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Katrin, Jens und der Wald

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Nachdem Luisa am Nachmittag vier geschlagene Stunden mit Mathe verbracht hatte, war wenigstens ein Teil der Aufgaben gelöst. Sie konnte sich einfach keinen Reim auf die vielen Zahlen machen. Wie sollte das bloß gehen? Luisa war total erleichtert, als ihre Mutter nach Hause kam. „Mama, schau mal, ist das so richtig?“ „Lass mich doch erst mal reinkommen, Luisa. Ich werfe dann gleich einen Blick darauf.“ Fünf Minuten später brütete ihre Mutter über den Aufgaben. Luisa hatte den Eindruck, dass sie ungefähr genauso viel verstand, wie sie selbst. „Also ich weiß nicht so recht. Ich hätte das anders gerechnet.“ Die Unsicherheit in Monis Blick machte deutlich, dass sie auch nicht so recht wusste, wovon sie eigentlich sprach. Außerdem war sie sichtlich abgespannt von der Arbeit. „Mama, lass mal. Ich lasse mir das Morgen von einer Bekannten erklären. Ich gehe morgen Nachmittag nach Katrin. Ich helfe ihr bei Chemie und sie mir bei Mathe.“ „Oh, das hört sich aber gut an.“ Die Erleichterung ihrer Mutter war kaum zu überhören. „Dann können wir jetzt aufhören?“ „Naja, drei Aufgaben fehlen noch. Wir haben morgen schon wieder Mathe. Ich muss das heute machen. Aber ich kämpfe schon seit Stunden damit.“ „Dann lass uns doch erst mal Abendbrot essen und dann zusammen in Ruhe noch mal drüber schauen.“

Nach dem Abendbrot ging es ein bisschen besser. Die Pause hatte gut getan. „Moni, nicht die Aufgaben kontrollieren, die ich schon gerechnet habe. Lass uns lieber die drei Aufgaben rechnen, die noch fehlen.“ „Also gut.“ Als sie schließlich alles zu Ende gerechnet hatten, war es eigentlich schon Zeit ins Bett zu gehen. „Lass uns noch ein bisschen fernsehen und abschalten. Sonst können wir beide gleich nicht schlafen.“ „Gute Idee.“ Ausnahmsweise durfte Luisa ausgerechnet wegen Mathe länger aufbleiben. Wer hätte das gedacht. Unglaublich.

Die Mathestunde wurde am nächsten Tag wieder ein Fiasko. Natürlich musste sie ihre Aufgaben vorzeigen. Bis auf eine Ausnahme waren alle Aufgaben falsch. Die ganze Arbeit umsonst. Frau Sommer guckte schon wieder komisch. Aber sie sagte nichts. Ein Glück. Jens grinste wieder. Typisch. Dieser Mistkerl. Der genoss es sichtlich, wenn Luisa Probleme hatte. Da stand auch noch eine Rache von vorgestern aus. Aber Luisa war heute viel zu müde und wenig einfallsreich. Jens war auch nicht einfallsreich, aber gemein. Luisa sah im letzten Augenblick aus dem Augenwinkel ein Bein, das hervorschnellte, als sie vorbei wollte. Sie konnte gerade noch ein Stolpern verhindern. Sie war kurz davor, sich auf ihn zu stürzen und sich mit ihm zu schlagen. Aber Frau Sommer war noch in Reichweite. Sie musste bei Frau Sommer einen guten Eindruck machen. Daran war nichts zu ändern. Jens würde heute davon kommen. Aber nicht mehr lange. So tröstete sich Luisa. Katrin war sehr gesprächig heute. Genau genommen redete sie ohne Unterlass. Egal. Hauptsache, Luisa war nicht mehr alleine.

