Читать книгу Traumland - Reise in eine andere Welt - Carmen Löbel - Страница 5

Die Situation in der Schule spitzt sich zu.

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Am nächsten Morgen stand Luisa schwungvoll auf und freute sich zum ersten Mal auf ihre Mathestunde. In der dritten Stunde war es so weit. Nach der zweiten Stunde räumte Luisa in Zeitlupe ihre Sachen zusammen, so dass es bald schon ziemlich leer war in der Klasse. Katrin stand neben ihr und wartete. „Du kannst ruhig schon gehen. Du musst nicht auf mich warten. Ich brauche noch einen Moment.“ „Kein Problem. Ich habe ja Zeit.“ Das passte Luisa überhaupt nicht in den Kram. Aber sie wollte Katrin auch nicht einweihen. Also gingen sie zusammen auf den Schulhof. Vielleicht musste sie einfach etwas Geduld haben. Vielleicht klappte es Morgen. Es war wohl am Ende doch nicht so einfach wie sie gehofft hatte, Jens das Heft zu stibitzen. Also stand Luisa, wie in letzter Zeit immer öfter mit Katrin zusammen. Katrin redete mal wieder wie ein Buch. Dass sie ja gestern Ballett gehabt hätte und ob Luisa nicht auch Lust dazu hätte. Sie könne ja mal mitkommen. Luisa war etwas genervt und verabschiedete sich auf die Toilette. „Ich komme mit“ , meinte Katrin, „Ich muss auch.“ Sogar während sie auf dem Klo saßen, hörte Katrin nicht auf zu erzählen. „Sollen wir uns heute eigentlich treffen?“ Eigentlich hatte Luisa keine Lust, aber da sie das gestern schon so abgesprochen hatten, sagte sie: „ Au, ja, lass uns das machen. Willst du mich mal besuchen?“ Katrin war begeistert. „Oh, ja gerne,“ antwortete sie. „Wann soll ich denn kommen?“ „Drei Uhr?“ „Ja, das ist super.“ „Vielleicht können wir dann auch ein bisschen Mathe machen. Ich hänge schon wieder ein wenig.“ „Kein Problem“, meinte Katrin, aber man hörte ihrer Stimme an, dass sie lieber nicht den Nachmittag mit Mathe verbringen wollte. „Wir müssen nicht so viel machen, nur ein wenig.“ „Ist schon in Ordnung.“ Endlich klingelte es. Katrin und Luisa waren nicht die letzten, die in die Klasse kamen, aber es gab überhaupt keine Gelegenheit unbeobachtet an Jens Tasche zu kommen. Keine Chance. Vielleicht morgen. Morgen, nein, Morgen hatten sie gar kein Mathe. Luisa hätte zu gerne heute ihre Rache gestartet. Vielleicht war der Plan zu kompliziert und sie musste sich etwas anderes ausdenken. Jetzt hatte sie erst mal keine Zeit mehr, weiter nachzudenken. Frau Sommer wäre sicher wenig begeistert, wenn sei nicht aufpassen würde. Obwohl sich Luisa Mühe gab, verstand sie kein Wort. So ein Mist. Das waren komplett alles böhmische Dörfer für sie. Natürlich wusste sie auch keine Antwort, als sie gefragt wurde. Luisa war froh, als die darauffolgende Chemiestunde wesentlich erfreulicher verlief. Allerdings wurde für die nächste Stunde ein Test angekündigt. Katrin war in der darauf folgenden großen Pause total aufgelöst. „Ein Test. Oh, nein“, jammerte sie. „Ich verstehe das überhaupt nicht. Nicht ein bisschen.“ „Dann werden wir wohl heute Nachmittag Mathe und Chemie machen müssen.“ Katrins Gesicht hellte sich im ersten Moment auf, dann verdunkelte sich ihr Blick wieder. „Och, ich dachte, wir hätten auch Zeit zum Quatschen. Wir werden wieder den ganzen Nachmittag hinter den blöden Büchern sitzen.“ „Vielleicht bleibt uns ja noch Zeit. Wenn nicht, können wir uns morgen wieder treffen und dann alles nachholen.“ „Das wäre wunderbar. Hast du denn Zeit?“ „Klar habe ich Zeit, ich kenne ja sowieso niemanden hier.“ Katrins Augen strahlten. Sie war sichtlich begeistert, dass Luisa zwei Nachmittage nacheinander mit ihr verbringen wollte. Nach weiteren zwei Stunden war auch dieser Schultag beendet und Luisa ging gut gelaunt nach Hause. Die Perspektive heute den ganzen Nachmittag zu lernen war nicht die beste, aber so war sie wenigstens nicht allein. Und wenn Katrin nicht gerade ihre Plapperphase hatte, wie Luisa es für sich nannte, wenn Katrin nur noch erzählte und gar nicht mehr aufhören wollte, dann war das absolut in Ordnung. Zu Hause begann sie sofort nach dem Essen mit ihren Hausaufgaben. Das war relativ viel