Читать книгу Sternennächte an der Küste - Carla Laureano - Страница 8
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Q
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ließ Serena die Kinder bei Muriel und fuhr auf der Halbinsel Sleat nach Armadale. Als sie den Umzug nach Skye geplant hatte, war ihr klar gewesen, dass sie nicht die ganze Zeit bei Muriel würden wohnen können. Ihre Tante hätte sie bestimmt gerne bei sich aufgenommen, aber weil Max nachts ständig wach wurde und Tante Muriel einen sehr leichten Schlaf hatte, war es besser, ein Ferienhaus zu mieten. Leider waren die meisten Unterkünfte, in denen sie bis August bleiben konnten, schon ausgebucht, und es war nur noch dieses kleine Häuschen etwa acht Kilometer entfernt von Armadale Castle, am äußersten Zipfel der Halbinsel, frei.
Langsam fuhr sie die Straße entlang, die vom starken Dauerregen nass glänzte. Ganz allmählich setzte sich Grün gegen die Grau- und Brauntöne des Winters durch, ein sicheres Zeichen, dass es bald Frühling werden würde. Insgeheim hatte sie zwar schon immer den Winter auf Skye geliebt, wenn die urige Schönheit der Insel durch einen feinen Schneeüberzug noch hervorgehoben wurde, aber der langsame Wechsel der Jahreszeiten brachte auch eine ganz besonders passende Verheißung für sie mit sich: die Verheißung auf einen Neuanfang, neues Leben nach einem langen, kalten Winter.
Serena hielt sich an die Wegbeschreibung, die sie auf die Rückseite eines Briefumschlags gekritzelt hatte und hielt Ausschau nach einem Baum mit einem abgebrochenen Ast, der direkt an der ansonsten nicht weiter beschilderten Abzweigung auf die lange Zufahrt zu dem Haus stehen sollte. Wegen der tiefen Furchen auf dem Weg wurde sie heftig durchgeschüttelt und hatte richtig Angst, dass der Wagen aufsetzen könnte. An beiden Seiten der Straße sammelte sich das Regenwasser in ausgewaschenen Rinnen und füllte die Schlaglöcher, die das Wintereis hinterlassen hatte, nachdem es durch den leichten Nieselregen zerbrochen war.
Sie folgte dem kurvigen Weg auf eine Anhöhe hinauf und hielt vor einem winzigen Cottage an. Von außen sah das Haus wirklich vielversprechend aus: weiß gekalkte Steinmauern und seitlich vom Haus ein eingezäunter Garten mit einer Picknickbank auf einer gekiesten Fläche. Der Eigentümer hatte sich eindeutig Mühe gegeben, das Haus zu einer einladenden Ferienunterkunft für Urlauber zu gestalten.
Sie stieg aus dem Wagen und schloss den Reißverschluss ihrer Wachsjacke gegen eine plötzliche eisige Windbö. Trotz all ihrer romantischen Frühlingsgedanken war der Wind immer noch so schneidend kalt wie im Winter.
In diesem Moment ging die Tür des Cottages auf und ein älterer Herr in einer Cordjacke und mit einer Wollmütze auf dem Kopf tauchte in der Tür auf. „Mrs Stewart?“
„Mr Brown?“
Er nickte, bedeutete ihr mit einer Geste einzutreten und sagte: „Na, dann kommen Sie mal herein und schauen Sie es sich an.“
Offenbar war er kein Freund von Smalltalk. Serena quetschte sich an ihm vorbei in das winzige Cottage und schaute sich um. Es war sehr schlicht, aber gepflegt eingerichtet mit Flickenteppichen, Möbeln aus Pinienholz und bot gerade genügend Platz für zwei bis drei Personen. Mehr als ausreichend also für ihren zeitlich begrenzten Aufenthalt.
„Es gibt ein Schlafzimmer am Ende des Ganges und der Dachboden ist zu einer Art Studio ausgebaut“, sagte er.
Sie nickte und schaute sich um, wie viel Platz ihr zur Verfügung stand. „Wo sind denn die Heizkörper?“, fragte sie.
„Es gibt keine, meine Liebe.“
„Wie bitte?“
Er machte mit dem Kopf eine Geste – offenbar als eine Aufforderung, ihm zu folgen – und führte sie zu einem Holzherd in der kleinen Küche. Es gab keine Heizkörper, sondern nur den alten Holzherd zum Heizen und Kochen, und sie wusste nicht einmal, ob sie den überhaupt bedienen konnte.