Nachmittags stand Luisa dann bei Katrin vor der Tür. Katrins Mutter öffnete die Haustür. Anscheinend musste sie nicht arbeiten. „Du bist bestimmt Luisa“, sagte sie noch bevor Luisa irgendwas sagen konnte. „Ja, wir wollen zusammen lernen.“ „Das hört sich gut an. Komm rein. Katrin ist oben in ihrem Zimmer. Die Treppe hoch, oben die erste Tür rechts.“ „Okay, danke.“ Schick war es bei Katrin zu Hause. Man könnte sagen: edel. Oben angekommen, stand sie am Anfang eines großen Flures. Katrin guckte schon aus der Zimmertür. Also hatte sie wohl schon gehört, dass jemand gekommen war. „Hallo.“ „Hallo, komm rein.“ Luisa war baff. Sie stand in einem riesigen Zimmer, das mit allem, was sich ein Mädchen wünschen konnte, ausstaffiert war. Ein Computer, Spielzeug, Playstation, Musikanlage... da fehlte wirklich nichts. Unglaublich. So etwas hatte Luisa noch nicht gesehen. Luisa war die Überraschung anzusehen und Katrin schien es peinlich zu sein Sie schlug gleich vor, an dem großen Schreibtisch Platz zu nehmen. Da könne man am besten arbeiten. „Sollen wir denn gleich anfangen?“ „Klar, dann können wir es uns später gemütlich machen.“ „Gut das machen wir.“ „Womit fangen wir an?“ „Ich glaube dein mathematisches Problem ist drängender als meins in Chemie.“ „Das ist leider wahr.“ Dann fing Katrin an zu erklären und das konnte sie wirklich gut. Nach gar nicht so langer Zeit hatte Luisa verstanden, wie die Aufgaben gelöst werden mussten. War gar nicht so schwer, wenn man einmal das System grundlegend verstanden hatte. Katrin konnte das wirklich so erklären, dass Luisa es verstand. So einen Menschen hatte sie noch nie getroffen. Bisher war noch niemandem wirklich gelungen, ihr Mathe näher zu bringen. Das war wirklich irre. Innerhalb kürzester Zeit war Luisa in das gegenwärtige Kapitel in Mathe eingeführt und die Grundlagen waren verstanden. Mit dem Wissen konnte sie jetzt schon einige der Aufgaben, an denen sie gestern so lange gerechnet hatte, in kürzester Zeit selbst lösen. „Ich denke, wenn wir jetzt noch weiter machen, wird alles zu viel auf einmal. Wenn du das bis hierher wirklich verstanden hast, sollten wir es erst mal dabei belassen. Wir können uns ja bald mal wieder treffen, wenn du magst.“ Luisa war froh über die Unterbrechung. Sie war nämlich gerade dabei gewesen, den Überblick zu verlieren. „Ich denke, dass du Recht hast. Ich bin nicht mehr aufnahmefähig.“ Ihr Blick schweifte durch das Luxuskinderzimmer, dem sie bisher vor lauter Rechnerei gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. „Ist das alles deins?“ „Ja“, antwortete Katrin und es hörte sich nicht so glücklich an. „Wahnsinn. Du hast einen Computer. Hast du auch Spiele?“ „Klar.“ „Für die Playstation auch?“ „Ja.“ „Deine Eltern müssen echt viel Geld haben.“ „Weiß nicht so genau.“ „Ist das euer Haus hier? Das ist total riesig.“ „Ja.“ „Ist ja toll.“ „Ich weiß nicht. Es ist alles viel zu groß. Und was soll ich mit dem ganzen Zeug? Ich kann doch kaum mit allem mal spielen. Es ist viel zu viel.“ „Mmh.“ Der Gedanke war Luisa neu. Zu viele Sachen konnte es in ihren Augen gar nicht geben. „Sollen wir jetzt Chemie machen?“ „Können wir. Aber so richtig viel Lust habe ich nicht mehr.“ „Machen wir nur noch etwas. Schließlich schreiben wir bald einen Test. Vielleicht schon morgen.“ Jetzt war es an Luisa zu erklären. Da sie eine gute Chemielehrerin gehabt hatte, wusste sie viel und konnte es auch gut erklären. Der Nachmittag verging wie im Flug. Die beiden waren ganz vertieft. Erst als Katrins Mutter fragte, ob sie zum Abendessen kommen würden, wurde Luisa klar, wie lange sie schon hier war. Ihre Mutter war bestimmt inzwischen auch zu Hause und würde warten, dass sie nach Hause kommen würde. „Wie spät ist es denn?“ „Sieben Uhr.“ „Oh, je, es tut mir leid, aber meine Mutter wartet auf mich. Ich muss nach Hause. Es tut mir leid. Ich kann nicht zum Abendessen bleiben.“ „Aber deine Mutter weiß doch, dass du hier bist, oder?“ „Ja, klar. Das ist nicht das Problem. Aber ich habe gesagt, dass ich nicht so spät komme.“ Katrin guckte enttäuscht. Wie gerne hätte sie noch ein bisschen gequatscht. Aber das wurde wohl nichts. „Es tut mir leid Katrin. Ich muss nach Hause. Wir sehen uns morgen. Und vielen Dank, du hast mir wirklich geholfen. Tschüss.“ „Tschüss“, riefen Katrin und ihre Mutter hinter Luisa her, denn Luisa war schon auf dem Weg nach Hause. Als sie draußen war, rannte sie los. Moni würde warten. Außerdem genoss sie es immer, mit ihr zusammen Abendbrot zu essen. Es war immer schön, den Abend zusammen ausklingen zu lassen. Völlig außer Atem stand sie auf dem Treppenabsatz und schloss die Wohnungstür auf. Während des Abendessens erzählte sie ihrer Mutter vom Nachmittag. Während sie so erzählte, wurde ihr klar, wie sehr Katrin ihr geholfen hatte. Da war es schon reichlich unhöflich gewesen, einfach so davon zu rennen. Luisa hatte ein schlechtes Gewissen. Sie würde das morgen in der Schule wieder gerade biegen. Das nahm sie sich fest vor.

