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Das Girl von Connemara

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Der Irlandreisende fährt nicht in eine terra incognita, sondern Bilder in seinem Kopf begleiten ihn schon auf seiner Erstlingsfahrt. Das nachhaltigste „Vor-Bild“, das ich nach Eire re-importierte, stammt von einem gewissen Augustus Burke, einem Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts. Sein Gemälde The Connemara Girl, in Bildbänden sowie in der irischen Nationalgalerie in Dublin zu betrachten, vermittelt das irische Landleben als eine romantische Idylle.

Eine junge Hirtin, mit verträumtem Blick und zart wie eine Madonna, schreitet barfuß über den Heideboden ihrer Heimat, im Arm ein Bündel Reisig, an ihren Seiten zwei ihrer Schutzbefohlenen. Brav posieren die Ziegen dem Maler. Von dem Land ist nichts als ein mit Erika überzogenes Hangstück zu sehen, im Hintergrund schimmert bläulich das Meer, darüber der Himmel in allen grauweißen Schattierungen. Der raue Boden lässt ahnen, dass das Leben im Westen der Grafschaft Galway wohl doch nicht so beschaulich ist, wie diese irische Ikone ausschaut. Nichtsdestotrotz erliegt der Betrachter unweigerlich dem Charme des Girls von Connemara.

„Auf der Suche nach dem Girl von Connemara“ lautet also die Devise an diesem Sonntagmorgen. Doch zunächst gilt es Profanes zu erledigen. To hire a bike ist mein Begehr, und das fällt auch nicht schwer. Im Fahrradverleih in der Nähe der Docks von Galway ist man auf Sonntagsausflügler eingestellt. Als der Ladenbesitzer von meinen Tourenplänen für die nächsten drei Tage erfährt, packt er fürsorglich auch noch ein repair kit auf den Gepäckträger. Ich bin damit sehr einverstanden. Denn erfahrungsgemäß bietet dies die beste Gewähr dafür, dass nichts passiert. Die Pannen treten immer dann auf, wenn man kein Reparaturzeug dabei hat.

Leise schnurrt der Raleigh-Renner über die Dock Road. Am Pier liegt ein großer, rostiger Kasten, der trotzdem atlantiktauglich erscheint. Die Auswandererschiffe vergangener Jahrzehnte werden nicht besser gewesen sein. Es ist ein frischer, doch herrlich sonniger und vielversprechender Morgen – ideal, um in ein neues Leben nach Amerika aufzubrechen. Aber erstens emigriert man heutzutage nicht mehr per Schiff und zweitens bin ich „à la recherche de ...“. Connemara, here I come.

Das ungewohnte Gefühl, auf der linken Straßenseite zu fahren, weicht schnell. Im Gegenteil, das scheinbar Verbotene (und hier aber doch so Richtige) zu tun, wirkt auf mich idiotischer Weise euphorisierend.

Über die Wolfe-Tone-Brücke verlasse ich das Hafenviertel, hinüber aufs westliche Ufer des hier in die Galway-Bucht mündenden River Corrib. Der unglückliche Revolutionär Tone hatte 1796 Napoleon zur Entsendung einer Militärflotte an die irische Südwestküste überredet, um den Geist von égalité und fraternité nach Irland zu bringen, vor allem aber um einen Aufstand der Iren für Freiheit vom britischen Joch auszulösen. Ich hoffe, dass mir an diesem Sonntag die wilden Stürme an der Küste erspart bleiben, die vor gut 200 Jahren das napoleonische Unternehmen zu einem Fiasko werden ließen.

Ein salziger Wind weht in die Nase. Nach Salthill führt der Galway Coastal Drive. Auf klarem blauen Himmel lagert ein weißes Wolkenband über den Höhen der Grafschaft Clare an der gegenüberliegenden, südlichen Seite der Galway Bay. An der Südwestecke der Bucht nehme ich den „Schwarzkopf“ ins Visier. Für die Emigranten wird der Black Head einer der letzten markanten Punkte der irischen Hauptinsel gewesen sein, bevor es tagelang nur noch das Wasser des „großen Teichs" zu sehen gab.