„Hinter dem Haus ist Holz aufgestapelt. Mehr als genug für den ganzen Sommer.“
Ihre Hoffnung schwand genauso schnell, wie sie in ihr aufgekeimt war. Eine elektrische Kochplatte und einen Minibackofen zum Kochen hätte sie besorgen können, aber die Nächte auf Skye waren auch im Sommer kühl. Und selbst wenn sie bereit gewesen wäre, den Ofen ständig einzuheizen, war ihr bei der Vorstellung des heißen, gusseisernen Ofens in der Nähe eines neugierigen Dreijährigen höchst unwohl.
„Das muss ich mir erst überlegen“, sagte sie langsam. „Ich habe nicht gewusst, dass das hier die einzige Wärmequelle ist.“
Der Vermieter zuckte daraufhin nur mit den Achseln und führte sie wieder nach draußen, wo inzwischen aus dem leichten Nieseln richtiger Regen geworden war. Sie setzte ihre Kapuze auf, gab Mr Brown zum Abschied die Hand und rannte zurück ins warme Auto.
Das war also ein Flop gewesen. Sie hatte wirklich keine hohen Ansprüche, aber eine zuverlässige Heizung ohne offenes Feuer gehörte dazu. Was sollte sie jetzt tun?
Sie musste sich auf jeden Fall eine andere Unterkunft suchen, dabei war es schon schwierig genug gewesen, im Einzugsgebiet der Schule dieses Cottage zu finden. Selbst wenn sie ein bezahlbares Haus zur Miete fände, musste es außerdem noch innerhalb der Grenzen des Schulbezirks liegen, damit ihr Plan, Em nach der Schule allein mit dem Schulbus nach Hause fahren zu lassen, aufging.
Eigentlich hatte Serena vorgehabt, von der Cottagebesichtigung aus direkt zum Hotel zu fahren, aber stattdessen fuhr sie nun den ganzen Weg über die Halbinsel Sleat zurück und dann noch einmal fast eine Stunde weiter nach Portree zu ihrem Lieblingscafé. Dort gab es nicht nur hervorragenden Caffè Latte, sondern auch kostenloses W-Lan und ein schwarzes Brett, auf dem Einheimische oft freie Zimmer oder Ferienhäuser aushängen. Dass sie nicht sofort ins Hotel gefahren war, hatte nichts mit einer Vermeidungsstrategie zu tun und mit dem flattrigen Gefühl im Bauch, wenn sie an Malcolm Blake dachte, sondern damit, dass es für sie im Moment oberste Priorität hatte, eine Unterkunft zu finden.
Doch nachdem sie erst das schwarze Brett vergeblich abgesucht und dann noch eine Stunde im Internet recherchiert hatte, musste sich Serena eingestehen, dass es wohl aussichtslos war, etwas zu finden. Sogar die Reservierungen des Hotels war sie durchgegangen, um nachzuschauen, ob eines der zu ihm gehörigen Ferienhäuser noch frei war. Doch die waren natürlich für den gesamten Sommer bis September ausgebucht. Aber vielleicht war das ja auch ganz gut so. Denn direkt vor Ort zu sein, hätte ihren Plan, dem Hotelmanager möglichst aus dem Weg zu gehen, erheblich erschwert.
Sie stand jetzt auf und ging wieder hinaus zu ihrem Wagen. Währenddessen wappnete sie sich innerlich dafür, ihm ganz klar zu signalisieren, dass sie genauso das Recht hatte, im Hotel zu sein wie er. Als Teilhaberin war es schließlich ihre Verantwortung, sich die Buchführung anzuschauen und sich ein Bild davon zu machen, wofür Geld ausgegeben wurde. Sie konnte Malcolm zwar nicht zwingen, nett zu sein, aber sie konnte sich weigern, sich von ihm und seiner Art unterkriegen zu lassen. Schließlich war die Leitung des Hotels keine Privatangelegenheit.
Auf dem Rückweg nach Isleornsay wurde aus dem leichten Landregen ein Wolkenbruch. Wenn das so weiterging, würde das Hotelgelände bis zum Morgen eine Schlammwüste sein. Sie parkte vor dem Hotel, zog den Reißverschluss ihrer Jacke wieder hoch und atmete noch einmal tief durch, bevor sie sich in den Kampf stürzte.