Und das war auch nötig, denn Katrin erschien am nächsten Morgen mit äußerst gedrückter Stimmung in der Schule. Sie sprach kein Wort. Luisa begrüßte sie wie immer. Katrin nickte nur stumm zurück. „Katrin, ich fand das total nett von dir, dass du gestern mit mir gelernt hast. Du hast mir sehr geholfen.“ „Ja, ja.“ „Ehrlich.“ „Ja, ist ja gut.“ „Es tut mir leid, dass ich gestern so einfach abgehauen bin. Aber ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass es schon so spät war. Meine Mutter hätte geschimpft, wenn ich zu spät nach Hause gekommen wäre. Sie macht sich immer so schnell Sorgen, weil sie nur mich hat. – Weißt du, ich habe keinen Papa.“ Katrin guckte sie ganz groß an. „Jeder hat einen Papa.“ „Rein biologisch werde ich wohl auch einen haben. Aber gesehen habe ich ihn noch nie. Ich weiß auch nicht, wer er ist. Mama redet nicht mit mir darüber. Keine Ahnung, warum. Aber wenn ich sie frage, wechselt sie immer schnell das Thema.“ „Na, Flämmchen, was gibt es denn wichtiges zu tuscheln? Du hast wohl in der Klassenstreberin deine neue Freundin gefunden? Da hast du ja eine tolle Wahl getroffen.“ Jens war also auch schon da. „Halt du dich da raus. Ich suche mir meine Freunde, wie ich will.“ Jens zog weiter zu seinem Platz, nicht ohne Luisa von oben bis unten mit einem verächtlichen Blick zu streifen. Die anderen Mitschüler, die sich neugierig zusammengestellt hatten, verzogen sich enttäuscht. Sie hatten eine spannendere Auseinandersetzung erwartet. Die Antipathie zwischen Jens und Luisa war ein offenes Geheimnis. Luisa wandte sich wieder Katrin zu. „Sag mal, Katrin, sollen wir uns vielleicht heute Nachmittag zusammensetzen und gemütlich quatschen? Hast du Zeit?“ Katrins Blick hellte sich auf. „Ja, gerne.“ Und damit schien der ganze Ärger von gestern vergessen. Das war gerade eben noch mal gut gegangen. Luisa brauchte Katrin, um nicht doch noch in Mathe Nachhilfe nehmen zu müssen. Außerdem war sie im Moment die Einzige, mit der sie überhaupt Kontakt hatte in dieser komischen Klasse. Da sie nicht in Kürze wieder wegziehen würde, war es auch wichtig, Freundschaften zu knüpfen. Und Katrin schien echt nett zu sein. Ein vielversprechender Anfang. Es war auch ein vielversprechender Tag heute. Heute war kein Mathe, dafür gab es Chemie und Sport. Fächer, die Luisa wirklich gut konnte. Beim Sport waren alle auf Beobachtungsposten. Die ganze Klasse schien darauf zu warten, dass sich Luisas Krankheit in irgendeiner Form äußerte. Aber auch heute passierte nichts. Die Geduld der Mitschüler wurde doch zu arg strapaziert. In der Pause auf dem Schulhof gesellte sich die Klassensprecherin zu Luisa und fing ein scheinbar harmloses Gespräch an. Die ganze Klasse war neugierig und sie war vorgeschickt worden, um irgendetwas herauszufinden. Auf Erkundung sozusagen. Luisa durchschaute das ganze und hielt sich mit ihren Äußerungen zurück. Kirsten war sichtlich enttäuscht. Sie hatte wohl geglaubt, sich auf irgendeine Art Luisas Vertrauen erschleichen zu können. Aber da war wohl erst mal kein Land zu gewinnen. Sie hatte ein bisschen über Jens hergezogen und dann gefragt, wo Luisa denn herkommen würde. Dann hatte sie ein wenig Interesse geheuchelt, als Luisa von Köln schwärmte. Mitfühlend hatte sie gesagt, dass es bestimmt nicht einfach wäre, sich neu einzuleben, wenn mal parallel dann noch mit einer Krankheit klarkommen müsste. Luisa hatte einfach nur ja, ja gesagt. Kirsten hatte nicht nachgelassen. „Was ist das denn eigentlich für eine Krankheit?“ hatte sie gefragt. „Das ist ein wunder Punkt. Darüber möchte ich nicht reden. Ich bin sicher, du verstehst das“, hatte Luisa mit zuckersüßer Stimme geantwortet. Kirsten hatte verständnisvoll genickt und war mit ihrem Latein am Ende. „Ich will noch kurz mit Angelika was besprechen. Wir wollen heute noch etwas zusammen unternehmen. Bis später.“ Damit war sie verschwunden. Sie verschwand in einem Knäuel von Mädchen, die schon unruhig auf sie gewartet hatten. Zu erfahren, war allerdings nichts, worauf sich die Gruppe schnell zerstreute. Luisa stand wieder allein auf dem Schulhof. Sie sah sich nach jemandem um, den sie kannte. Alle Klassenkameraden standen irgendwo in kleinen Grüppchen zusammen. Die Jungs rasten über den Schulhof und spielten Fangen, wobei Jens sie natürlich anrempelte Als er beim nächsten Mal Kurs auf ihre Person nahm, ging sie im letzten Augenblick einen Schritt zur Seite und vergaß dabei einen Fuß... Jens lag der Länge nach auf dem Schulhof. Als er aufstand bluteten seine Knie. „Du dumme Kuh, kannst du nicht aufpassen? Das hast du extra gemacht.“ Zornig blitzte er sie aus seinen braunen Augen an. “Dafür kann ich nichts. Du musst eben aufpassen, wo du herläufst.“ „Das wirst du mir büßen“, rief er und verschwand Richtung Pausenaufsicht. Er redete auf die Lehrerin ein, jammerte ihr etwas vor und zeigte dann auf Luisa. Die Lehrerin winkte Luisa zu sich. „Was hast du dir denn dabei gedacht? Schau dir mal an, wie seine Knie aussehen.“ „Was kann ich denn dazu? Ich stehe hier auf dem Schulhof. Er wollte mich umrennen. Ich bin gerade noch zur Seite gesprungen, aber wohl nicht mehr ganz weg gekommen. Es tut mir leid, wenn er dadurch gestolpert ist, aber das ist ja wohl seine eigene Schuld.“ Die Lehrerin kannte Jens, wusste aber nicht, was sie mit Luisas Aussage anfangen sollte. Für einen Moment schaute sie unschlüssig von einem zum Anderen. „Sollte noch einmal so etwas vorfallen, bekommt ihr beide eine Strafarbeit. Jens, du gehst jetzt ins Sekretariat und lässt dich verarzten.“ Jens setzte an, um zu protestieren, ließ es aber dann doch lieber bleiben. Bei Frau Schmidt war so etwas sinnlos. Er zog ab, obwohl er sich nichts lieber gewünscht hätte, dass Luisa bestraft worden wäre. Luisa guckte die Lehrerin entgeistert an. „Warum schimpfen Sie mit mir? Ich bin unschuldig. Ich habe nichts getan. Das ist ungerecht.“ „Ich habe euch zufällig beobachtet und weiß, dass ihr beide nicht unschuldig seid.“ „Aber er hat mich angegriffen. Ich muss mich doch wehren.“ „Er hat dich nicht angegriffen. Er ist auf dich zugerannt. Und das ist kein Grund ihm ein Bein zu stellen. Er wollte dich anrempeln und du hast ihn verletzt. Das macht einen Unterschied. Du hättest einfach nur zur Seite gehen können und die Sache wäre erledigt gewesen.“ „Wie soll er denn dann merken, dass er nicht alles mit mir machen kann?“ „Das hätte er wohl auch gemerkt, wenn du ihm ausgewichen wärst.“ „Aber..“ „Es ist jetzt genug. Was du gerade getan hast, war nicht richtig. Denk darüber nach und hör auf mit mir zu diskutieren.“ Entnervt ging Luisa weg, bevor sich alles noch komplizierter entwickelte. Aber ungerecht war das Ganze schon. Die Alte wusste genau, dass sie neu war und sich durchsetzen musste. Das war schließlich immer so. Was für ein Ärger.

