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Q

Als Jüngster in der Familie hatte Malcolm wahrscheinlich meistens seinen Willen bekommen, aber am Ende hatte doch immer seine Schwester Nicola gewonnen, sogar noch nach ihrem Tod.

Er stellte sich vor, wie sie mit einem breiten Ich-hab’s-doch-gesagt-Grinsen vom Himmel auf sie herabschaute, als er in die gekieste Auffahrt zu ihrem alten Haus einbog. Nach all den Versuchen, die sie unternommen hatte, ihn dazu zu bringen, wieder nach Skye zurückzukommen, und nach all seinen Ausreden, weshalb es gerade nicht der richtige Zeitpunkt dafür sei, hätte er niemals gedacht, dass es am Ende die Worte gesetzlicher Vormund sein würden, die ihn zur Rückkehr bewegten.

Es war ja gar nicht so, dass es auf Skye nicht schön war – er konnte ohne Weiteres zugeben, dass ihm der weite, sich ständig verändernde Himmel, die unberührte Natur und das blaue Wasser gefielen. Die Landschaft gehörte zu den wenigen Dingen, die ihn dazu bringen konnten, poetisch zu werden, aber mit jeder atemberaubenden Aussicht kamen auch Dutzende schlimmer Erinnerungen zurück, mit denen er lieber nichts mehr zu tun haben wollte.

Malcolm parkte seinen Wagen hinter dem roten VW Polo, der schon auf der Auffahrt stand, und ging im schwindenden Tageslicht zur Eingangstür der zweigeschossigen Kate. Dabei fiel ihm auf, dass die Farbe von den Fensterläden abblätterte und Platten auf dem Weg zur Tür abgesackt waren. Wenn das Wetter besser wurde, musste er sich unbedingt darum kümmern. Mit Nachdruck steckte er den Schlüssel ins Schloss der Eingangstür und betrat den mit dunklem Holz getäfelten Windfang, wo er seine Jacke an einen Haken hängte.

Der winzige Raum sollte eigentlich als eine Art Schleuse dienen, durch die verhindert wurde, dass die kalte Luft nicht ins Haus und die Wärme nicht so schnell nach draußen zog, aber in erster Linie war er eine Art Stolperfalle, weil überall Schuhe, Jacken und Rucksäcke herumflogen. Malcolm nahm sich einen Moment Zeit, den Schuhhaufen ein bisschen zu sortieren, bevor er in die Diele weiterging.

Dort war es dunkel, aber von der Stelle, an der er stand, konnte er im Wohnzimmer sowohl die Couch mit den vielen Kissen als auch den Esszimmertisch sehen, auf dem immer noch die Zeitung vom Morgen lag. Von seiner Nichte keine Spur.

„Kylee? Bist du zu Hause?“

Als Antwort kam aus der Küche ein panisches Kratzen, begleitet von leisem Gebimmel, als ein wuscheliges Fellknäuel von einem Hund mit freudiger Begeisterung in die Diele gesprungen kam. Malcolm bückte sich, nahm Kylees Cavalier King Charles Spaniel auf den Arm, und im nächsten Moment schleckte ihm auch schon die rosa Hundezunge durchs ganze Gesicht.

„Nicht lecken, Ainsley“, befahl Malcolm streng, aber er brachte es nicht übers Herz, seinen Befehl auch durchzusetzen. Man konnte den winzigen Wuschel ja kaum als Hund bezeichnen, aber der Spaniel hatte ihn vom ersten Moment an angehimmelt und damit erreicht, dass er nachts nicht nur in Kylees, sondern auch in seinem Bett schlief.

Er setzte den Hund wieder auf den Boden, wo das Tier noch eine Weile um seine Füße herumtänzelte und ihn dann mit schräg gelegtem Kopf anschaute, so als wartete er auf einen Befehl.

„Wo ist denn unser Mädchen?“

Malcolm sah auf seine Uhr, und dann erinnerte er sich plötzlich daran, dass ja Mittwoch war. Mittwochs holte Kylees beste Freundin Lane sie immer zur Probe des gälischen Chores der Highschool ab. Kylee hatte sich für diese Aktivität weniger aus Liebe zu ihrem kulturellen Erbe entschieden, als dass die Chorproben bei den wenigen Möglichkeiten, die es auf der Insel gab, einem richtigen Gesangsunterricht am nächsten kamen.

Auf dem Weg in die Küche holte er sein Handy hervor und schrieb Kylee: Kommst du bald nach Hause? Das Essen ist in einer Stunde fertig. Wenn man denn eine Tiefkühllasagne, die in einem altmodischen Backofen erhitzt wurde, als Essen bezeichnen wollte.