Q
Manche Tage im Hotel liefen wie geschmiert. Die Gäste waren zufrieden, alles funktionierte, wie es sollte, und alle Mitarbeiter erschienen zur Arbeit.
Heute war jedoch nicht so ein Tag.
Um zwei hatte Malcolm schon vier Zimmer geputzt, weil sich die Reinigungskraft bereits den zweiten Tag nacheinander krank gemeldet hatte, danach hatte er zwei verstopfte Toiletten repariert, einen Ehering aus dem Abfluss eines Waschbeckens in einem der Ferienhäuser befreit und zwanzig Minuten mit dem IT-Service telefoniert, um herauszubekommen, warum die Website nicht funktionierte. Das wiederum zog nach sich, dass er eine Stunde damit verbringen musste, aus der gespeicherten Sicherung die Homepage wiederherzustellen und auf den Server hochzuladen. Das hatte er eigentlich schon vorgehabt, seitdem er im vergangenen Jahr hier angefangen hatte, war aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht dazu gekommen war. Er massierte sich den Nacken. Fertig. Er hatte alle Katastrophen und Ärgernisse abgearbeitet, die aufgelaufen waren.
Und als hätte dieser Gedanke sie herbeigerufen, ging in diesem Moment die Tür auf und Serena Stewart betrat sein Büro.
„Kann ich bitte die Gewinn-und-Verlust-Unterlagen der letzten beiden Quartale haben?“, fragte sie.
„Ihnen auch einen schönen guten Tag, Mrs Stewart“, sagte er daraufhin, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und genoss den Anblick ihres attraktiven Äußeren. Er hätte ihren Aufzug für Absicht gehalten, wäre sie nicht völlig ungeschminkt gewesen und hätte sie wegen des Regens das Haar nicht zu einem strengen Zopf geflochten. Das war nicht gerade der Aufzug, für den sich eine Frau entschieden hätte, die verführerisch wirken wollte.
Aber wahrscheinlich war es ohnehin besser, die Gedanken gar nicht erst in diese Richtung schweifen zu lassen.
„Entschuldigung. Guten Tag. Wie läuft’s denn heute?“, sagte sie daraufhin.
„Immer gerade einen Schritt vom Weltuntergang entfernt“, antwortete Malcolm und übertrieb um der Wirkung willen ein ganz klein wenig. „Was für ein Platzregen! Ich rechne fest damit, dass die Gäste mir auch noch meine fehlende Kontrolle über das schottische Wetter zum Vorwurf machen werden.“
Er war richtig überrascht, als daraufhin der Hauch eines Lächelns über ihr Gesicht ging. „Gibt es Gäste, die so etwas tun?“, fragte sie erstaunt.
„Ja, ziemlich oft sogar.“
Sie schüttelte den Kopf und das Lächeln verschwand. „Kann ich dann bitte jetzt die Gewinn-und-Verlust-Unterlagen haben?“
Okay, sie hatte jetzt zwar bitte gesagt, aber er brauchte dazu noch ein paar Informationen mehr. „Warum wollen Sie die denn haben?“
Und sofort war die Mauer, die sie um sich zu ziehen pflegte, wieder da, und ihr Gesicht versteinerte sich. „Weil ich Sie darum gebeten habe.“
„Ich meine, wozu Sie sie brauchen. Nur damit ich weiß, welche Ordner ich heraussuchen muss.“ Er sah ihre abwehrende Miene und beschloss, es noch einmal anders zu versuchen. „Mir ist bewusst, dass wir gestern irgendwie auf dem falschen Fuß gestartet sind“, erklärte er. „Aber es würde vieles vereinfachen, wenn Sie mir nicht unterstellen würden, dass ich bewusst versuche, Ihnen das Leben schwer zu machen. Ich mache hier nur meinen Job.“
Die einzige Veränderung in ihrer Miene bestand darin, dass sie die Augenbrauen hochzog und erklärte: „Das gilt doch für uns beide, oder?“
Sie würde keinen Millimeter von ihrer Forderung oder ihrer Einstellung abweichen, sodass er keine andere Wahl hatte, als klein beizugeben. Er stand also auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und sagte: „Hören Sie …“
„Nein, bleiben Sie, wo Sie sind“, sagte sie energisch und hob eine Hand. „Ich weiß nicht, ob Sie ein Problem mit mir haben, weil ich eine Frau bin oder weil Sie niemanden in Ihrem Revier dulden, aber mir gefällt die Annahme nicht, die beiden Möglichkeiten zugrunde liegt. Nämlich die Annahme, dass ich nicht in der Lage bin, eine Firma zu leiten. Das bin ich nämlich sehr wohl, und ich habe es auch schon unter Beweis gestellt. Ich schlage also vor, dass Sie Ihre Streitlust, die Sie offenbar jedes Mal in meiner Anwesenheit überkommt, zügeln und mir einfach geben, worum ich Sie gebeten habe.“
Er konnte nichts dafür, dass er in diesem Moment über das ganze Gesicht grinsen musste, und sein Ärger verflog. Und obwohl er wusste, dass dadurch alles nur noch schlimmer wurde, ließ er seinen Blick abwärts wandern zu dem Reißverschluss ihres Pullovers, der von selbst immer ein bisschen weiter aufging, und zu ihrem dadurch etwas zu tief geratenen Dekolleté.