und sie wollte das gerne bis drei Uhr fertig haben. Das schaffte sie auch annähernd bis auf die Mathehausaufgaben, die sie vorerst zur Seite schob und auf Katrins Hilfe hoffte. Katrin war kurz vor drei pünktlich da. Luisa holte etwas zu trinken, während Katrin sich in der kleinen heruntergekommenen Wohnung umschaute. Sie war schließlich heute das erste Mal bei Luisa zu Hause. Sie war leicht entsetzt, schaffte es aber das annähernd zu verbergen. Katrin bemerkte das und sagte: „ Die Wohnung ist nicht so toll. Wir haben kurzfristig nichts anderes gefunden. Es musste alles ziemlich schnell gehen mit dem Umzug. Aber wir haben auch schon eine neue Wohnung gefunden. Die ist echt schön.“ Bei diesen Worten holte sie die Pläne und zeigte Katrin, wie sie wahrscheinlich ihr künftiges Zimmer einräumen würde. Auch gab es einige Fotos von den leeren Räumen, mit denen Katrin aber nicht allzu viel anfangen konnte. Sie hatte nicht die Vorstellungskraft, sich ein Bild von der Wohnung mit neuen Tapeten und Möbeln zu machen. Aber sie würde das schon sehen, wenn es denn so weit war. Für jetzt erklärte Katrin Luisa erst mal wieder Mathe, weigerte sich aber, mit ihr zusammen die Hausaufgaben zu machen. Mit den Worten „ Du musst das alleine machen, wenn du das lernen willst“ ,schob sie das Mathebuch zur Seite und rechnete mit Luisa ähnliche Aufgaben. Nach einer Weile meinte sie: „ So, jetzt müsstest du die Hausaufgaben eigentlich alleine schaffen. Du kannst sie morgen Nachmittag in Ruhe machen. Wir haben erst übermorgen wieder Mathe.“ „Ich weiß“ , seufzte Luisa. Dann war es Zeit für Chemie. Als sie damit fertig waren, war es schon ziemlich spät. Sie klönten noch ein bisschen. Allerdings lief das Gespräch ähnlich wir heute morgen in der Pause. Katrin hatte kaum Zeit zum Luft holen, so viel erzählte sie. Konnte sie, denn nicht mal kurz ihre Klappe halten? Luisa wollte schließlich auch mal was erzählen. Sie hätte gerne mit jemandem über ihr Erlebnis mit Jens gestern gesprochen. Aber das sah wohl eher schlecht aus. Endlich drehte sich der Schlüssel im Schloss und Luisas Mutter kam nach Hause. Luisa war froh, nicht mehr alleine mit Katrin zu sein. Was war bloß heute in sie gefahren? So kannte Luisa sie noch gar nicht. Hoffentlich verlief morgen der ganze Nachmittag nicht genauso. Luisa bereute es schon, dass sie sich gleich für morgen schon wieder verabredet hatten. Aber jetzt würde sich Katrin bestimmt verabschieden. Es kam allerdings etwas anders: Ihre Mutter war erfreut, dass Luisa Besuch hatte und lud Katrin spontan zum Abendessen ein, was Katrin natürlich gerne annahm. Während des Essens war ihre Mutter sehr daran interessiert Luisas neue Freundin kennen zu lernen. Sie stellte viele Fragen und Katrin schwärmte wieder von ihrem Ballettunterricht und der Musikschule. Das hatte Luisa heute morgen schon alles gehört. Nein, Luisa war immer noch nicht daran interessiert, am Ballettunterricht teilzunehmen und eine Probestunde zu absolvieren. Luisa hörte schon gar nicht mehr zu. Nach dem Abendessen, das heute fast zwei Stunden gedauert hatte, verabschiedete sich Katrin dann endlich. Luisa war regelrecht erleichtert. So eine Quasselstrippe. Ihre Mutter war allerbester Stimmung. Da hatte Luisa ja eine nette Freundin. Das sei ja toll, dass sie sich gleich morgen schon wieder treffen würden. Sie war restlos begeistert. Luisa schlug vor, den Fernseher einzuschalten, um nicht noch länger diese Begeisterungsstürme über sich ergehen zu lassen. Das Abendprogramm war dummerweise auch schon angefangen. Wegen der langen Quatscherei hatten sie jetzt zu allem Überfluss auch noch die erste Viertelstunde vom Film verpasst. So ein Ärger. Aber man konnte dem ganzen trotzdem ganz gut folgen. Der Film war nicht so kompliziert. Endlich konnte sie entspannen. Moni schwärmte immer noch von Katrin und meinte, dass sie ja morgen auch länger bei Katrin bleiben könne. Luisa wollte aber nicht und das sagte sie dann auch. Jetzt endlich bemerkte auch Moni, dass Luisa im Moment ziemlich die Nase voll hatte und vertiefte sich auch in den Film.