An den Tagen, an denen Kylee mit Kochen an der Reihe war, aßen sie gut, und zwar dank Nicolas gründlicher Anleitung auf diesem Gebiet. Wenn er an der Reihe war, na ja … sie verhungerten nicht. Mehr gab es dazu eigentlich nicht zu sagen.

Nachdem er den Timer des Ofens auf 60 Minuten gestellt hatte, wusste er in dem stillen Haus nicht so recht, wohin mit sich, also nahm er ein Sweatshirt und ging hinaus in den holprigen, eher feldartigen Garten hinter dem Haus, wo an dem alten Schaukelgestell von Kylee, an dem schon lange nicht mehr geschaukelt wurde, ein Boxsack hing. Das Gestell war kaum stabil genug, um der Wucht der Schläge standzuhalten, aber Malcolm hatte bis jetzt einfach keine Zeit gehabt, ein neues zu bauen oder das vorhandene zu verstärken.

Erst als er schon vor dem Boxsack stand, fiel ihm ein, dass er auf dem Weg nach draußen die Bandagen und die Boxhandschuhe vergessen hatte. Aber egal. Er hatte ja sowieso nicht vor, eine richtige Trainingseinheit zu absolvieren, sondern nur ein lockeres Training, um die verspannten Muskeln zu lockern und den anhaltenden Frust über die neue Frau in seinem Leben abzubauen, die offenbar wild entschlossen war, ihm selbiges zu vermiesen.

Er ging in die Grundstellung und umkreiste den Boxsack. Dabei übte er immer wieder einzelne Jabs oder Eins-zwei-Kombinationen, und zwar so, dass er die Kunststoffhülle des Boxsacks immer nur beinahe berührte; so als ob er die Distanz zu einem Gegner taxierte. Er hatte diese Aufwärmübung in den vergangenen 20 Jahren so oft gemacht, dass er dabei gar nicht mehr nachzudenken brauchte, doch er zwang sich dazu, sich zu konzentrieren und seinen Blick zu fokussieren.

Man entwickelte so leicht schlechte Gewohnheiten, wenn man nichts zum Trainieren hatte als einen schweren Sandsack, Gewohnheiten, die er sich mühsam wieder würde abtrainieren müssen, falls er jemals wieder in einen Boxring steigen sollte. Das war allerdings eher unwahrscheinlich, denn auf Skye gab es keinen einzigen richtigen Boxclub.

Seinen letzten offiziellen Boxkampf hatte er als Teenager bestritten, obwohl er auch in Baltimore noch mehrmals pro Woche in einem Fitnessstudio trainiert hatte. Es war eine gute Möglichkeit gewesen, die Verspannungen zu lösen, die sich einstellten, wenn er den ganzen Tag vor dem Bildschirm saß. Und seine Freundin hatte absolut nichts gegen die körperlichen Auswirkungen seines Trainings gehabt.

„Wenn man dich so sieht, kann man sich kaum vorstellen, dass du ein Computerfreak bist“, hatte sie ihn geneckt.

Beim Gedanken an Teresa legte er mehr Wucht in seinen nächsten Schlag, als er eigentlich beabsichtigt hatte, und als er dabei den Boxsack wirklich traf, zuckte er zusammen. Er brauchte die Blutspur auf dem Boxsack gar nicht zu sehen, um zu wissen, dass er sich an dem harten, starren Kunststoffbezug eine Platzwunde an einem der Handknöchel zugezogen hatte. Er ließ die Deckung sinken, trat zurück und atmete tief durch, während sein Puls sich wieder beruhigte. Im Grunde vermisste er Teresa gar nicht, jedenfalls nicht so wie früher einmal.

Malcolm angelte sein Handy aus der Hosentasche, um nachzuschauen, ob Kylee schon geantwortet hatte – was nicht der Fall war –, und ging dann zurück in die Küche, wo er seine verletzte Hand eine Weile unter fließendem Wasser kühlte. Er würde die Verletzung trotzdem nicht verbergen können. Eigentlich passte er immer gut auf seine Hände auf, weil er den ganzen Tag mit Hotelgästen zu tun hatte. Jetzt sah es so aus, als wäre er an einer Kneipenschlägerei beteiligt gewesen. Für Serena war das sicher eine perfekte Beanstandung, wenn sie nach einer suchte.