Dann hatte sie sich heute auch noch mit Katrin verabredet. Inzwischen fand sie die Idee schon gar nicht mehr so gut. In den Stadtpark würde sie heute garantiert nicht mehr kommen. Heute war Donnerstag. Vielleicht konnte sie morgen vorm Wochenende noch einen Abstecher machen. Wenn sie das nicht schaffen würde, könnte sie erst nächste Woche einen neuen Versuch starten. Am Wochenende würde sie sich garantiert nicht abseilen können. Dann würde ihre Mutter etwas mit ihr unternehmen wollen. Dann würde sie bis Montag warten müssen. Drei lange Tage. Mit heute waren es vier. Hoffentlich würde sie das morgen schaffen. Morgen, morgen musste sie den Weg in den Wald wiederfinden. Irgendwie musste sie das schaffen. Der konnte doch nicht weg sein. Sie war doch schließlich dort gewesen und hatte ihn mit ihren eigenen Augen gesehen. Sie war dort gewesen. Sie hatte den kleinen flüsternden Bach gesehen und das Moos und das zarte Grün und die hohen Bäume, durch die sich mühevoll die Sonnenstrahlen kämpften. Dieser Wald, der so wunderschön und verzaubert war...

Die Schulglocke schrillte. Englisch. Englisch schleppte sich so dahin. Luisa überlegte fieberhaft, wo denn der Weg gewesen war und warum sie heute nicht dorthin konnte. Schließlich hatte sie gestern schon mit Katrin herumgehangen. Heute schon wieder. Sie wollte doch eigentlich etwas ganz anderes machen. Es war doch einfach ätzend hier. Warum konnten sie nicht wieder umziehen? Warum musste diese schöne Wohnung, in die sie jetzt ziehen wollten, ausgerechnet in Kleinstadt sein? Köln wäre viel besser gewesen. Die Welt war so ungerecht. Hier würde sie nie glücklich werden.

Sie bekam gerade noch mit, wie die Anderen die Bücher herausholten. Dann würde sie das wohl auch tun. Verflixt sie hatte schon wieder nicht zugehört. Welche Seite sollte sie denn aufschlagen? Sie warf einen Blick nach Katrin, die schon mitbekommen hatte, dass sie schon wieder in Gedanken ganz weit weg war. Katrin hielt ihr Englischbuch so, dass Luisa bequem sehen konnte, welche Seite aufgeschlagen war. Luisa ärgerte sich über sich selbst. Sie musste ein bisschen mehr aufpassen, sonst würde sie hier auch bald ins Fettnäpfchen treten. Luisa hatte sich gerade noch rechtzeitig aufgerafft, denn kurz danach war sie dran und sollte etwas vorlesen. Jens quittierte mal wieder jeden Fehler mit Gelächter. Dieser miese Typ. Die Lehrerin hatte das auch mitbekommen und machte ihm klar, dass er sich seiner Kommentare enthalten sollte. Na, wenigstens etwas. Ein kleiner Lichtblick. Das Klingeln zum Schulschluss kam Luisa heute wie eine Erlösung vor. Sie packte schnell ein und war eigentlich auch schon verschwunden, als ihr einfiel, dass sie mit Katrin noch nichts abgemacht hatte, wann und wo sie sich treffen wollten. Da kam Luisa ein guter Gedanke: „Wir können uns doch im Stadtpark treffen, dort gemütlich herumbummeln und ein Eis essen gehen.“ Katrin war sofort einverstanden. „Hört sich gut an. Um wie viel Uhr treffen wir uns denn?“ „Ich kann erst um drei Uhr.“ „Okay, dann um drei Uhr. Vor der Eisdiele?“ „Gut, prima. Bis nachher.“ „Bis nachher“, rief Katrin und Luisa stürmte davon. Endlich raus hier. Sie hatte die Nase so voll von dieser Schule. Es war wirklich ätzend hier. Also nichts wie weg. Je schneller, um so besser und um so weniger Jens. Außer Atem stand sie kurz darauf vor der Wohnungstür und kramte nach ihrem Schlüssel. Sie war immer noch etwas wütend wegen Jens. Aber sie war auch stolz auf sich. Die Idee mit Katrin im Park herumzulaufen, war einfach genial. Dann konnte sie so tun, als würde sie sich nicht auskennen und sich alles von Katrin zeigen lassen. Und dann, ja dann würde sie endlich wissen, wo es in den Wald ging. Verraten würde sie nichts. Sie würde einfach so tun, als ob sie von nichts wüsste. Ein guter Plan. So konnte sie den Park erforschen und die Wogen in ihrer Beziehung zu Katrin wieder glätten. Es war jetzt ein Uhr und bis drei würde sie die ganzen Aufgaben fertig haben. Sie machte sich ihr Essen warm, schaute dabei ein wenig zu lange Fernsehen, machte sich dann aber ganz tapfer an die Hausaufgaben. Kurz vor drei hatte sie es tatsächlich geschafft und sauste gleich los, damit Katrin nicht warten musste. Vielleicht würde sie bald wieder im Wald stehen. Sie konnte ihre Aufregung kaum bändigen. Zuerst einmal stand sie allerdings mit Katrin in der Schlange vor der Eisdiele. Auch andere Leute hatten die gute Idee gehabt, bei dem schönen Wetter im Stadtpark ein Eis zu essen. Als sie endlich das Eis in der Hand hielten, steuerte Katrin auf die nächste freie Bank zu. Das war überhaupt nicht im Sinne des Erfinders. „Sollen wir nicht ein wenig durch den Park laufen?“ schlug Luisa vor, „Du könntest mir hier alles ein bisschen zeigen. Ich kenne mich hier noch gar nicht aus und ich bin schon immer gerne spazieren gegangen.“ „Ehrlich? Also ich finde spazieren gehen blöd. Außerdem gibt es hier nichts zu sehen.“ „Wie, hier gibt es nichts zu sehen?“ „Was glaubst du, wo du hier bist? Was erwartest du von einer Stadt, die so klein ist, wie diese? In Köln mag es einen tollen Stadtpark geben. Hier nicht.“ „Oh.“ Luisa war enttäuscht. Und Katrin bemerkte es. „Wir können ja erst in Ruhe unser Eis essen und dann zeige ich dir alles. Es wird nicht lang dauern, aber wenn dir so viel daran liegt, können wir natürlich ein wenig hier herumlaufen.“ Das hörte sich schon besser an und Luisas Miene hellte sich auf. Also mampften sie ihr Eis und dann machte Katrin die Fremdenführerin. „Also hier ist die größte Eiche unseres Waldes und dort die tollste Bank. Dort hinten treiben sich meist die Penner herum und da vorne geht es wieder in die Einkaufszone.“ „ Und wo geht es dort hin?“ „Ins nirgendwo.“ „Was?“ „Der Weg geht nicht weiter. Der hört einfach an einem Zaun auf. Keine Ahnung, was dahinter ist.“ Luisa wurde nachdenklich. Katrin hatte ihr wirklich den ganzen Park in einer Viertelstunde gezeigt. Sie waren jeden Weg gegangen. Und Luisa fragte sich inzwischen immer mehr, ob sie an besagtem Tag nicht eingeschlafen war und vom Wald geträumt hatte. Hier war definitiv keiner zu entdecken. Sie konnte sich nicht mehr an die Richtung erinnern, in die sie damals gegangen war. Aber so viel war klar: In diesem Park gab es keinen Wald. Dieser Zauberwald musste wohl nur in ihrer Fantasie bestehen. Dabei war sie sich so sicher gewesen, dass sie wirklich dort gewesen war und das weiche Moos unter ihren Füßen gespürt hatte und das leise Plätschern des Baches gehört hatte. Luisa war enttäuscht und frustriert. Aber zumindest hatte sie an diesem Nachmittag einen guten Überblick über die Stadt gewonnen, da Katrins Sightseeing-Tour auch den Rest der Stadt mit einschloss, weil der Stadtpark wirklich nicht so viel hergab.. Katrin spielte ihre Rolle als Fremdenführerin nicht nur sehr gut, sondern hatte auch sehr viel Humor. Schließlich saßen die Beiden einfach nur auf einer Bank und quatschten, was das Zeug hielt. Luisa hatte sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. Endlich hatte sie mal jemanden gefunden, mit dem man sich unterhalten konnte. Sie hatte Katrin schließlich von der hässlichen Szene auf dem Schulhof erzählt. Katrin konnte ihren Ärger verstehen und fand Jens auch ziemlich unausstehlich. Luisa fühlte sich zum ersten Mal in Kleinstadt ein wenig aufgehoben und wohl. Auch Katrin genoss den gemeinsamen Nachmittag. Luisa war sehr zufrieden. Da schien sich eine Freundschaft anzubahnen. Das war sicher nicht verkehrt, da ihre Mutter plante das bisherige Vagabundenleben zu beenden. Das hatte sie versprochen. So schöpfte Luisa Hoffnung, dass nun endlich Ruhe in ihr Leben einkehren würde. Endlich würde sie wie normale Schüler Freunde haben und ein normales Leben führen und nicht immer auf gepackten Koffern sitzen.

