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2. Kapitel

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Ich bin froh, dass ihr rechtzeitig hier seid, um mir beim Schmücken zu helfen«, sagte meine Mutter. »Die Plätzchen habe ich schon gebacken, aber das Verzieren könnt ihr auch übernehmen, das kostet immer so viel Zeit. Und bevor ich es vergesse: Für heute Abend habe ich euch zum Laternenumzug durch Pacific Heights angemeldet.«

»Klingt gut.« Zufrieden kuschelte ich mich auf den Rücksitz.

Leo streckte die Finger nach den Weihnachtsglöckchen aus, die am Rückspiegel von Moms BMW baumelten. Just in dem Moment schwenkte Mom auf dem Highway scharf aus, und Leos Hand knallte aufs Armaturenbrett. Er hatte triumphierend gegrinst, als ich ihm den Beifahrersitz überließ – aber neunzehn Jahre lang neben einer verkappten Rennfahrerin zu sitzen, hatte mich kuriert.

»Du errätst nie, wen ich letzte Woche beim Symphoniekonzert getroffen habe«, sagte Mom und sah mich durch den Rückspiegel vielsagend an.

»Wen denn?«

»Keinen geringeren als Mr Brophy von der Highschool. Er ist dort immer noch Rektor und möchte, dass du mal vorbeikommst, um den Schülern etwas über die Arbeit im Verlag zu erzählen.«

»Mom, ich bin gerade mal Redaktionsassistentin.«

»Bei einem der angesagtesten Magazine der Ostküste!« Mom glühte vor Stolz. »Ich habe ihm versprochen, dass du es zeitlich irgendwie unterbringst, bevor du im Januar zurückfliegst. Du bleibst doch ein bisschen, oder?«

»Sicher«, sagte ich. »Leo muss direkt nach Weihnachten zurück, aber ich nicht.« Die Skyscraper-Redaktion blieb bis zur zweiten Januarwoche geschlossen, und ich genehmigte mir ein paar freie Tage. Ich freute mich darauf, es mir zu Hause gemütlich zu machen, umsonst zu essen und ein paar Shoppingtouren mit Moms Kreditkarte zu unternehmen. Mein Dad ist unheilbar geizig, aber Mom hat Wege gefunden, das zu umgehen. Sie sagt immer, Dad sei nun mal mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden, und er hätte Angst, dieser würde runterfallen, wenn er den Mund zu weit aufmachte.

Als die beeindruckende Skyline von San Francisco vor uns aufragte, plauderte Mom gerade über ihre Pläne für unsere traditionelle Familienfeier am Weihnachtsabend. Sie stand in ständigem Kontakt mit dem Caterer, machte dieses Jahr sämtliche Desserts selbst, hatte Wachs zu Kerzen in Form kleiner Tannenbäume gegossen und aus aller Herren Länder Weihnachtsbeleuchtung bestellt, um unser viktorianisches Haus in vollem Glanz erstrahlen zu lassen. »Gold, Silber, Lavendel und Weiß«, erklärte sie. »Das sind meine Farben. Ich halte es dieses Jahr betont schlicht, aber edel.« Die Reifen des BMWs quietschten, als sie in die Auffahrt meines Zuhauses einbog. Ich hatte dieses hohe, verwinkelte Gebäude immer »das Hexenhaus« genannt.

Mom stieg aus, schlug die Wagentür zu und holte das Gepäck aus dem Kofferraum. »Du meine Güte«, sagte sie mit Blick auf die Armbanduhr. »Ihr bringt am besten schnell eure Sachen rein und macht euch frisch. Sonst kommt ihr zu spät zum Umzug.« Sie hängte sich eine von Leos Taschen über die Schulter und stapfte die Treppe zum Haus hinauf.

Sobald sie außer Sicht war, wandte sich Leo mir zu. »Hat sie immer diesen Kommandoton drauf?«

»Wie meinst du das?«, zischte ich verärgert. »Der Laternenumzug ist toll. Sie will eben nicht, dass wir ihn verpassen.«

»Und dieses Getue mit der Feier ... Weiß und Silber? Klingt eher nach Hochzeitsvorbereitungen.«

»Sehr unwahrscheinlich, insbesondere nachdem bei mir in letzter Zeit so furchtbar viel angesagt war.«

»Das stimmt allerdings.« Leo schleppte seinen Koffer die Treppe rauf. »Ist vielleicht ganz gut, dass sie ein Ventil für ihre Partyplanungsleidenschaft hat. Du wirst sicher nicht so bald vor den Altar treten.«

»Schon gut! Musst du unbedingt Salz in die Wunde streuen?«

Leo lachte und ließ seinen Koffer auf die Veranda plumpsen.