Am nächsten Morgen begrüßte Katrin Luisa mit einem strahlendem Lachen. Sie hatte eindeutig gute Laune. Der Abend gestern hatte ihr sehr gut getan und sie hatte es sichtlich genossen, sich mit Luisas Mutter so gut zu unterhalten. Meist waren Erwachsene Kindern gegenüber ja nicht so offen und interessiert. Katrins Mutter war da anders. Als Herr Schulz die Klasse betrat, mussten sie ihre Gespräche vorerst unterbrechen. In der großen Pause standen die beiden Mädchen natürlich auch zusammen. Kirsten kam auf sie zu. „Was will die denn?“ fragte Luisa. Katrin zuckte mit den Schultern. Sie würden es gleich erfahren. „Kann ich dich mal alleine sprechen?“ sagte Kirsten und schaute Luisa an. „Ja, klar.“ Sie gingen ein paar Schritte. „Sag mal, ist Katrin deine neue Freundin?“ „Warum willst du das wissen?“ Komische Frage. Bisher hatte keiner der anderen Klassenkameraden auch nur einen Hauch Interesse an Luisa gezeigt. „Na, wenn es so wäre, dann hätte das schon ein paar Konsequenzen.“ Luisa verstand Bahnhof. „Was für Konsequenzen?“ „Also es ist so. Wir, meine Freundinnen und ich,“ sie zeigte auf eine Gruppe Mädchen, die in der Nähe stand, „wir halten nichts von Katrin. Die ganze Klasse hält nicht viel von ihr. Deshalb solltest du dir gut überlegen, ob du ihre Freundin sein willst. Dann kannst du nämlich von niemanden sonst die Freundin sein.“ Mit diesen Worten zog sie Luisa zu den anderen Mädchen hinüber. „Willst du nicht mal mit uns was unternehmen?“ „Warum nicht?“ antwortete Luisa. Immer nur mit Katrin zusammen zu sein, erschien ihr auf Dauer sowieso etwas langweilig. „Was ist denn nun? Seid ihr Freunde, du und Katrin?“ bohrte jetzt auch Angelika, die zu Kirstens Clique gehörte. „Ich weiß noch nicht so genau. Immerhin sitzen wir zusammen und bisher war sie die Einzige, die überhaupt länger als fünf Minuten mit mir gesprochen hat.“ Diese leichte Kritik konnte sich Luisa dann doch nicht verkneifen. „Also wir gehen heute Nachmittag Eis essen, wenn du willst, kannst du ja mitkommen.“ Das war ein verlockendes Angebot, endlich mal mit anderen Menschen zusammen zu sein, als mit Katrin oder ihrer Mutter. Sie sah aus den Augenwinkeln wie Katrin sie kritisch beobachtete. Meine Güte, sie war doch nicht mit Katrin verheiratet. Sie konnte sich doch auch mit anderen Leuten treffen. Aber heute war sie schon verabredet. „Heute kann ich nicht. Wie sieht es denn morgen bei euch aus?“ „Morgen haben wir Reitstunde. Da können wir nicht.“ „Wann wollt ihr euch denn treffen?“ „Wir wollten uns um zwei Uhr treffen.“ „Habt ihr denn dann eure Hausaufgaben schon fertig?“ „Die schreiben wir Mittwochs morgens immer von Tobias ab. Tobias hat meist alles richtig und lässt uns auch immer abschreiben. Wir geben ihm hin und wieder am Kiosk mal einen Kakao aus. Dann ist das kein Problem.“ Die waren ja lustig drauf. Keine Hausaufgaben zu machen, erschien Luisa auch recht reizvoll. „Das hört sich gut an. Meint ihr, ich könnte auch bei Tobias abschreiben?“ „Klar.“ „Okay ich komme. Aber ich habe nicht so lange Zeit.“ „Kein Problem. Wir treffen uns an der Eisdiele.“ „Alles klar. Bis heute Nachmittag dann.“ Luisa wandte sich zum Gehen. „Hey, wo willst du denn hin?“ „Katrin steht dort so alleine...“ „Ach, die, die ist das gewöhnt.