Gut gelaunt kam Luisa etwas zu spät zu Hause an. Ihre Mutter hantierte gerade in der Küche herum. „Du kommst spät.“ „Ja, ich war mit Katrin verabredet. Es war ein wirklich netter Nachmittag. Ich glaube, ich habe eine neue Freundin gefunden.“ „Das hört sich gut an. Hast du denn deine Hausaufgaben alle fertig?“ „Ja, wir hatten heute nicht so viel auf.“ „Was hattest du denn auf?“ „Englisch und so ein bisschen Kleinkram.“ „Zeig mal. Ich habe gerade noch einen Moment Zeit bis das Essen fertig ist.“ Luisa kramte nach ihren Heften. Ihre Mutter hatte wohl wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie immer so lange arbeiten musste und so wenig Zeit für Luisa hatte. Dann fragte sie immer nach den Hausaufgaben. Heute fand Luisa das besonders unpassend. Sie hatte erwartet, dass sich ihre Mutter mit ihr freut, weil sie endlich Kontakt zu anderen Menschen hier in Kleinstadt hatte. Aber falsch. Heute warf Moni nicht nur einen flüchtigen Blick auf die Aufgaben, sondern wollte auch noch alles ganz genau wissen. Dann begann sie eine endlose Diskussion darüber, ob das denn auch so richtig sei und ob Luisa nicht ordentlicher schreiben könne und so weiter und so fort. Luisa hörte bald nicht mehr hin. Warum musste man ihr immer den Tag verderben? Konnte es nicht einfach einmal ein guter Tag sein? Immer war irgendetwas anderes. Heute hatte sie mit Jens schon genug Ärger gehabt in der Schule. Die gute Stimmung vom Nachmittag war wie weggeblasen. Schließlich saßen beide schweigend beim Abendessen. Luisa war froh, als danach der Fernseher angeschaltet wurde und somit weitere Gespräche auf ein Minimum reduziert wurden. Ihre Mutter hatte wohl schlechte Laune heute. Die hatte sie jetzt auch wieder. Luisa ging unter einem Vorwand früh ins Bett. Dort grübelte sie im Dämmerlicht über ihren Skizzen aus Erdkunde und überlegte, wie es denn sein konnte, dass dieser Wald anscheinend nicht zu existieren schien. Das wollte ihr überhaupt nicht in den Kopf. Das konnte doch nicht sein. Oder doch? Als sie die Schritte ihrer Mutter hörte, löschte sie schnell das Licht. Wenn Moni sie heute erwischen würde, wenn sie statt zu schlafen hier noch Licht an hatte und über irgendwelchen dubiosen Skizzen grübelte, das wäre bei ihrer Laune bestimmt nicht gut. Schließlich hatte sie schon ein wenig Müdigkeit vorgetäuscht, um aus dem Wohnzimmer und der schlechten Stimmung zu entkommen. Moni würde das als glatte Lüge auslegen und Hausarrest aussprechen. Bei schlechter Laune ging so etwas immer schnell. Und dann würde Luisa für die nächsten Tage weder Spaß mit Katrin haben, noch Gelegenheit finden, den Wald zu suchen. So ganz konnte sie immer noch nicht aufgeben.