Der Signalton des Backofentimers ging genau in dem Moment los, als er hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Malcolm griff nach einem zusammengefalteten Handtuch, das auf der Arbeitsplatte lag, zog die Backofentür auf und verbrannte sich trotz mehrerer Schichten Handtuch die Finger. Er jonglierte die Aluform zur Arbeitsfläche, nahm dann zwei Teller aus dem Schrank und begrüßte seine Nichte mit den Worten: „Genau rechtzeitig. Das Essen ist fertig.“

Kylees Rucksack landete auf dem Wohnzimmerfußboden, und kurz darauf erschien sie in der Küchentür. „Was gibt’s denn heute?“

„Ich habe Lasagne gemacht“, antwortete er, nahm jeweils eine ordentliche Portion aus der Form und legte sie auf die Teller.

„Du meinst, du hast Lasagne aufgebacken.“

„Wo ist denn da der Unterschied? Hier, ich nehme die Teller, wenn du Besteck mitbringst.“

Kylee kramte in der Schublade nach Gabeln und Messern und folgte ihm dann ins Esszimmer, wo er die Teller auf den Tisch stellte.

„Du könntest an den Abenden, an denen du mit Kochen an der Reihe bist, wirklich auch mal was Grünes auf den Tisch bringen“, sagte sie, während sie sich setzte.

„Wieso denn? Tomaten sind doch auch Gemüse.“

Kylee verdrehte die Augen, lächelte allerdings dabei. Er schaute zu, wie sie das Messer und die Gabel ordentlich neben ihrem Teller anordnete und war wieder einmal verblüfft darüber, wie ähnlich sie ihrer Mutter sah. Dunkelblondes Haar, grüne Augen, groß, schlanke Figur – und sogar ihre Eigenarten waren gleich. Zum Beispiel die Angewohnheit, sich eine Haarsträhne hinters Ohr zu streichen und die Art, wie sie ihre Serviette faltete und glatt strich. Einmal mehr verspürte er schmerzliche Reue darüber, dass er zugelassen hatte, dass seine schweren Kindheitserinnerungen die Beziehung zu seiner Schwester so nachhaltig beeinträchtigt hatten. Jetzt hier mit Kylee zusammenzuleben, war fast so etwas wie eine zweite Chance.

„Tischgebet?“, forderte sie ihn auf.

„Ach, bete du doch heute mal.“

Sie senkte den Kopf, sprach ein schnelles Gebet und fing dann an zu essen.

„Mensch, Onkel Malcolm, da machst du einfach eine Lasagne warm“, sagte sie mit gespielter Empörung.

„Ich gebe mir Mühe, dich zufriedenzustellen“, sagte er schmunzelnd. „Am Freitagabend taue ich vielleicht sogar einen Shepherd’s Pie auf“, fügte er dann noch hinzu.

„Na, vielen Dank auch“, entgegnete Kylee und zog ein Gesicht.

„Wie war denn dein Tag?“

Es war die obligatorische Elternfrage, auf die stets das obligatorische Teenie-Achselzucken folgte, und das war auch jetzt nicht anders, obwohl noch ein überaus erhellendes „Okay“ folgte.

„Nur okay?“

„Lane hat sich entschieden, in London auf die Uni zu gehen.“

Ach so, jetzt verstand er. Kylee hatte sich an einer Reihe von Unis in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten beworben, aber bisher hatte sie nur eine Zusage erhalten. Keine der Unis, die sie sich ausgesucht hatte, war in London, und ausgerechnet dorthin würde ihre beste Freundin jetzt gehen. Er lenkte das Gespräch lieber fort von dem Freundschaftsdrama zu einem Thema, bei dem er ihr wirklich helfen konnte.

„Auf welche Bescheide wartest du denn noch?“, fragte er.

„Berkelye, UCLA und das Royal Conservatoire“, antwortete sie, legte ihre Gabel hin und fragte dann verzagt: „Und was ist, wenn ich gar keinen Platz an einer guten Uni bekomme?“

„Das passiert nicht“, antwortete er. Auch das gehörte zum Drehbuch.

„Und was, wenn doch?“

„Das weiß ich auch nicht, Kylee. Damit beschäftigen wir uns, wenn es dazu kommen sollte. Aber denk dran“, er stupste ihre Hand über den Tisch hinweg an, „du bist eine fantastische Sängerin. Ich glaube an dich. Du kannst ja auch immer noch erst auf ein Junior College in Amerika gehen und dann im zweiten Jahr aufs College wechseln. In den USA gibt es viele Gesangscoachs.“ Und wenn er seinen alten Job bei der Forschungseinrichtung an der Johns Hopkins wiederbekäme, würde er so ein Coaching sogar bezahlen können.

