Читать книгу Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1 - Carl Wilckens - Страница 9

End

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Das Ticken einer Schrankuhr weckte mich. Meine Orientierung kehrte mit einigen Sekunden Verzögerung zu mir zurück: Ich war auf dem Sofa in Waterstones Wohnzimmer eingeschlafen, als ich die nächste Seite von Williams Tagebuch hatte lesen wollen.

Die Tagebuchseite!

Ich öffnete die Augen und setzte mich auf. Tastete meinen Oberkörper ab und blickte mich hektisch um. Die Seite war nirgends zu sehen. Ich stand auf und riss die Sofapolster herunter. Nichts. Jemand musste sie mir abgenommen haben; Waterstone oder vielleicht Rocío. Gerade wollte ich nach ihnen rufen, da bemerkte ich die Stille. Keine Schritte tönten vom oberen Stockwerk. Keine gedämpften Stimmen sickerten durch die Wände. Nur das Ticken der Schrankuhr war zu hören. War ich allein? Unmöglich. Rocío und Jasper durften das Haus nicht verlassen. Sie waren ungebetene Gäste im Universitätsviertel und würden im Fall Professor Keens, der von Nikandros ermordet worden war, vermutlich verdächtigt werden. Vielleicht waren sie mit Waterstone durch den Zugang im Keller des Professors in die Kanalisation hinabgestiegen, um die Bibliothek von Ad Etupiae zu erkunden.

Dennoch … diese Stille war unheimlich. Auch von draußen hörte ich nichts; weder das Geklapper eines vorbeifahrenden Fuhrwerks, noch das Lachen der Kinder, die auf der Straße spielten – eine Klangszene, die so selbstverständlich war, dass man sich ihrer erst bewusst wird, wenn sie verstummt.

Mit steifen Schritten ging ich zu einem der Fenster. Die Sonne stand tief. Ihr Licht fiel rotgolden ins Zimmer, als stünde ein verfrühter Herbsttag an. Oder endete er? Noch orientierungslos vom Schlaf konnte ich nicht sagen, ob die Sonne auf- oder unterging.

Tick … tack …

Ich warf der Schrankuhr einen wütenden Blick zu. Wie sie die Stille in gleichgroße Scheiben schnitt, machte sie mich noch nervöser als die Lautlosigkeit selbst. Ich verließ Waterstones Wohnzimmer, eilte durch den Flur und trat hinaus auf die Straße. Die Stille rührte nicht von Waterstones vier Wänden her, wie ich gehofft hatte. Sie schwebte auch über den Häusern der Stadt wie die Präsenz einer unsichtbaren, gottähnlichen Wesenheit. Kein Vogel zwitscherte, kein Windhauch rührte sich. Dafür hörte ich nach wie vor das Ticken der Schrankuhr.

Ich schickte den Blick die Straße hinauf und hinab. Niemand. Das Licht der tiefstehenden Sonne zeichnete lange Schatten auf das Pflaster. Am Ende der Straße bemerkte ich einen Gegenstand, der aus dem Boden ragte. Ich ging darauf zu und erkannte, dass es ein Schwert war, das in den Fugen des Straßenpflasters steckte. Ich zog es heraus und betrachtete es. Es war eine brutale Waffe aus schwarzglänzendem Stahl. Im goldenen Licht der Sonne wirkte das Material beinahe durchsichtig. Der Knauf des Schwertes war der Totenschädel irgendeines kleinen, menschenähnlichen Lebewesens, seine Schneide gezackt und seine Klinge spitz zulaufend und so breit und lang, dass es die Waffe unhandlich machte; zum Kämpfen ungeeignet. Sie schien eher dafür geschaffen worden zu sein, auf möglichst schmerzhafte und blutige Weise zu töten. Ich drehte sie im Licht der Sonne und bemerkte entlang der Hohlkehle qualvoll verzogene Gesichter knapp unterhalb der dunklen Oberfläche der Klinge; fast so, als banne die Waffe die Seelen ihrer Opfer in den Stahl, aus dem sie geschmiedet worden war.

Tick … tack …

Ich schüttelte den Kopf, wie um das Ticken zu verscheuchen, als wäre es eine lästige Mücke, die um mein Ohr herumschwirrte.

Tick … tack …

Ich schlug mir aufs Ohr …

Tick … tack …

Schlug mir gegen die Schläfe, als hoffte ich, dass Ticken aus meinem Kopf werfen zu können.