Als ich das alte Haus betrat, ein wunderschönes, lavendelfarbenes Gebäude mit violetten Verzierungen, stiegen sofort verschiedene Erinnerungen hoch: der seifige Geruch der Marmorböden im Eingangsbereich, das verspielte Geländer an der Treppe nach oben, der gemütliche, runde Türmchenraum, in dem ich meine Jungfräulichkeit verlor – als meine Eltern übers Wochenende zu einer Ärztetagung waren. Am liebsten hätte ich das ganze Gepäck in der Halle fallen gelassen und mich mit einer Schale chinesischer Nudeln und der Fernbedienung in der Hand aufs Sofa geworfen.

Aber das passte nicht ganz zu Moms Plänen.

»Tragt eure Sachen direkt nach oben«, sagte sie mit der Flexibilität eines Ausbilders beim Militär. »Ihr müsst wirklich direkt los. Die Tour beginnt in Pacific und macht Station an einigen wunderschönen alten Villen. Die Hochzeitshäuser sollen mit Lichterketten geschmückt sein.«

»Hochzeitshäuser?« Leo schüttelte den Kopf.

»Du hast ganz bestimmt schon Fotos davon gesehen«, erklärte Mom lapidar. »Die sind ziemlich bekannt.«

Ich begann mich zu fragen, ob Leo vielleicht recht hatte. War Mom ein Drachen? Ich hatte ihre Autorität nie in Frage gestellt – und damit waren wir zwei immer ganz gut gefahren.

»Du schläfst in deinem alten Zimmer, Madison!«, rief sie mir hinterher. »Leo kann das Gästezimmer haben. Sadie hat es hergerichtet, aber lasst mich wissen, falls etwas fehlt. Zusätzliche Handtücher sind im Wäscheschrank. Nehmt die gelben, die roten färben ab.«

»Und du findest, dass ich einen Kontrollfimmel habe?«, raunte Leo mir oben am Treppenabsatz zu.

»Halt die Klappe und setz deinen Hintern in Bewegung«, fauchte ich. »Mom hat es nicht gern, wenn man zu spät kommt.«

»Das ist also deine lockere Familie?« Er machte ein spöttisches Gesicht und marschierte mit seinem Gepäck den Flur hinunter.

Bester Freund hin oder her, so langsam ging Leo mir auf die Nerven. »Versprich mir, dass du während der nächsten Tage nicht ständig meine Familie analysierst.«

Leo blieb vor zwei schmalen Türen stehen und öffnete eine davon. Es war der Wäscheschrank. »Wo zum Teufel muss ich überhaupt hin?«

»Bis zum Ende des Flurs«, verriet ich ihm.

Er schloss den Schrank und grinste mich an. »Okay, ich verspreche, nicht mehr in Schränken herumzuschnüffeln. Sonst springen mir womöglich irgendwelche Skelette entgegen.«

»Das war eine tolle Tour«, keuchte Leo, während wir eine in den Fels gehauene Treppe hinaufkraxelten. »Und so lehrreich!« Er schnappte nach Luft. »Beschaulich und weihnachtlich. Hat mich daran erinnert, dass ich nicht vergessen darf, morgen meine Glöckchenohrringe anzulegen.«

»Deine ablehnende Haltung gegenüber Weihnachten beginnt mir zu gefallen«, erklärte ich, während ich hinter ihm her trottete. »Du bist wie diese spitzzüngige Modekritikerin Joan Rivers – nur speziell für Weihnachten.«

Als ich oben ankam, lehnte sich Leo gegen das Geländer und lachte atemlos. »Bin ich wirklich so sarkastisch? Nein, sicher nicht!« Er schlug mir freundschaftlich auf die Schulter.