Schließlich schlief sie ziemlich spät ein.

Eine Minute später schüttelte sie etwas. „Was ist denn los, Mama?“ „Was los ist? Aufstehen! Du bist vielleicht ein Langschläfer. Du warst gestern so früh im Bett und schläfst immer noch wie ein Stein. Anscheinend hast du den Wecker gar nicht gehört.“ Oh, nein. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Schon wieder aufstehen. Schon wieder Schule... Wahrscheinlich war sie so müde gewesen, dass sie sofort fest eingeschlafen war und die Nacht ihr wie so kurz wie eine Minute erschienen war. Sie stand aber trotzdem ohne zu zögern auf. Sie sprang in ihre Jeans, wusch sich und erschien kurz darauf zum Frühstück. Sie schaffte es irgendwie zu frühstücken, ohne gleich wieder einzuschlafen. Sie sah total blass aus heute. Aber Moni schien das nicht zu bemerken. Wenn bloß dieser Tag erst vorbei wäre. Sie war einfach viel zu spät ins Bett gegangen gestern. Die Grübelei über den Wald hatte sie wach gehalten. Heute morgen bei Tageslicht erschien ihr das alles ziemlich lächerlich. Jetzt hatten ihr schon zwei Leute unabhängig voneinander bestätigt, dass der Stadtpark nicht größer war und dass dort kein Wald existierte. Wie konnte sie sich da die halbe Nacht um die Ohren schlagen und sich irgendwelchen Fantasien hingeben und immer wieder versuchen, den Weg zu rekonstruieren, den sie an besagtem Nachmittag gegangen war. Absoluter Blödsinn. Humbug. Sie würde diese ganze Idee begraben. Das hatte alles keinen Sinn. Jetzt würde sie heute in der Schule wieder total aufpassen müssen, sich nicht zu blamieren. Wenn man müde war, ging so etwas immer schnell. Kurze Zeit später saß sie wieder neben Katrin und kämpfte darum, nicht einzuschlafen. Erdkunde war nie anders als langweilig gewesen, aber wenn man so wenig geschlafen hatte, war es kaum auszuhalten. Katrin warf ihr besorgte Blicke zu, weil sie bemerkt hatte, wie blass Katrin heute zur Schule erschienen war. Ob das etwas mit ihrer Krankheit zu tun hatte? Nach Erdkunde folgte Chemie. Chemie war auch in verschlafenem Zustand für Luisa zu meistern. Angst hatte sie vor der Mathestunde. Sie hoffte nur, dass sie da nicht schon wieder in irgendeiner Form unangenehm auffallen würde. Aber irgendwie ging auch die Mathematikstunde ohne große Vorkommnisse vorüber. Auch den Rest des Unterrichts brachte sie irgendwie hinter sich. Die Klassenkameraden tuschelten wieder. Auch ihnen war aufgefallen, dass Luisa heute so blass aussah und so schlapp drauf war. Das lag bestimmt alles an der Krankheit. Eine der Mädchen fragte Katrin, ob sie wisse, was mit Luisa los sei. Aber Katrin sagte dazu gar nichts. Als es klingelte, machte sich Luisa sofort auf den Weg nach Hause. Dort ruhte sie sich erst mal aus. Als Moni abends nach Hause kam, hatte sie Neuigkeiten zu berichten. Für die neue Wohnung hatte sie heute Mittag in der Pause den Kaufvertrag unterschrieben. Beide waren begeistert und planten den ganzen Abend, wie die neue Wohnung eingerichtet werden sollte. Sie brüteten über dem Grundriss der Wohnung, teilten Zimmer auf und überlegten, welche Möbel man neu anschaffen könnte, wie man das ganze einrichten könnte, welche Tapete, welcher Teppich und so weiter und so fort. Auf die Art war es bald schon sehr spät und Luisa fiel müde ins Bett. Glücklich und erschöpft schlief sie ein.

Das Wochenende verbrachten sie zusammen. Pläne wurden geschmiedet, Möbelläden aufgesucht und im Kino waren sie auch. Es war so richtig schön. Moni war total entspannt und froh, dass das Vagabundenleben endlich ein Ende hatte. Der neue Arbeitsplatz war zwar etwas anstrengend, aber wohl auch recht zufriedenstellend, so dass das neue Leben gute Formen annahm. Auch war sie froh, dass Luisa sich schon recht gut eingelebt hatte und mit Katrin wohl auch schon eine erste Freundschaft geschlossen hatte. Das war doch alles recht passabel. Diese Gelöstheit übertrug sich auch auf Luisa. Die Vorfreude auf die neue Wohnung und die Begeisterung beim Einrichten und Pläne schmieden, hatte beide erfasst. So wurde es ein erstklassiges Wochenende und der Frust am Sonntag Abend war dementsprechend groß. Wer hat schon Lust wieder zu lernen nach einer so netten Zeit? Moni hatte Luisa als total gleichberechtigt behandelt, viele Ideen von ihr aufgenommen und sie wie eine Erwachsene an allen Entscheidungen beteiligt. Das hatte richtig gut getan. In der Schule würde Luisa wieder das kleine dumme Mädchen sein, das wenig Ahnung hatte, viel lernen musste und natürlich die Neue, die keiner mochte und keiner wollte. Dann war da zu allem Überfluss auch noch der Ärger mit Jens, der zweifellos nicht lange auf sich warten lassen würde. Luisa war so lustlos wie nie. Sollte sie überhaupt hingehen? Sie könnte doch einen Tag vielleicht noch frei machen. Sie war doch letzte Woche ziemlich oft in der Schule gewesen. Aber Montags war Mathe und die Mathelehrerin würde es sicher komisch finden, wenn sie nicht kommen würde. Das war nicht so eine Pflaume wie der Erdkundelehrer, der einfach dummes Zeug quatschte, oder die Englischlehrerin, die immer noch nicht so recht wusste, wer Luisa überhaupt war und der es wahrscheinlich gar nicht auffallen würde, wenn sie nicht erscheinen würde. Schon allein wegen der Mathelehrerin sollte sie dort auftauchen. Sicher war es auch nett, Katrin wiederzusehen. Nicht zuletzt könnte es doch irgendwann mal auffallen, dass sie blau machte. Die gute Stimmung zu Hause mit Moni wollte sie sich nicht verderben. Also musste sie wohl oder übel dorthin. Ein kleiner Trost war, dass Moni auch keine Lust hatte.