Tick … tack …

Wutentbrannt hob ich das Schwert und ließ es senkrecht herabfahren, wie um einen unsichtbaren Feind der Länge nach zu spalten. Die Klinge traf auf die Straße und zerschmetterte das Pflaster. Ein Riss tat sich im Boden auf. Schnell wie ein Blitz weitete er sich aus und verschwand unter der nächsten Hauswand. Eine Sekunde lang schien die Welt den Atem anzuhalten. Dann brach das Haus knirschend entzwei. Die beiden Hälften drifteten voneinander ab, und Gesteinsbrocken regneten in den Riss im Boden, während er immer breiter wurde und meine Beine spreizte. Ich rettete mich auf die rechte Seite, unfähig, den Blick von dem gespaltenen Gebäude abzuwenden. Trümmer und Möbelstücke fielen aus den aufklaffenden Haushälften in die Tiefe.

Weitere Häuser brachen entzwei, während der Riss sich verzweigte. Das Donnern einstürzender Gebäude und ein Chor panischer Schreie aus den Kehlen der Menschen in ganz Treedsgow lösten die Stille ab.

Die Welt zerbrach!

Plötzlich waren die Straßen voller rennender Gestalten. Einige der Segmente, die einst der sichere Boden unter unseren Füßen gewesen waren, sackten herab. Menschen fielen schreiend in die Tiefe. Weitere Gebäude entlang des ersten und größten Risses stürzten ein und gaben den Blick aufs Meer frei. Ein gewaltiger länglicher Strudel ließ ahnen, dass auch der Meeresboden auseinanderbrach.

»Godric? Godric!«

Ich fuhr aus dem Schlaf. Meine Hand fand den Griff der Machete. Ein Traum! Es war bloß ein Traum gewesen! Ich war zurück in Waterstones Wohnzimmer. Der Professor, Rocío und Jasper standen vor mir. Die Alchemistin musterte mich besorgt, der ehemalige Honor aus Izzian belustigt, Waterstone mit gemischten Gefühlen.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Rocío.

Ich setzte mich auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und fuhr mir durchs Haar, während ich darauf wartete, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Nach einer Weile tastete ich meine Kleidung ab und fand in der Brusttasche meines Hemdes, wonach ich gesucht hatte: eine halb aufgerauchte Schachtel Zigaretten.

»Ich wette, er hat von mir geträumt«, sagte Jasper. In seinen blauen Augen blitzte der Schalk. »So, wie der um sich geschlagen hat …«

»Ich habe es eigentlich nicht so gerne, wenn hier geraucht wird«, bemerkte Waterstone spitz, als ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Ich überhörte ihn, zog ein Streichholz über die Tischplatte seines schicken Wohnzimmertischchens aus Akazienholz und steckte die Zigarette an. Waterstone rümpfte die Nase, während ich mein Gesicht in den Rauch des ersten Zuges hüllte. Erst jetzt schlug mein Herz in normalem Tempo weiter.

»Hat jemand …«, setzte ich an, als ich die nächste Seite von Williams Tagebuch im Spalt zwischen den Sofapolstern entdeckte. Ich zog sie heraus und fing an zu lesen:

35. Blätterfall 1713, Lohntag …

»Ich bin eigentlich hier, um mich mit euch zu unterhalten«, sagte Waterstone bissig. Ich hob den Blick und nahm die Zigarette aus dem Mund.

»Was gibt’s?«

»Wir müssen ein paar Regeln klarstellen«, sagte der Professor händeringend. »Ihr seid erst seit zwei Nächten hier und habt schon die Hälfte der Vorräte aufgebraucht.« Seit zwei Nächten? Ich musste über vierundzwanzig Stunden geschlafen haben.

»Die Hälfte der Vorräte?«, fragte ich und sah zu Jasper. Ich hatte nichts davon gegessen, wie mein knurrender Magen mich in diesem Moment erinnerte, und ich glaubte kaum, dass Rocío die Übeltäterin war.

Der Izzianer hob abwehrend die Hände. »Sieh mich nicht so an. Ich esse normal viel.« Ich hob die Brauen. »Na schön, vielleicht ein bisschen mehr als gewöhnlich. Verzeiht mir, wenn mich der Genuss des Essens etwas überwältigt, nachdem ich viertellang auf der anderen Seite ohne habe durchstehen müssen. Um dich zu retten, wohlgemerkt«, fügte er hinzu. Wenn er glaubte, dass ich mich ihm gegenüber deshalb verpflichtet fühlte, irrte er sich gründlich.