»Den bissigen Kommentar über das Kostüm des Fremdenführers hättest du dir zum Beispiel sparen können.«

»Du hast doch gesehen, was er anhatte! Er sah aus wie eine verkappte Weihnachtselfe.«

»Das Thema lautete viktorianische Weihnachten«, entgegnete ich. »Und wir können uns glücklich schätzen, in die Whittier Villa reingekommen zu sein. Sie wird nur selten für die Öffentlichkeit geöffnet.«

»Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass sie in viktorianischer Zeit grüne Samtaufschläge an den Klamotten hatten?«

»Du wärst überrascht«, erwiderte ich. »Wenn man in San Francisco aufgewachsen ist, gewöhnt man es sich ganz bald ab, irgendwelche modischen Ausschweifungen zu hinterfragen.«

Wir gingen die Geary Street hinunter zu einer Bar, die während meiner Highschoolzeit sehr beliebt gewesen war. Das Dartmouth Castle war sicher noch so schäbig wie eh und je, aber man bekam dort ausgezeichnetes Bier. Und ich wusste, dass Leo Dartboards liebte. Wir bestellten zwei Pint Anchor und warteten, dass ein Dartboard frei wurde. Leo trank einen großen Schluck und seufzte. »Göttlich. Warum nur können die in New York kein anständiges Bier brauen?«

»Es liegt am Wasser«, erklärte ich und prostete ihm zu. »Zu viel Chlor.« Ich nahm ebenfalls einen Schluck. Das leckere Preiselbeeraroma war deutlich herauszuschmecken. Es passte nicht schlecht zu der Jackson Five Version von Santa Claus is Coming to Town, die im Hintergrund lief. Leo nahm den handgestrickten Wollschal ab und drehte seinen Hocker so, dass er sich an die Bar lehnen konnte. »Nicht hinsehen. Matrose auf fünf Uhr.«

Neugierig drehte ich mich um, und Leo zischte: »Ich sagte doch, nicht hingucken!«

»Als könnte mich das aufhalten«, erwiderte ich und betrachtete den lohnenden Anblick: ein hübscher Bursche in einer scharfen Marineuniform, so sahnigweiß wie ein Vanilleshake. Das heißt, die Uniform war weiß, seine Haut eher pfirsichfarben. Er stand hinter zwei Dartspielern und kommentierte deren Würfe.

»Na, was habe ich gesagt?« Leo strahlte richtig. »Der sieht doch klasse aus!«

»Echt süß, da hast du schon recht, aber nicht mein Typ. Ich steh nicht auf Soldaten – es sei denn, sie tanzen bei Nussknacker mit.«

Leo verzog das Gesicht. »Das ist kein Soldat, sondern ein Matrose. Du hast wirklich null Ahnung vom Militär.«

Ich war zu sehr damit beschäftigt, den Vanille-Mann zu mustern, um zu widersprechen. Der Typ kam mir irgendwie bekannt vor. Vom Militär habe ich tatsächlich keine Ahnung. Dieses ganze System lehne ich ab, angefangen von der Befürwortung von Gewalt bis zum blinden Gehorsam gegenüber Vorgesetzten. Deshalb hat mich auch immer eher der rebellische Typ angezogen, der Draufgänger mit Dreitagebart, Lederjacke und frisiertem Motorrad.

Während ich den Kerl anstarrte, drehte er sich plötzlich um – und da wusste ich es. Innerlich stöhnend verdrehte ich die Augen. Als ich wieder hinsah hatte der Bursche bereits Kurs auf uns genommen.

»Er kommt her!«, zischte Leo laut. »Und winkt dir zu, als würde er dich kennen!«

»Das tut er auch«, flüsterte ich und starrte auf das Namensschild des Matrosen: Wilkinson. Als der Typ mich anlächelte, fiel mir auch sein Vorname wieder ein. »Du liebe Güte! Ryan?«

»Madison!« Ryan nickte. »Wie geht’s dir?« Aus der Nähe wirkte seine Uniform noch fescher. Blütenrein und frisch gestärkt.

Leo beäugte uns misstrauisch und versuchte herauszufinden, in welcher Beziehung ich zu dem Burschen stand.

»Das ist Ryan Wilkinson. Wir waren früher ... ach, keine Ahnung. Was waren wir eigentlich, Ryan?« Ich führte mich auf wie der letzte Trottel! Aber ich wollte mich einfach vor dem Geständnis drücken, dass wir in der Highschool ein Paar gewesen waren – bis die Beziehung unschön endete. Und daran war allein ich schuld gewesen.