„Vielleicht“, sagte sie zweifelnd.

Er konnte gut nachvollziehen, wie sie sich fühlte. Als er in ihrem Alter gewesen war, hatte er auch unbedingt aus Glasgow weggehen wollen, um sein eigenes Leben zu leben. Skye war zwar nicht dasselbe, aber für ein so talentiertes Mädchen mit dem Traum, eine berühmte Singer-Songwriterin zu werden, musste es sich hoffnungslos klein und eng anfühlen.

„Vielleicht studiere ich einfach irgendetwas Langweiliges wie Chemie oder Physik“, murmelte sie.

„Mach bloß keinen Quatsch, junge Dame. Mit so einem Schock würde mein altes Herz gar nicht mehr fertig werden.“

Das quittierte sie allerdings nur mit einem kaum merklichen Lächeln, das auch gleich wieder erlosch, während sie mit ihrer Gabel herumspielte. Diesen Blick kannte er. Er bedeutete, dass jetzt gleich etwas kommen würde, was ihm nicht gefiel.

„Kann ich dich was fragen?“

Am liebsten hätte er Nein gesagt, um das Thema zu vermeiden, aber weil das sicher keine gute Methode gewesen wäre und er ein Vorbild sein sollte, nickte er zögerlich.

„Erinnerst du dich noch an das Festival in Glasgow, von dem ich dir erzählt habe?“

„Mmm-hmm.“

Kylee nagte an ihrer Unterlippe und brachte den Rest dann in einer Art Schwall heraus. „Lane hat tatsächlich noch Tickets ergattert, und ihre Eltern erlauben ihr hinzufahren, wenn ich mitkomme. Das Schuljahr ist dann zu Ende, und es war wirklich schwer, die Tickets …“

„Moment mal. Du willst im Ernst, dass ich zwei siebzehnjährige Mädchen zu einem fünf Autostunden entfernten Festival fahren lasse, das mindestens genauso bekannt für seinen Drogenkonsum ist wie für seine Musik?“

„Ich weiß ja, aber Lane und ich machen so was nicht. Ich hatte gehofft, dass du es dir wenigstens überlegen würdest.“

„Ich überlege es mir“, sagte er daraufhin, aber sie machte ein Gesicht, als hätte er Nein gesagt. Und vielleicht würde er das auch tun, denn er war vor zehn Jahren selbst auf diesem Festival gewesen, und schon damals hatte es die Grenze zwischen unschuldigem Spaß und unmoralischen Ausschweifungen zumindest geschrammt. Er konnte sich gut vorstellen, dass es im Laufe der vergangenen Jahre wahrscheinlich eher schlimmer als besser geworden war. Jedenfalls war es kein Ort, an den er seine behütete, unerfahrene Nichte und ihre noch unerfahrenere Freundin alleine hinfahren lassen wollte, besonders auch, weil Kylee wie mindestens 22 aussah und bereits die Aufmerksamkeit von Männern auf sich zog – und zwar die falsche Art von Aufmerksamkeit.

Wenn es um seine Nichte ging, war für ihn allerdings keine Art von Aufmerksamkeit von Männern die richtige.

Kylee aß schweigend zu Ende und legte dann das Besteck auf ihren leeren Teller. „Kann ich aufstehen? Ich möchte noch einen Song zu Ende schreiben.“

„Klar. Ich bin sowieso mit Spülen an der Reihe.“

Als Malcolm ein paar Minuten später Wasser in die Spüle laufen ließ, hörte er leise Gitarrenklänge aus Kylees Zimmer. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte er sich auf eine schwere Zeit gefasst gemacht, und es hatte auch tatsächlich reichlich Tränen und eine ablehnende Grundhaltung gegeben, aber meistens hatte Kylee beides unter Kontrolle, so wie auch an diesem Abend.

Das führte er darauf zurück, dass sie damals sofort ihre gesamte Energie in ihre Musik und das Schreiben von Songs gesteckt hatte. Er fragte sich allerdings ständig, ob das nicht vielleicht nur ihre Art war, die unausweichliche Trauer hinauszuzögern, die dann wahrscheinlich eines Tages auf völlig unberechenbare Weise hervorbrechen würde.

Im Unterschied zu ihm machte sie sich große Sorgen um ihre Zukunft. Aber er schätzte, auch ohne etwas von Musik zu verstehen, ihre Entschlossenheit, den Weg als Musikerin zu gehen. Kylee hatte zwar beide Eltern verloren, aber er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um zu verhindern, dass ihr auch noch ihre Träume verloren gingen.

Sternennächte an der Küste

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