“ Und dann wurde Luisa in ein Gespräch verwickelt, so dass sie sich den Rest der Pause nicht verdünnisieren konnte, was eher ungünstig war, da sie ja noch die Verabredung mit Katrin auf mindestens vier Uhr verschieben musste, damit sie Zeit hatte, in Ruhe Eis essen zu gehen und dann bei Katrin vorbeizuschauen. Irgendwie würde das schon alles gehen. Als sie zurück zum Unterricht gingen, wurde Luisa dicht von ihren neuen Bekanntschaften umringt. Jens hatte schon auf sie Kurs genommen. Als er aber die große Mädchengruppe sah, überlegte er es sich schnell anders. Mit der Klassensprecherin und ihren Freundinnen wollte er sich dann doch nicht anlegen. Luisa war ganz angetan von dieser neuen Wendung der Ereignisse. So könnte sie endlich vor diesem Typen ihre Ruhe haben, oder sich vielleicht sogar mit Hilfe der anderen Mädchen ordentlich rächen. Das sollte möglich sein. Diese neue Bekanntschaft schien eine ganz glückliche Fügung zu sein. Als Luisa sich neben Katrin setzte, guckte diese demonstrativ in die andere Richtung. „Was ist los?“ fragte Luisa. „Hast du jetzt neue Freunde gefunden?“ zischte Katrin eifersüchtig. „Ich werde mich ja wohl noch mal mit anderen Leuten aus dieser Klasse unterhalten dürfen.“ „Natürlich“, sagte Katrin schnippisch. Die Geschichtslehrerin betrat die Klasse. Luisa hätte sich gerne mit Katrin ausgesprochen, aber das war ja jetzt nicht möglich. Nach der Stunde verließ Katrin sofort den gemeinsamen Tisch, um sich auf den Weg zum Chemiesaal zu machen. „Warte doch auf mich!“ rief Luisa hinter ihr her. Sie beeilte sich und wollte sich noch vor Chemie mit ihr aussprechen, aber schon war sie wieder von Kirsten und den anderen Mädchen umringt, die munter auf sie einredeten. Das war schon komisch, dass die auf einmal so freundlich waren. Was war denn wohl der Grund für diesen Stimmungswandel? Also keine Gelegenheit, sich zu unterhalten. Nach Schulschluss war Katrin sofort verschwunden, ohne auch nur ein Wort mit Luisa zu wechseln. So langsam fing Luisa an, sich zu ärgern, wollte aber nicht ihr Wort brechen und sich trotz allem mit Katrin treffen. Also rief sie nach der Schule bei Katrin zu Hause an. „Hallo hier ist Luisa. Kann ich Katrin sprechen?“ Katrins Mutter war am Apparat. Katrin geht es nicht so gut, sie hat sich hingelegt. Kann ich ihr etwas ausrichten?“ Luisa überlegte kurz. Dann sagte sie: „Ich schaue heute Nachmittag mal vorbei, wenn es ihnen recht ist, so zwischen halb fünf und fünf. Katrin hatte heute in der Schule schon schlechte Laune. Ist sie krank?“ „Das ist nett, dass du sie besuchen möchtest. Ich werde es ihr ausrichten. Da wird sie sich bestimmt freuen. Ich glaube nicht, dass sie krank ist. Aber mal abwarten.“ „Gut, dann bis nachher.“ „Bis nachher. Tschüss.“ „Tschüss.“ Luisa legte den Hörer auf. Das war doch alles sehr merkwürdig. Warum war Katrin so sauer, nur weil sie eine Pause mit den anderen Mädchen verbracht hatte? Das konnte doch alles nicht wahr sein. Luisa hatte ja schon viel erlebt und viele Menschen kennen gelernt durch die vielen Umzüge, aber so etwas war ihr noch nie passiert. Komisch. Nachdenklich machte sie sich das Mittagessen warm. Danach hatte sie noch etwas Zeit und begann wenigstens einige ihrer Hausaufgaben zu machen. Mathe musste sie ja auch noch machen, weil Katrin ihr gestern nur erklärt hatte, wie es geht, statt gleich die Hausaufgaben mit ihr zu lösen. So ein Ärger. Ausgerechnet Mathe wollte sie eigentlich nicht abschreiben. Sie war kaum mit der ersten Aufgabe fertig, als es schon viertel vor zwei war und sie sich auf den Weg zur Eisdiele machen musste, wenn sie nicht zu spät kommen wollte. Die anderen Mädchen waren schon alle da. Fröhlich wurde Luisa begrüßt. Dann suchten sie sich einen freien Tisch. „Woher kommst du eigentlich?