Ryan lächelte selbstbewusst. »Wir sind miteinander gegangen.«

»Du warst mit einem Matrosen zusammen?«, fragte Leo hörbar beeindruckt. »So viel Patriotismus hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

»Es war auf der Highschool«, stellte ich klar. »Damals hatte Ryan noch wesentlich mehr Haare. Ich meine ... längere Haare!« Heute ließ ich wirklich kein Fettnäpfchen aus. Aber während Leo schnell ausflippte, wenn ich frühzeitigen Haarausfall ansprach, schien Ryan damit kein Problem zu haben. Er zog seine Schirmmütze ab und fuhr sich mit der Hand über den Bürstenhaarschnitt.

»Schön borstig.« Er grinste. »Die Mädels lieben es.« Er neigte den Kopf. »Willst du mal fühlen?«

Ich winkte ab, aber Leo strich vorsichtig darüber.

»Ooooh! Kitzelt ganz schön.«

Jetzt musste ich grinsen. Abgesehen von der Uniform wirkte Ryan viel lockerer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Das war nicht mehr der Kerl, der mich um Erlaubnis fragte, bevor er mich küsste, und der sich genierte, vor meinen Augen die Hose aufzumachen. Ich war nicht sicher, ob mir der neue Ryan gefiel, allerdings war ich nach dem alten auch nicht gerade verrückt gewesen. »Du bist bei der Marine ganz schön frech geworden«, sagte ich.

Ryan zwinkerte mir zu. »Ich? Aber nicht doch, Ma’am.«

Mir blieb vor Schreck der Mund offen stehen. »Jetzt bin ich schon eine Madame für dich? So alt bin ich nun auch noch nicht«, stellte ich klar und hätte am liebsten hinzugefügt: Außerdem habe ich dich schon mit runtergelassenen Hosen gesehen, mein Junge.

»Nichts für ungut, Maddy.« Ryan klemmte sich die Mütze unter den Arm. »Das mache ich ganz automatisch.«

Maddy ... so nannten mich sonst nur meine Eltern. Erstaunlich, wie sehr ein Spitzname dich verjüngen kann und in eine längst vergangene Ära zurückwirft – in meinem Fall in eine mir eher peinliche Lebensphase. Ich hob mein Glas und nahm einen großen Schluck, um meine Verlegenheit zu überspielen. Ganz schwach konnte ich mich daran erinnern, dass Ryan zur Armee gegangen war. Wahrscheinlich hatte es mir eine meiner alten Freundinnen aus der Highschool erzählt.

»Was für ein Zufall«, sagte Leo. »Ein Klassentreffen! Fehlen nur noch der Quarterback des Footballteams und die Anführerin der Cheerleader.«

Ich ignorierte ihn und versuchte, das Gespräch mit Ryan allmählich zum Abschluss zu bringen.

Der Reiz, ihn wiederzusehen, nutzte sich schnell ab und wich den vertrauten Gefühlen, wegen derer ich mich von Ryan getrennt hatte. Er konnte unglaublich pedantisch und anbiedernd sein. Bestimmt der perfekte Militärroboter. »Bist du hier stationiert oder hast du Heimurlaub?«

»Ich habe vierzehn Tage Heimaturlaub. Normalerweise bin ich auf einem Schiff – der Ticonderoga –, das vor San Diego liegt. Am Sechsundzwanzigsten muss ich mich zurückmelden.«

»Dann bist du zur jährlichen Greenwood-Weihnachtsparty ja hier«, mischte sich Leo ein, »und ganz bestimmt herzlich eingeladen. Madisons Mom steckt mitten in den Vorbereitungen. Eine lockere Sache, komm einfach in Smoking und Fliege vorbei.« Er sah mich an und fügte hinzu: »Ich vergaß, ist es eigentlich eine Bottie-Party?«

»Ich denke, dass Mom für die Getränke sorgt«, erwiderte ich und nahm mir vor, Leo eine Kopfnuss zu verpassen, sobald wir wieder allein waren. Schlimm genug, dass er Ryan einlud, aber musste er sich auch noch über Mom lustig machen?

Ryan starrte mich an, genauso eindringlich wie früher, und ich erinnerte mich daran, dass ich ihm damals mal gesagt hatte, wie sehr es mich nervte. Er hatte geschluckt, fast angefangen zu heulen und irgendetwas Blödes gesagt wie: »Ich liebe dich eben so sehr, dass es weh tut.« Das war der Anfang vom Ende. Ich war vielleicht nicht der coolste Teenager von Nob Hill – oder Snob Hill, wie meine Freunde und ich diesen Stadtteil gern nannten –, aber bei schwülstigem Gebrabbel nahm ich dennoch schnell Reißaus. »Würde mich freuen«, sagte Ryan.