Offenbar von jenseits des „großen Teichs" stammt die Radfahrertruppe, die in Salthill meinen Weg kreuzt. Anders als ich waren sie von Galway aus nicht der Küstenlinie gefolgt, sondern hatten von der City den direkten Weg zu dem Seebad gewählt. Salthill mit seinen Villen am Hang oberhalb der Strände ist im Hochsommer einer der belebtesten irischen Badeorte. Doch zu so früher Stunde und in so frischer Luft herrscht auf der Uferpromenade noch fast gähnende Leere. Und so übertönt das Palaver der amerikanischen biker die morgendliche Stille. Mit kurzem Gruß (hi!) flitze ich an den Radwanderern vorbei, denn bei deren Tempo wäre mein Tagesprogramm illusorisch.

Die pace des deutschen Radlers lässt einen der sieben Amerikaner dann doch nicht ruhen. Als ich einige Kilometer hinter Salthill zum Fotografieren stoppe und anschließend auch noch die Windjacke verstaue, zieht ein heftig „Gas" gebender Pedaleur an mir vorbei. Doch um meinen Charakter ist es nicht besser bestellt. Ein Überholer löst in mir niedere Verfolgungsinstinkte aus – ein biologischer Mechanismus, dem die gleichermaßen wettbegeisterten Briten und Iren das Hunderennen verdanken.

Die Strecke entlang der ziemlich geradlinig Richtung Westen verlaufenden Galway-Bucht wird hinter Salthill hügeliger, die Verfolgung des „Hasen" demzufolge anstrengender. Bald habe ich ihn wieder abgehängt, doch dann verrutscht mein repair kit und ich muss einen zweiten Zwischenstopp einlegen, zumal dank zunehmendem Sonnenschein nun auch der dünne Pullover entbehrlich ist. Beim zweiten Einholen frage ich den amerikanischen „Hasen" nicht nur „how are you?", sondern auch nach seinem Tagesziel.

Aus dem Austausch von Kurzinformationen entspinnt sich ein Gespräch. Aus dem „amerikanischen Hasen" wird Kevin aus Ottawa/Canada, und auch der „deutsche Windhund" gibt seine rheinisch-westfälische Identität preis. Fortan fahren wir gemeinsam – unter Beibehaltung des anspruchsvollen Tempos. In den nächsten Badeort Spiddal bzw. An Spidéal, wie das Schild am Ortseingang auf Gälisch kundtut, sausen wir als Gespann. Hier werfen sich einige Unerschrockene trotz nur spätsommerlicher Temperaturen in die Atlantikfluten.

Während auf der Nordseite der Bucht die Küstenlinie auch hinter An Spidéal geradlinig weiter verläuft, knickt sie auf der Clare-Seite hinter dem Black Head nach Süden ab. Dennoch findet das Auge zur Linken ein Gegenüber, die Aran Islands. Wie drei ankernde Riesenschiffe legen sie einen schrägen, halboffenen Riegel vor die Ausfahrt der Galway Bay.

Zur Rechten beginnt Connemara, eine wellige Bruchlandschaft, am Horizont eine Ahnung von Bergen, Heidekraut, Bachläufe, die kanalisiert die Küstenstraße unterqueren und sich in die Bay ergießen. Vergeblich halten Kevin und ich nach Burkes Ziegenhirtin Ausschau. So nah an der Küste ist das scheue Wesen offenbar nicht zu finden.

Dafür begegnen uns gut zehn Kilometer hinter Spiddle – mehr oder minder mitten in der Landschaft – zahlreiche Einheimische im Sonntagsstaat. Autos parken am Straßenrand, da wo die Hauptstraße nach Norden schwenkt. Hier endet die gerade Bay-Küste, eine schärenartige Insel- und Uferlandschaft mit tiefen Buchten löst sie ab. Der Grund für die Menschen- und Fahrzeugansammlung ist eine kleine Kirche oder besser Kapelle an diesem Landschaftseckpunkt. Sonntag, zehn Uhr dreißig, da leert sich im gutkatholischen Irland die country side, und Kirchgang ist angesagt.

