebenden Menschen, wenn sie vorhanden sind, vor allem mit einer treuen Frau, deren Wort oder Hand oft eine große Beruhigung mit sich führt.
Mangelt es an einer solchen Hilfe, ist ein gutes Buch von Wert, aber eher nur eine kurze Stelle, die zum Denken anregt, den Geist von anderen quälenden Gedanken ablenkt oder ihn auf die rechten Trostquellen verweist. Das Beste in dieser Richtung bleiben stets die Psalmen des Alten Testaments, die Worte Christi im Neuen, das Buch Hiob und einige unserer protestantischen Kirchenlieder, deren schönste (wenn auch nicht alle) zum Beispiel in dem Gesangbuch der Brüdergemeine enthalten sind. Darin besteht auch der Zweck dieser Schrift, solche einzelnen Gedanken zu veranlassen und eine Anregung zu geben, die man nicht immer selber finden kann. Daher sind nur Gedanken aufgenommen, die für schlaflose Nächte passen und meistens sogar selbst die Frucht solcher Nächte sind. Es ist das Zweckmäßigste, einen einzigen guten Gedanken zu erfassen und darüber möglichst ruhig nachzudenken. Es dürfen aber solche Gedanken bei aller Anregungsfähigkeit dennoch nichts Fantastisches enthalten, das nicht am Tag auf seine Realität und Nüchternheit nachgeprüft werden könnte. Leider haben wir sehr wenige Bücher dieser Art, und selbst die bekanntesten Gebete, die sie einigermaßen vertreten sollten, sind nicht immer ganz der Situation entsprechend. Sogar das »Vaterunser« hat nicht in allen Fällen des Leidens die unmittelbare Kraft wie ein anderes Gebet, das ebenso gut ein »Gebet des Herrn« ist und das mitunter besser zu dem Moment passt und immer Wirkung hat.
Das alles müssen natürlich auch diejenigen beachten, die Kranke pflegen oder mit ihnen wachen, wobei sie oft keinen rechten Begriff von ihrer ganzen Aufgabe besitzen. Sie müssten den schlaflos Liegenden aus seinen Gedanken herausbringen, sachte ablenken von unnützen Erinnerungen an die Vergangenheit oder von quälenden Zukunftssorgen, und sie müssten seinem Geist möglichst helfen, sich zu großen und freudigen Ideen aufzuschwingen, bei denen man gerne wacht.
Die Freudigkeit ist es ja vornehmlich, die der jetzigen Generation fehlt, selbst ansonsten vortrefflichen Leuten. Doch es ist schwer, ihnen den wirklichen Grund mit dem richtigen Namen zu bezeichnen, weil sie es immer übel aufzunehmen pflegen. Es ist stets ein Stück Eigenliebe und Eigenwillen, das sie daran hindert, oder Müßiggang, sei er vornehmer oder geringer Art. Vollendeter Gottesgehorsam ist die Bedingung der Freudigkeit, und an dieser Freudigkeit lässt sich jener Gehorsam untrüglich von jedermann erkennen.
Eine solche Freudigkeit, die mit dem deutlichen Gefühl der Gnade und Nähe Gottes verbunden ist, kann auch ein schwer leidender und schlafloser Mensch oft plötzlich empfinden, und zwar in so hohem Maße, dass ihm darüber alles Leiden und namentlich alle Schlaflosigkeit gleichgültig wird und er ein ganz anderes Leben in sich spürt, das mit dem gewöhnlichen, erkrankten, kaum noch im Zusammenhang steht. Wer es nie erfahren hat, wird es kaum glauben, aber viele Zeugen leben dafür. Und selbst die Medizin der Zukunft wird es nicht vermeiden können, diese freudigen Stimmungen für ihre Zwecke zu Hilfe zu rufen und dem »psychologischen Moment« in der Krankheit eine mindestens ebenso große Mitwirkung bei der Heilung beizumessen wie den mechanischen Heilmitteln, die bloß auf das Körperliche im Menschen berechnet sind.
Bereits heute ist die Medizin dahin gelangt, dass sie in der Kräftigung des gesamten Organismus, in der Erhöhung seiner Lebenskraft, die Voraussetzung erblickt zur Wiederherstellung einzelner angegriffener Organe, zum Beispiel der Lungen. Sie muss nun auch die Stärkung des inneren Menschen zu Hilfe nehmen und kommt dann vielleicht noch dazu, an die Möglichkeit dessen zu glauben, was ein moderner Arzt die »Begnadigung« nennt, nämlich das Eingreifen einer höheren Macht in den Verlauf der Krankheit. Dann wäre die edle Heilkunst dem geisttötenden Materialismus entronnen, der ihr seit einem halben Jahrhundert das Vertrauen der leidenden Menschheit in zunehmendem Maße entzogen hat.