Ich musste erst einmal einen großen Schluck Bier trinken, um dieses höfliche Getue zu ertragen. Dann holte ich tief Luft und nickte Ryan zu. »Du bist immer willkommen. Die Party ist an Heiligabend. So ab sieben.«

»Großartig«, sagte er – zumindest glaube ich, dass er dieses Wort benutzte. Seine Augen übermittelten eine andere Botschaft: Liebe mich! Rette mich! Nimm mich!

Ich drehte mich zur Bar um und hoffte, dass sich Ryan damit als entlassen betrachtete. Aber Leo untergrub mein Vorhaben, indem er Ryan in ein Gespräch verwickelte.

Er zog ihn damit auf, dass ich während der Highschool bestimmt eine unglaubliche Nervensäge gewesen war. Ryan verteidigte mich vehement und erzählte Leo, dass ich wunderschön gewesen sei. Wunderschön? Wer sagt denn noch so was? Und wusste Ryan etwa nicht, dass moderne Frauen nicht nach ihrem äußeren Erscheinungsbild beurteilt werden wollen?

»Hey, wir sind dran!«, rief ich, als ein Dartboard frei wurde. Ich schoss los, drehte mich aber noch einmal um, damit Ryan wirklich kapierte, dass dieses Gespräch jetzt zu Ende war. »Pass auf dich auf, okay?«

Er machte einen Schritt auf mich zu, legte die Hände um meine Schultern und zog mich an sich.

O nein! Jetzt kam ein Kuss!

Ich wandte schnell meinen Kopf ab, so dass er nur noch die äußerste Ecke meiner Wange erwischte, knapp vor dem Ohr. »Ich sehe dich dann Heiligabend«, sagte er.

»Gut, bis dann ...« Ich stürmte Richtung Dartboard los und vertraute darauf, dass Leo mir folgen würde.

»Du meine Güte, ist der niedlich!«, flüsterte Leo, nachdem wir weit genug von Ryan weg waren.

»Cool bleiben«, warnte ich ihn und warf einen Übungspfeil. »Bei Ryan ist alles nur Fassade. Nichts als warme Luft.«

»Ich mag hübsche Fassaden«, beharrte Leo. »Du glaubst gar nicht, wie oberflächlich ich sein kann.«

»Blödsinn! Davon abgesehen – als ich es das letzte Mal getestet habe, stand Ryan nicht auf Männer.«

Leo tippte sich mit dem Ende des Dartpfeils ans Kinn und sah noch einmal zu Ryan hinüber. »Was für ein Jammer. Also wenn ich ihn schon nicht haben kann, solltest du ihn vernaschen. Dann habe ich wenigstens indirekt etwas von ihm – das ist das Mindeste, was du für mich tun kannst. Der Mann ist ein Adonis aus Elfenbein.«

Ich traute mich, Ryan noch einmal anzusehen. Er saß auf einem Barhocker. Kerzengerader Rücken, breite Schultern, fester Hintern. »Ja, die Marine scheint ihm gutzutun«, gab ich zu. »Und diese Uniform ... was fürs Cover von GQ. Aber ich bin nicht interessiert. Ryan steht so ziemlich für alles, was ich nicht bin.«

Leo grinste. »Für den Vanille-Mann käme ich durchaus in Versuchung, Kompromisse zu machen. Aber erzähl mir alles – die ganzen schmutzigen Details. Hattet ihr wenigstens euren Spaß, bevor es auseinanderging? War es eine schwierige Trennung?«

»Die Trennung verlief recht unschön«, gestand ich. »Lag an mir. Ryan nahm schon damals alles furchtbar ernst. Als wir unsere Collegebewerbungen verschickten, hatte ich mich auf die Columbia oder die Universität von Chicago eingeschworen. Aber Ryan wollte unbedingt auf die Marineakademie nach Annapolis. Das hat mich umgehauen. Ich war damals 17 Jahre alt, rebellierte gegen meine Eltern, konnte es gar nicht erwarten, wegzukommen, um am College endlich ein anderes Leben zu führen. Und Ryan wollte der amerikanischen Flagge ewige Treue schwören und sich an Vater Staat verkaufen!«

»Ein Mann mit Prinzipien«, erwiderte Leo. »Wie erfrischend.«

»Nicht für mich. Ich fand das erdrückend. Er verkörperte in allem das Gegenteil von dem, an das ich glaubte. Plötzlich konnte ich ihn nicht schnell genug loswerden.«