Sie folgte seinem Blick, bekam einen hochroten Kopf und zog den Reißverschluss bis zum Anschlag hoch. In einer sinnlosen Geste des Selbstschutzes verschränkte sie die Arme vor der Brust und erklärte: „Wirklich charmant. Entweder Sie haben keinen Selbsterhaltungstrieb, oder Sie versuchen gerade, mich zu zwingen, Sie zu feuern. Was von beidem ist es?“
Er räusperte sich und zwang sich wieder zu einer ernsten Miene. „Ich glaube, eher das Erste. Mrs Stewart – Serena – ich will ja gar nicht streiten, und ich versuche auch nicht, Ihnen das Leben schwer zu machen, aber ich leite jetzt erfolgreich seit neun Monaten dieses Hotel, und zwar ohne Hilfe und mit viel zu wenig Personal. Was genau mache ich also Ihrer Meinung nach falsch?“
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Sie gar nichts falsch machen.“ Ihr Zorn schien jetzt zu verrauchen.
„Abgesehen davon, dass ich die Miteigentümerin bin und deshalb das Recht habe, mich jederzeit hier aufzuhalten, sagen Sie doch selbst, dass Sie überlastet sind. Wenn dieses Hotel so erfolgreich werden soll, wie es das meiner Überzeugung nach sein könnte, dann brauchen Sie meine Hilfe.“
Bei diesen Worten sah sie absolut aufrichtig aus. Und vielleicht war er ja seit ihrer Ankunft auch tatsächlich übertrieben abwehrend gewesen. „Okay“, sagte er deshalb.
„Okay?“
Er wandte sich ab, zog eine Aktenschublade auf, nahm den Ordner heraus, den sie brauchte, und hielt ihn ihr hin. „Schauen Sie sich die Zahlen ruhig an. Ich glaube, es ist alles in Ordnung.“
„Danke“, sagte sie und nahm den Ordner entgegen.
„Gern geschehen.“ Es kostete ihn fast übermenschliche Überwindung, die Worte herauszubringen, aber er sagte: „Bevor Sie gehen, habe ich noch eine Frage. Worüber genau haben Sie gestern mit den Gästen am Empfang gesprochen?“
„Über nichts Besonderes. Ich habe Ihnen nur ein paar Vorschläge gemacht, was Sie auf Skye unternehmen können. Warum fragen Sie?“
„Ein paar Gäste haben heute Morgen nach Ihnen gefragt. Besonders die Avilas waren sehr dankbar für Ihre Tipps zur Sternenbeobachtung.“
Ein Lächeln ging über ihr Gesicht und sie sagte: „Da bin ich aber froh, dass es gestern Abend noch einmal etwas aufgeklart hat, bevor es angefangen hat zu regnen. Man kann doch im Winter nicht auf Skye sein, ohne unseren Nachthimmel zu bestaunen. Das wäre geradezu ein Sakrileg.“
„Ja, da haben Sie recht“, sagte er nachdenklich.
Wie um sich zu verabschieden, hielt sie noch einmal den Ordner hoch und sagte: „Wenn ich mir die Zahlen angeschaut habe, möchte ich gern mit Ihnen darüber sprechen.“
„In Ordnung.“ Und dann sah er ihr ziemlich perplex nach, wie sie auf dem Absatz kehrtmachte und verschwand. Was war denn das gerade gewesen?