“ begann Heike den Small Talk. „Aus Köln.“ „Oh, das muss toll gewesen sein, in so einer großen Stadt zu leben. So viele schöne Geschäfte zum Bummeln und so. Herrlich. Hier in Kleinstadt gibt es ja nicht so viel.“ „Da hast du wohl leider recht“, seufzte Luisa. Dann begann sie von Köln zu schwärmen und die anderen Mädels hörten aufmerksam zu. Luisa tat das echt gut, mal so im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Nach einer Weile schwenkte das Gespräch einem anderen Thema zu. Luisa hatte das Gefühl, das dies der eigentliche Grund war, aus dem sie hier war. „Wie verstehst du dich denn so mit Katrin?“ „Ganz gut eigentlich.“ „Habt ihr euch schon öfter getroffen?“ „Ein paar mal.“ „Warst du auch schon bei ihr zu Hause?“ „Ja.“ Das kam Luisa so langsam etwas merkwürdig vor. Kirsten bemerkte ihre Unsicherheit und erklärte: „Weißt du, wir wollen dich warnen. Katrin ist schon ein bisschen komisch. Sie ist sehr eigen. Sie macht Ballett und nimmt Klavierunterricht.“ Wenn Kirsten das sagte, hörte sich das an als wenn sie sagen würde Katrin isst rohe Schnecken zum Frühstück. So angewidert und voller Ekel waren ihre Worte. „Ich habe schon davon gehört.“ „Das stört dich nicht?“ „Sag bloß du findest Ballett toll?“ mischte sich jetzt auch Pia ins Gespräch ein, die bisher noch nichts gesagt hatte. „Nein ich finde Ballett nicht toll und ich spiele auch nicht Klavier. Aber mir ist es egal. Soll doch jeder machen, wie er oder sie Spaß hat. „Aber das sind doch merkwürdige Hobbies, das musst du doch zugeben.“ „Mir ist es egal. Soll sie doch machen.“ Als die anderen merkten, dass so kein Konsens zu erzielen war, begannen sie die Sache anders aufzuziehen. „Wie findest du denn das Haus ihrer Eltern?“ „Was soll man dazu sagen? Es ist ziemlich groß.“ „Katrin hat doch bestimmt einen Computer.“ „Wahrscheinlich mit lauter Lernspielen, sonst wäre sie bestimmt nicht so gut in der Schule“ , lästerte Pia. „Sie hat eigentlich ganz gute PC-Spiele. Was soll das? Warum macht ihr Katrin so schlecht?“ „Wir wollten dich nur vor ihr warnen. Nach außen tut sie immer so freundlich und hinten rum ist sie der letzte Drachen. Zu Beginn am Anfang der fünften Klasse, als wir uns alle noch nicht so gut kannten, hatte Pia das Pech neben ihr zu sitzen. Erst haben sie sich ganz gut verstanden. Dann hat es Ärger gegeben mit Frau Sommer wegen einem Streich, den wir ihr gespielt haben. Wir hatten das zusammen geplant und Katrin und Pia saßen halt am günstigsten, um den Plan auszuführen. Das haben sie auch zusammen gemacht. Als Frau Sommer das ganze durchschaut hatte, war Katrin die erste, die versuchte sich aus der Affäre zu ziehen. Sie hat alles abgestritten. Sie hätte von nichts gewusst und sie hätte sich gewundert, was Pia da macht. Und so weiter und so fort.“ „Und das hat Frau Sommer ihr geglaubt? Die ist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen.“ „Zuerst war sie vorsichtig, aber als Katrin dann freimütig erzählt hat, wen sie alles auf dem Schulhof vor der Stunde zusammen gesehen hatte, war sie überzeugt. So einfach die Freunde verraten, das hatte Frau Sommer Katrin nicht zugetraut. Sie wusste eben nicht, dass Katrin die Namen deshalb so gut kannte, weil sie dabeigestanden hatte. Seit dem ist sie bei uns allen in der Klasse unten durch.“ „Hat sie sich denn nicht mit euch ausgesprochen, oder sich bei euch entschuldigt?“ „Die Gelegenheit hatte sie nicht mehr. Wir haben seit der Mathestunde nie mehr mit ihr geredet. Seitdem konzentriert sie sich nur noch auf die Schule und hat noch bessere Noten.“ „Und wenn sie eine Eins hat und wieder als Klassenbeste gelobt wird, dann sitzt sie da ganz aufrecht und strahlt uns alle mit triumphierenden Blick an, als ob sie sagen wollte, ich schaffe, was ihr nicht schafft. Ich bin doch was besseres als ihr. Wer will mit so einer schon näher zu tun haben?“ „Wir nicht!“ erklang es wie aus einem Mund. Luisa löffelte nachdenklich ihr Eis. „Wir wollten dich nur warnen. Mit Katrin kannst du nur schlechte Erfahrungen machen.“ „Und wenn sie sich inzwischen geändert hat?“ „Wir werden nicht das Risiko eingehen, ihr noch einmal Vertrauen zu schenken.“ „Wir bekamen Strafarbeiten auf und unsere Eltern wurden benachrichtigt. Alles wegen Katrin.“ „Weil ihr einen Streich gespielt habt. Dass ihr damit reinfallen könnt, das habt ihr doch vorher gewusst.“ „Aber wir konnten nicht ahnen, dass unsere Freundin, wie wir damals dachten, alle Details ausquatscht und uns damit erst richtig in Schwierigkeiten bringt.“ „Mmh, das ist ja eine üble Sache. Ist auf jeden Fall gut zu wissen. Ich werde dann etwas vorsichtiger sein.“ „Du willst dich doch wohl nicht weiterhin mit der treffen? Nach allem, was wir dir erzählt haben.“ „Eigentlich schon. Bis jetzt haben wir uns ganz gut verstanden.“ „Du hast wohl nicht richtig verstanden“, mischte sich Kirsten jetzt wieder ein, „die Sache liegt folgendermaßen: Wenn du mit irgendjemandem in dieser Klasse auch nur irgendwas zu tun haben willst, dann solltest du den Kontakt mit Katrin abbrechen.“ „Das ist doch meine Sache, mit wem ich mich treffe.“ „Natürlich ist es das“ , kam die zuckersüße Antwort. „Du musst eben eine Entscheidung treffen. Die oder der Rest der Klasse. So einfach ist das. Einen Mittelweg gibt es nicht.“ Luisa war wie vor den Kopf geschlagen. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. Wie sollte sie sich entscheiden. Sie kannte ja keinen. Sie wüsste überhaupt nicht, wofür oder wogegen sie sich entscheiden würde. Sie kannte diese Mädchen gar nicht, die hier zunehmend vehement auf sie einredeten. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein. Katrin kannte sie dagegen ein bisschen und sie hatte sich meist in ihrer Gegenwart wohl gefühlt, wenn Katrin nicht gerade Monologe führte. Auf einmal fiel es ihr siedend heiß ein: Sie hatte gar keine Wahl. Sie musste sich mit Katrin treffen, ob sie wollte oder nicht. Sie hatte Frau Sommer versprochen, mit Katrin Mathe zu lernen. Das konnte sie nicht zurücknehmen, ohne Nachhilfeunterricht zu riskieren. Was für eine blöde Situation. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Sie entschied sich, die Karten offen auf den Tisch zu legen. „Ich kann nicht aufhören, mich mit Katrin zu treffen, weil ich regelmäßig mit ihr Mathe lernen muss. Wenn ich das nicht tue, wird Frau Sommer mit meiner Mutter sprechen und ich werde mindestens zweimal pro Woche Nachhilfe bekommen. Und das wird dann auch so bleiben. Selbst wenn ich besser werde in Mathe, werde ich das so schnell nicht mehr los.