Wenig weiter könnten wir an mehreren Straßengabelungen einheimischen Rat gut gebrauchen. Wir befinden uns mittlerweile im tiefsten Gaeltacht, im gälischen Sprachgebiet. Englische Straßenschilder sind hier verpönt. Die gälischen Namen erinnern oft nur entfernt an die englischen Bezeichnungen auf meiner im Übrigen nicht sehr detaillierten Karte. Dass Casla für Costelloe steht – darauf muss man erst einmal kommen. Zum Glück können wir vom gälischen Scríb messerscharf aufs englische Screeb schließen. Den Iren sei ihre Brauchtums- und Sprachpflege gegönnt, dem Touristen nötigt der Verzicht auf zweisprachige Beschilderung indes zumindest Lernbereitschaft ab.

Der famose irische Gründungspräsident Eamon de Valera, der in seiner Regierungszeit vor allem in den 30er Jahren die Wiederbelebung des Gälischen mit missionarischem Eifer forciert hatte, müsste sich heute allerdings arg grämen, erlebte er die gering ausgeprägte Gälisch-Lernbereitschaft seiner eigenen Landsleute. Doch im Connemara-Gaeltacht, da wäre Sprachpurist de Valera, der im übrigen in New York geboren wurde und Sohn eines spanischen Musikers und einer Irin war, der also selber gehörig Gälisch-Nachholbedarf hatte, auch heute zufrieden.

De Valera hin, de Valera her – wir haben unseren Weg nach Casla gefunden. Die Landschaft wird sehr viel hügeliger. Die Straße umkurvt Moore und kleine Seen. Das Farbenspiel von Heide, Gräsern, Blumen, Büschen und Gewässern ist bezaubernd. Was von der Küste nur als Andeutung zu erspähen war, beherrscht nun den Horizont: eine massive, eindrucksvolle Bergkette in West-Ost-Richtung, auf die wir nun hügelauf, hügelab von Süden kommend geradewegs zuradeln.

Bei allen Reizen für das Auge ist nicht zu verkennen: Dies ist eine karge, weitgehend menschenverlassene Landschaft. Der Torfstecher findet hier genug Material. Wer in diesem Naturschutzgebiet ein Hirtendasein fristen möchte, auch der hat hier seine Chance. Die meisten Bewohner Connemaras aber leben lieber dem Meer zugewandt, dort liegt ihr Auskommen. Das Innere Connemaras dagegen ist, so schreibt es ein Reiseführer, „eine ursprüngliche Landschaft und eine Herausforderung für Wanderer" – sowie für kanadische biker und deutsche Radler, sei hinzugefügt.

Die meisten Touristen nehmen diese Herausforderung im Bus an. In bequemen coaches werden sie von Galway herangekarrt. Die vorwiegend älteren Semester tummeln sich an den Seen und Mooren und genießen wie wir den Sonnenschein in wild-romantischer Umgebung.

An der Straßenkreuzung Screeb, wo man wieder westlich zur Küste abbiegen oder weiter gen Norden auf die Connemara-Berge zufahren kann, wartet dagegen „junges Gemüse", zwei Gymnasiastinnen aus München auf Tramptour. Da sie den angebotenen lift auf unseren Gepäckträgern freundlich abschlagen, setzen wir die wilde Hatz nach Maam Cross alleine fort. Inzwischen jagt uns nämlich auch der Hunger.

Fast pünktlich zum high noon treffen wir in Maam Cross ein. Hier kreuzen sich die am Fuß der Connemara-Berge verlaufende N59 von Galway nach Clifden und unsere Süd-Nord-Strecke vom Ausgang der Galway-Bucht zum Ende des Fjords von Killary Harbour. Der Ort ist eigentlich nur eine größere Raststätte. Wir waschen uns in gutbürgerlichem Ambiente bei Gentlemen den Straßenstaub ab. Sodann fällt am Büffet die Wahl auf Suppe, die unvermeidlichen Sandwiches und ein großes Lager, der zwingend nötige Ersatz für abgestrampelte Körperflüssigkeit. Die Dame des Hauses serviert Bestelltes auf der Terrasse.

Nach einer Viertelstunde hören wir vom Parkplatz bekannte Stimmen. Marga und Alexandra, die bayerischen Schönen, gesellen sich an unseren Tisch. Sie hatten im Fonds eines Wagens doch noch eine bequemere Alternative zu unseren Gepäckträgern gefunden. Ottawa-, Isar- und Rhein-Anrainer diskutieren nun angeregt über irische Geographie und Mentalität der Einheimischen.