Der Schultag war letztendlich viel besser als befürchtet. Der Unterricht war nach vier Stunden beendet. Manchmal laufen die Dinge eben viel besser, als man erwartet. Diesmal lag der Grund für das frühzeitige Ende nicht darin, dass Luisa keine Lust mehr hatte und einfach gegangen war, sondern darin dass eine Lehrerin krank geworden war. Das war doch gar nicht so schlecht. So viel Zeit. Hausaufgaben gab es nur in Mathe. Luisa fragte Katrin, ob sie Zeit hätte, was zu unternehmen, aber Katrin hatte montags immer Klavierunterricht und danach noch Ballett. So was blödes. Luisa wollte nicht gerne den ganzen Tag allein sein. Außerdem hatte es so gut getan, sich mit Katrin zu unterhalten. Aber da war wohl nichts zu machen. „Wir können uns morgen treffen“, schlug Katrin vor. Luisa war natürlich einverstanden. Das war schon mal eine Perspektive. Für heute ging sie erst mal nach Hause, machte sich das Mittagessen warm und kämpfte mit den Matheaufgaben. Etwas besser ging das seit der Nachhilfestunde bei Katrin, aber der Durchbruch war es immer noch nicht. Irgendwie hatte sie es schließlich geschafft. Sie kaufte sich im Stadtpark ein Eis und legte sich danach unter die große Eiche. Hier war es einfach schön. Sie liebte diesen Park. Luisa war auf einmal wieder im Wald. Der Zauberwald. Der Wald, den sie so lange gesucht hatte. Er war viel schöner als sie ihn in Erinnerung hatte. Sanft schien das Sonnenlicht durch die Zweige und leise plätscherte der Bach am Wegesrand. Von den Bäumen hingen Flechten und ein paar kleine weiße Blümchen reckten sich mühevoll dem wenigen Sonnenlicht entgegen, das durch die Zweige fiel. Der Boden war weich. Der Weg federte unter Luisas Schritten. Das waren wohl die Tannennadeln und das Moos. Die Luft war rein und klar. Das Laub duftete, wenn die Sonne darauf schien. Luisa lief weiter und weiter und wurde immer glücklicher, leichter und entspannter. Die Welt schien nur noch aus diesem Wald zu bestehen. Es schien kein Morgen, keine Mutter, keine Hausaufgaben, keine Schule mehr zu geben. Es gab nur noch Luisa und den Wald und dieses Gefühl der Gelöstheit und Entspannung. Wohltuend stieg Luisa eine Duftwolke Waldmeister in die Nase. Den Geruch hatte sie schon immer gerne gemocht. Tief atmete sie ein. Sie kam an eine kleine Lichtung und setzte sich dorthin. Sie nahm einfach die ganze Umgebung in sich auf. Ein tiefes Gefühl von Glück und Geborgenheit machte sich in ihr breit. Die Vögel sangen leise und Luisa hörte auf die Geräusche des Waldes. Wie herrlich war es hier. Luisa war bemüht, keinen Eindruck zu verpassen. Sie beobachtete ein Vogelpärchen, das in den Zweigen turtelte und schaute zu, wie eine Spinne an ihrem Netz wob. Nach einer ganzen Weile ging sie weiter. Der Wald war so reizvoll und sie konnte nicht wiederstehen. Sie musste mehr davon sehen. Weiter und weiter führten sie ihre Schritte tiefer in den Wald. Plötzlich stolperte sie über einen Ast. Das rumste gewaltig an ihrem Schienbein. Dann noch mal. Verflixt, worüber war sie denn gestolpert? Da war doch nichts zu sehen. Schon wieder dieser Schmerz. Jetzt sagte jemand ihren Namen. „Hey, Luisa du Penntüte.“ Schon wieder der Schmerz am Schienbein Was war das ? Luisa schüttelte den Kopf um Klarheit zu gewinnen. „Hey, Flämmchen!“ Jetzt war die Sache klar. Das war Jens Stimme. Aber was machte Jens hier im Wald? Sie spürte schon wieder den Schmerz am Schienbein. „Die ist aber tranig.“ „Unser Flämmchen ist wohl heute ganz ohne ihre boshafte Energie?“ Luisa musste genauer hinsehen, wer das alles war. Sie öffnete richtig die Augen. Das war Jens mit seinen Kumpels. Luisa schluckte. Ausgerechnet hier. Mitten im Wald musste sie den treffen. Sie hatte Angst. Wer sollte ihr hier helfen? Sie war denen hilflos ausgeliefert und die waren auch noch in der Überzahl. Wieder dieser Schmerz im Schienbein und dann in den Haaren. Diese miesen Typen. Die waren das. Luisa war nie über eine Baumwurzel gestolpert. So langsam sickerten klare Gedanken in Luisas Kopf. Luisa sah sich um und suchte nach einem Fluchtweg. Sie könnte den Weg zurückrennen. Am besten wäre es, den gleichen Weg benutzen, auf dem sie gekommen war. Auf die Art könnte sie sich auch nicht verlaufen und sicher den Stadtpark wiederfinden. Luisa sah sich um und blickte ins Blätterdach einer Eiche. Sie setzte sich hin. Am Boden liegend war sie schließlich total hilflos. Das musste gründlich geändert werden. Sie stand auf. Sie ließ den Blick schweifen und war verwundert: Sie war im Stadtpark. Sie war nicht alleine und war diesen Jungs nicht mitten im Wald alleine begegnet. Ein Glück. Sie stand unter der großen Eiche, unter die sie sich vorhin gelegt hatte. Langsam begann sie zu verstehen. Der Wald war ein Traum gewesen und Jens hatte sie mit seinen Kumpels schlafend aufgestöbert und die Situation natürlich ausgenutzt. Das war gemein. Er hatte ihr nicht nur derbe weh getan – Luisas Schienbein färbte sich gerade blaugrün – sondern er hatte sie auch aus diesem wundervollen Traum geholt. Letzteres konnte Luisa wirklich gar nicht verzeihen. Wie eine Furie stürzte sie sich auf Jens, so dass seine Kumpels erschreckt zurückwichen und sich überlegten, dass das eigentlich Jens Schlachtfeld war und nicht das ihre. Mit so einem wilden Mädchen wollten sie lieber nichts zu tun haben. Die war ja total außer Rand und Band. Nicht auszudenken, wenn man die mal alleine treffen würde... Luisa prügelte auf Jens ein und versorgte ihn auch mit dem einen oder anderem blauen Fleck. Dann rannte sie davon. Bevor die anderen Jungs überlegen konnten, ob sie sich nicht doch noch einmischen wollten, war die Szene beendet.