Leo warf einen Testpfeil und runzelte die Stirn. »Aber gestern war gestern und heute ist heute, und du musst zugeben ... wow, guter Wurf ... dass er sich prächtig entwickelt hat.«

Ich seufzte. »Leo, der Bursche ist Republikaner! Er dient in der Armee! Kannst du dir mich als Soldatenfrau vorstellen? Die auf einer Basis lebt und Deckchen für den Bazar im Offiziersclub häkelt, während ihr Mann irgendwo an einem geheimen Ort auf See herumschippert?«

»Klingt nach Ein Offizier und Gentleman.« Leo schürzte die Lippen. »Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Richard Gere durch diese Tür treten. Er reißt mich in seine Arme, bringt mich hinfort aus dieser Spelunke und ...«

»Leo – krieg dich wieder ein.«

Er winkte ab. »Stör mich jetzt nicht. Er trägt seine weiße Uniform, während ich leicht verloren wirke in ... mal überlegen, vielleicht einer verwaschenen Jeans und einem löchrigen Muscle-Shirt. Wir würden ...«

»Leo, du hast in deinem ganzen Leben noch kein Muscle-Shirt getragen«, raunte ich ihm ins Ohr. »Und wenn du jetzt nicht endlich Dart spielst, hast du deine Chance vertan.«

»Oh.« Er blinzelte und betrachtete das Dartboard. »Wie konnte ich mich nur derart hinreißen lassen?«

»Keine Ahnung.«

Er zuckte mit den Schultern und löste seinen Schal. »Wenn ich nervig wirke, so liegt das nur daran, dass dein Sexleben ausgedorrter ist als die Sahara. Hast du während der Collegezeit überhaupt jemanden gevögelt?«

»Habe ich«, beharrte ich. »Und was ist mit dir?«

»Bitte! Lass uns das Thema wechseln.« Er presste sich die Hand auf die Brust, und einer der Dartpfeile durchbohrte seinen Pullover. »Autsch!« Leo rieb sich die Stelle. »Den ganzen Tag lang habe ich Jordan mit keinem Wort erwähnt, und dann kommst du und streust Salz in die Wunde.«

»Entschuldige, aber ich dachte, du würdest von allen Leuten am ehesten verstehen, dass ich eine Beziehung suche, in der es um Gefühle geht.«

Mit ernster Miene nahm Leo das Ziel ins Visier, holte aus und ließ den Pfeil durch die Luft sausen. Er bohrte sich mit einem satten Plopp in das Board, haarscharf neben dem Mittelpunkt.

»O Mann, ich dachte schon, du hättest voll ins Schwarze getroffen.«

Leo nickte traurig. »Ich auch.«

Ich legte den Arm um seine Schultern und drückte ihn ganz fest. »Komm schon, immerhin hattest du eine richtige Beziehung, wenn auch nur vorübergehend. Ist doch besser, geliebt und verloren zu haben, als gar nicht geliebt worden zu sein, oder?«

Er neigte den Kopf zur Seite. »Hör auf mit dieser Klugscheißerei und besorg mir noch ein Bier.«

Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Es wird andere Männer in deinem Leben geben, Leo. Hinreißende, aufgeweckte Männer wie dich.«

Eine Sekunde lang wich der Sarkasmus aus seinem Gesicht, und ich sah echte Besorgnis in seinen Augen aufflackern. »Danke, Schwesterherz. Aber glaube ja nicht, nette Worte könnten mich ablenken. Du bist dran mit Bier holen.«

»Bin schon dabei«, sagte ich und wühlte in meiner Tasche nach Geld. Während ich die Drinks bestellte, verspürte ich einen gewissen Stolz. Dass ich nicht in Ryans Arme gesunken war, deutete ich als Zeichen dafür, wie sehr sich meine Persönlichkeit entwickelt hatte. Zwar hatte ich eine ganz schöne Durststrecke hinter mir, aber ich hielt mich gut und war bereit, auf den Mann zu warten, der das Yang zu meinem Ying darstellte.

Wem versuchte ich da eigentlich in die Tasche zu lügen? Just in diesem Moment hätte ich keine Sekunde gezögert, Mr Halb-Yang eine Chance zu geben, wenn er nur auf den richtigen Knopf drückte.

Wer küsst schon einen Weihnachtsmann?

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