Читать книгу Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1 - Carl Wilckens - Страница 10

Das Tagebuch

Оглавление

35. Blätterfall 1713, Lohntag

Knapp drei Viertel sind vergangen, seit mir ein Junge im Hafen von Treedsgow den Brief von M-Punkt mitsamt Emilys Schleife gab. Ohne dieses blaue Stück Stoff hätte ich mich vermutlich längst in Sankt Laplace eingewiesen. Ich nehme es jeden Abend aus dem Umschlag und halte es in der Faust wie einen Rettungsring, der mich davor bewahrt, in dem Wahnsinn zu versinken, zu dem mein Leben geworden ist.

Ich verbringe viele Stunden im Kellerraum 21. Ich schlafe wenig und schwänze Vorlesungen. Meide meine Freunde und Professoren – sogar Ed. Die einzigen Menschen, die mir derzeit Gesellschaft leisten, sind die tote Emily in der Gefrierkammer und die jüngste Marionette von M-Punkt. Sie mochte einst ein Hilfsprofessor gewesen sein. Ich glaube, ich habe ihn einmal auf den Fluren der Universität gesehen. Nun dient er als Medium für meinen unbekannten Helfer.

Rankine und Glenn – beide ehemalige Marionetten von M-Punkt – sind nun in Sankt Laplace. Das gibt mir eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was der Zugriff in den Köpfen der Menschen anstellt. Ich komme aber nicht umhin zu bemerken, dass M-Punkts jüngste Marionette tot zu sein scheint. Sie stinkt. Seit einiger Zeit sammeln sich Fliegen in ihren Augen- und Mundwinkeln, und sie hat eine Schürfwunde auf dem Handrücken, die nicht verheilt.

Das hält sie aber nicht davon ab, sich zu bewegen. Wie an unsichtbaren Fäden schwebt sie neben mir, während ich arbeite. Sagt mir, was ich tun muss, um Emily ins Leben zurückzuholen. Offenbar ist dazu irgendein alchemistisches Zauberwerk nötig, das ich bis vor Kurzem noch belächelt hätte. Ich habe eine Menge Kram aus den Laboren der Universität entwendet. Außerdem besorge ich ganz spezielle Zutaten: Käfer von unter der Rinde eines Baumes, Moos von einem Grabstein eines bestimmten Jahres oder bei Mondlicht gefangene Feenwürmchen. Eine der wohl wichtigsten Zutaten, die mir die Marionette überreicht hatte, ist ein Fläschchen, das einige wenige Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit enthält.

»Emilys Körper verdirbt«, sagte die Marionette heute zu mir. Ihre Miene war wie immer ausdruckslos, doch ich hatte das Gefühl, dass M-Punkt nicht zufrieden mit meiner Arbeit war.

»Aber sie ist eingefroren«, entgegnete ich erschrocken und warf einen flüchtigen Blick zur Gefrierkammer.

»Die Temperatur ist nicht niedrig genug. Wir müssen sie mit Leben füllen.«

»Mit Leben füllen?«, wiederholte ich atemlos. »Dann ist es schon so weit?« Ich wagte nicht, zu hoffen.

»Wir lassen vorläufig einen Enafagen in ihren Leib einziehen.« Ich runzelte die Stirn und nahm mir vor, das Wort nachzuschlagen. Die Marionette schwebte zu dem Schrank, den ich in den vergangenen Vierteln mit Zutaten gefüllt hatte, und öffnete ungelenk die Türen. Ich vermied es, dem Blick meines Ebenbildes in den Spiegeln an der Innenseite der Schranktüren zu begegnen. Seit ich Emilys tränenförmige Edelsteine in meinen Besitz gebracht habe, werde ich das Gefühl nicht los, dass die Spiegelbilder mich beobachten.

Die Marionette wies mich an, ein bestimmtes Zeichen auf den Boden zu malen. Währenddessen erklärte sie mir, dass sie einen Folkloren mit einer Dunklen-Mana-Aktivität von knapp zweihundert Leukipp beschwören würde – fast schon ein Alb. Keine Ahnung, was sie damit meinte. Anschließend sagte sie etwas in einer fremden Sprache – vielleicht eine Zauberformel? Schwarzer Rauch trat aus dem Spiegel und sammelte sich wabernd unter der Decke.

»Öffne die Gefrierkammer«, wies die Marionette mich an. Widerwillig gehorchte ich. Als hätte der Rauch nur darauf gewartet, zog er in die Kammer ein und verschwand in den Poren von Emilys gefrorener Haut. Ich hielt den Atem an, während ich ihr in die starren Augen sah. Würde sie gleich nach Luft japsen wie jemand, der beinahe ertrunken wäre? Würde sich ihr Blick mit Leben füllen, und sie meinen Namen rufen?

Nichts dergleichen geschah. Emilys Iriden, leblos und kalt, richteten sich auf mich. Ihre Bewegungen waren eckig, als blockierten Eiskristalle ihre Gelenke, als sie eine Hand hob. Von Panik ergriffen, schlug ich den Deckel zu und verriegelte ihn.

W. D. Walker

Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1

Подняться наверх