Völlig außer Atem und leicht zitternd stand Luisa kurz darauf vor der Wohnungstür. Sie bekam es kaum fertig, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, so aufgeregt war sie. Ihre Haare standen wild in alle Richtungen. Von einer Frisur war nichts mehr zu erkennen. Ihr Herz schlug bis zum Hals hinauf. Endlich öffnete sich die Tür, die sie dann erleichtert hinter sich ins Schloss fallen ließ. Zielstrebig ging sie in ihr Zimmer. Sie war fix und fertig. Sie schaute an sich herunter und stellte fest, dass ihre Schienbeine wirklich fürchterlich aussahen. Außerdem blutete sie an einigen Stellen. Arme und Beine hatten einige Kratzer bekommen. Hoffentlich sieht Jens genauso aus, dachte sie grimmig. Dieser miese Kerl. Wie unfair. Dieser schöne Traum, aus dem er sie so brutal geholt hatte. Es war so wundervoll gewesen in dem Wald. So zauberhaft. Sie kochte immer noch vor Wut, dass er sie aus diesem wundervollen Traum geholt hatte. Ein Traum. Es war wohl doch ein Traum gewesen. Wahrscheinlich war sie beim ersten Mal im Park, als sie schon einmal im Wald gewesen war, genauso eingeschlafen. Da wurde jetzt alles klar. Kein toller Wald in Kleinstadt. Nur ein kleiner Stadtpark. Es machte also keinen Sinn weiterzusuchen. Die Idee musste sie wohl begraben. War auch seltsam genug gewesen, dass sie auf einmal so scharf auf Waldspaziergänge gewesen war. Das sah ihr gar nicht ähnlich. So etwas ist spießig. Das macht man nicht als weltoffene Ex-Kölnerin. Das war sie ihrem Image schuldig. Nachdenklich ließ sie sich aufs Bett fallen. Aber diese Faszination, die dieser Wald gehabt hatte, war schon etwas besonderes gewesen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Mysteriös. Außerdem hatte sie dann schon dreimal ziemlich exakt das gleiche geträumt. Heute war sie so weit gekommen, wie noch nie zuvor. Wenn dieser blöde Jens nicht gewesen wäre... Wer weiß, was sie dann noch alles erlebt hätte im Wald. Eins war klar. Heute hatte Jens sich eine erbitterte Feindin gemacht. Bisher war alles noch nicht so ernst gewesen, aber ab sofort wird alles anders werden. Das nahm sich Luisa fest vor. Sie würde Jens das Leben zur Hölle machen. So konnte er nicht mit ihr umspringen. Sie würde ihm erst mal Respekt beibringen. Luisa erklärte ihm den Krieg. Sollte er doch sehen, was er da angerichtet hatte. Jetzt war er endgültig zu weit gegangen. Der würde sich noch umschauen. Gleich morgen würde sie ihm einen Streich spielen. Aber was? Wie könnte sie ihm richtig Probleme machen? Bei der Mathelehrerin konnte man am schnellsten ins Fettnäpfchen treten. Wie konnte sie das hinbekommen? Ha, ganz einfach. Sie würde ihm heimlich sein Hausaufgabenheft aus der Tasche nehmen und nach der Mathestunde wieder hinein stecken. Dann würde noch nicht einmal der Verdacht auf sie fallen. Das konnte er sich denken, aber beweisen konnte er nichts. Er würde an sich selbst zweifeln, wenn das Heft erst nicht da wäre und dann wie aus dem Nichts wieder auftauchen würde. Da würde er bestimmt ganz gut Ärger bekommen, vor allem, wenn sie das ein paar Mal hintereinander machen würde. Wahrscheinlich müsste Katrin ihr helfen und ihn ablenken. Aber vielleicht war das auch gar nicht nötig. Sie musste einfach schneller aus der Pause zurück sein als er und alle anderen. Oder sie könnte gleich in der Pause drin bleiben, oder zumindest so lange, bis sie unbeobachtet sein Heft nehmen könnte. Ja, das war gut. Katrin würde so etwas bestimmt nicht gutheißen und ihr dementsprechend auch nicht helfen. Sie konnte ja unmöglich verstehen, wie toll der Traum gewesen war, aus dem er sie gerissen hatte. Sie hatte ja keine Ahnung. Dabei sollte es vorerst auch bleiben. So gut kannten sie sich schließlich noch nicht. Als der Racheplan stand, fühlte sich Luisa etwas besser. Ihre Erscheinung war allerdings immer noch schreckenerregend, so dass sie erst mal ins Bad ging und unter die Dusche sprang. Ihre Mutter musste sie so nicht sehen. Das war auf jeden Fall besser so. Also zog sie nach dem Duschen eine lange Hose an und von dem ganzen Vorfall war nichts mehr zu sehen. Das war aber nur äußerlich. Innerlich war Luisa immer noch aufgewühlt und fasziniert von dem Wald, von dem sie geträumt hatte und natürlich immer noch ärgerlich auf Jens.

Traumland - Reise in eine andere Welt

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