»Aber musst du dich unbedingt an meinem guten Wein vergreifen?«, fuhr Waterstone ihn an. Sein perfekt gerader Schnurrbart erzitterte vor Wut. »Wenn du dich unbedingt be­saufen musst, dann schicke ich June los, damit sie dir Fusel aus dem Hafen besorgt.«

»Meinetwegen«, erwiderte Jasper gelangweilt.

»Und das hier«, fuhr Waterstone, dem der Zorn offenbar Mut verlieh, an mich gewandt fort und pflückte mir die Zigarette aus den Fingern, »… ist ebenfalls nicht erwünscht.« Kurz schien es, als wolle er sie auf seinem Akazientischchen ausdrücken. Dann besann er sich eines Besseren und ging zum Fenster, riss es auf und schnippte sie auf die Straße.

Ich unterdrückte den Impuls, mir die nächste Zigarette anzustecken, und hob in beschwichtigender Geste die Hände. »Einverstanden«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Ich rauche nicht hier drin, und Jasper hält sich zurück.«

»Sagt wer?«, fragte der Izzianer. Ich erwiderte seinen he­rausfordernden Blick mit kühler Miene. Es war offensichtlich, wo­rauf er hinauswollte: Er hatte seine Schuld mir gegenüber beglichen. Ich hatte ihm nichts mehr zu sagen.

»Der Mann, dessen Gastfreundschaft du in Anspruch nimmst«, erwiderte ich. »Andernfalls geh und erkläre dem Konstabler, was du im Universitätsviertel zu suchen hast. Wenn sie dich nicht einbuchten, schmeißen sie dich raus. Damon wird sich freuen, dich wiederzusehen.« Bevor ich Jaspers Leben verschont hatte, war er einer von Damons Gardisten gewesen. Der Banditenanführer war einer der wenigen, die sein Gesicht kannten, das er zu vermummen gepflegt hatte.

Jasper lächelte breit. »War nur Spaß, Mann.«

Ich musterte ihn aufmerksam. Die Zeit hinter den Spiegeln hatte ihn verändert. Das war ein anderer Jasper, der die Ideen von Ehre, die ihm ein Orden aus Izzian – die Honoren – einst beigebracht hatte, in den schwarzen Nebeln der Spiegelwelt zurückgelassen zu haben schien. Wunderte mich das? Auch ich hatte eine Menge von meinem früheren Ich im Unterrumpf zurückgelassen.

»Wäre damit alles geklärt?«, fragte ich an Waterstone gewandt.

»Nicht ganz«, sagte Waterstone und rückte seine Brille zurecht. »Als du da auf dem Sofa gelegen und um dich geschlagen hast, hat Rocío dich Godric genannt. Was hat das zu bedeuten?« Ich warf der Alchemistin einen Blick zu, die ihn mit schuldbewusster Miene erwiderte.

»Na, was schon: Albert Walker ist nicht mein richtiger Name«, sagte ich geradeheraus.

»Wozu der Deckname? Wer bist du wirklich?«

»Kannst du es dir nicht denken?« Waterstone erwiderte meinen Blick mit ratloser Miene. »Du hast von der Swimming Island gehört, oder?«

»Godric«, murmelte Waterstone und seine Augen weiteten sich. »Du … du bist … Godric End.« Er wurde bleich und wich zurück. »Bei Zuris, ich gewähre einem der meist gesuchten Verbrecher Dustriens in meinem Haus Zuflucht. Dem Mörder von Baron Ashbee!«

»Wusstest du, dass manche mich deswegen einen Helden nennen?«, fragte ich, erhob mich und ging an Watestone vorbei aus dem Zimmer, nicht ohne ihm einen Klaps auf die Schulter zu geben. »Gewöhn dich lieber dran. Ich geh kurz vor die Tür.«

Draußen steckte ich mir zunächst eine neue Zigarette an. An die Hauswand neben der Eingangstür zu Waterstones Wohnung gelehnt, Lungen und Rachen erfüllt mit dem Qualm der herbsten Tabaksorte, die Treedsgow zu bieten hatte, fand ich endlich die Ruhe, Williams nächste Tagebuchseite zu lesen.

Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1

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