Margas Hauptproblem besteht darin, einen jungen Mann aus Westport telefonisch für den Abend nach Galway zu lotsen. Kevin will genau nach Westport. Aber wo bleibt der Rest seiner Truppe? Zu Mittag war man in Maam Cross verabredet. Ich entschließe mich, ihn noch bis Leenaun am Fjord zu begleiten und dann – so eine "8" vollendend – über Kylemore Abbey und den Acht-Mittelpunkt Maam Cross nach Galway zurückzukehren. Die Mädels schließlich peilen dieses Ziel per Tramp oder Bus direkt an.

Zum Abschied packt Kevin als guter Botschafter seines Landes pins (Anstecknadeln) mit kanadischem Wappen aus. Mit Ahorn-Pin geschmückt macht die Weiterfahrt Freude. Doch just da kreuzen die restlichen Girls und Boys der kanadischen Fahrrad-Reisegruppe auf. Als Kevin stolz verkündet, dass wir schon seit eineinhalb Stunden am Treffpunkt sind, entgegnet ihm ein etwas älteres Girl leicht vorwurfsvoll: "Kevin, this is not a race!" Oder etwa doch? – Eine nicht ganz unberechtigte Frage.

Entgegen der Befürchtung, bei der Fahrt in Richtung Norden einen größeren Pass überqueren zu müssen, stellt sich bei näherer Betrachtung der Connemara-Berge heraus, dass sie keine durchgehende Ost-West-Kette bilden, sondern zum Teil nebeneinander liegende Nord-Süd-Höhenzüge sind. Die Fahrt geht also angenehm geschwind hinunter zum Maam-Tal.

Kurz hinter Maam Bridge, wo rechts der Abzweig zum Nordufer des Lough Corrib führt, entdeckt Kevin in einer Telefonzelle einen kanadischen Freund, der gerade mit Ottawa telefoniert. Da auch er mit der anderen Seite des Teiches telefonieren will, nehmen wir endgültig Abschied. „It was nice meeting you.“ „It really was.“ Wahrlich keine Floskeln nach stundenlangem gemeinsamen Pedalieren und Plaudern.

Soweit zu dem 35-jährigen banker boy. Aber was ist mit dem hundertjährigen Connemara Girl? Als ich kaum noch an sie dachte, als ich mich schon ein wenig jenseits ihres eigentlichen Gebiets befand, da bekam ich sie zu Gesicht. In Joyce Country, wie der wunderschöne Landstrich nördlich von Maam Bridge heißt, sah ich sie auf einmal auf einer hohen Straßenböschung.

Die Landschaft des Maam Valley ist dort ganz anders, viel lieblicher als das Connemara der Moore: Nach einer langen kurvenreichen Abfahrt von Maam Cross durch Wiesen und zwischen weit abstehenden Berghängen verengt sich das Tal bei Maam Bridge. Die Szenerie gleicht deutschem Mittelgebirge: Waldhang zur Rechten, Wiesen und ein Bachlauf zur Linken, dahinter wieder ein bewaldeter Berghang. In der schwächelnden Nachmittagssonne schimmert das Licht zart durch Geäst, das über die Straße hängt.

Dann eine hohe Böschung zur Linken, darauf eine ärmliche Behausung, mehr eine Hütte als ein Haus, trotz allem ein pittoreskes Anwesen. Am Zaun lehnt ein Schild: „Anhalten und fotografieren unerwünscht". Ich respektiere diese Maßgabe und lasse auf abschüssiger Strecke das Fahrrad weiterrollen. Und während ich noch verwundert auf die verwunschen scheinende Wohnstatt starre, tritt ein altes Hutzelweib in traditioneller bäuerlicher Tracht mit einem Melkeimer aus der Tür, schaut mürrisch zu mir herüber und verschwindet hinter dem Haus.

Nach dieser Erscheinung gehen mir die Worte von Astrud Gilberto durch den Kopf: "There she's walking, the girl from Ipanema goes walking, and when she passes, each one she passes goes: aahh..." Über Jugend und Alter sinnierend, bedenkend, dass auch die Nachfahrin des Girls von Connemara nun selber schon Greisin ist, summe ich frohgemut zur Melodie von Getz/Gilberto: „There she's walking, the girl from Connemara goes walking ... " und lasse dem Raleigh-Renner seinen Lauf hinunter zum Fjord.

Eire wem Eire gebührt

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