“ „Wenn das so ist, dann haben wir jetzt das letzte Mal miteinander gesprochen“ , sagte Pia. „Vielleicht sollten wir Luisa Zeit zum Nachdenken geben“ , sagte Kirsten. Sie spürte, dass Luisa zögerte und noch nicht alles verloren war. „Ein paar Tage und dann sagst du uns bescheid, wie du dich entschieden hast. Sagen wir, am Montag nächster Woche erwarten wir eine Antwort von dir.“ „Das könnt ihr nicht machen. Wie kann ich mit euch befreundet sein, wenn ihr schuld seid, dass ich zweimal in der Woche Mathe büffeln muss. Das kann ja wohl nicht euer Ernst sein. Es ist unmöglich für mich, eine Entscheidung zu treffen. Ich kenne weder euch richtig noch Katrin. Ich weiß nur, dass ich Zeit brauche. Zeit, um in Mathe besser zu werden. Dann kann ich problemlos den Kontakt reduzieren, aber jetzt gerade nicht. Wenn ihr das so von mir verlangt, verratet ihr mich genauso wie Katrin euch damals verraten hat.“ Sie warf einen Blick auf die Uhr. Schon zwanzig vor fünf. Aber hier war sowieso alles gesagt. „Überlegt euch das. So wie ihr euch das gedacht habt, kann das nicht funktionieren. Wir können morgen oder übermorgen noch mal darüber reden. Jetzt habe ich leider keine Zeit mehr. Wir sehen uns dann morgen. Einen schönen Tag noch.“ Mit den Worten stand Luisa auf, bezahlte ihr Eis direkt an der Kasse und ging.

Luisa stand kurz darauf auf der Straße und wusste erst mal gar nicht, wo ihr der Kopf stand. Das alles kam ihr vor wie ein schlechter Traum. Was waren das für Mädchen? Wie konnte die gesamte Klasse Katrin über Jahre hinweg komplett schneiden? Wie konnte Katrin ihre damaligen Freundinnen so verraten? Fragen über Fragen. Ein äußerst seltsamer Nachmittag. Luisa hielt auf jeden Fall an ihrem Versprechen fest, Katrin zu besuchen. Versprochen war versprochen. Aber wie sollte sie sich gleich verhalten, nach dem was sie gerade erfahren hatte? Einfach tun, als ob nichts gewesen wäre? Oder sollte sie Katrin direkt darauf ansprechen? Dann konnte sie sich zumindest eine zweite Meinung anhören. Der Fußweg zu Katrins Haus erschien ihr heute besonders kurz. Sie hatte einfach zu wenig Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Allerdings war es jetzt auch schon kurz vor fünf. Zu spät kommen, wollte sie auch nicht. Außerdem wollte sie zum Abendessen um sieben schon wieder zu Hause sein. Katrin wäre enttäuscht, wenn sie nur so sehr kurz vorbeikommen würde. Sie brauchte Katrins Hilfe. So viel war klar. Nachhilfe in Mathe war wirklich das allerletzte, das sie wollte. Also musste sie Katrin bei Laune halten. Sie atmete tief durch und klingelte dann. Frau Bredenbork öffnete. „Hallo, das ist ja schön, dass du da bist.“ „Hallo“, sagte Luisa. „Katrin konnte gar nicht glauben, dass du kommen wolltest, dabei habe ich es ihr mehrfach gesagt. Sie meinte, du würdest trotzdem nicht kommen.“ Sie redete vor sich hin und ließ Luisa rein. Dann sagte sie: „Du weißt, wo Katrins Zimmer ist. Ich habe wenig Zeit. Ich bin sehr beschäftigt.“ „Ja, danke. Ich weiß bescheid. Luisa ging die Treppe hoch und klopfte dann an Katrins Tür. „Herein.“ „Hallo.“ „Hallo. Was willst du denn hier?“ „Wenn ich mich recht entsinne, dann waren wir heute verabredet. Wir wollten zusammen quatschen, schon vergessen?“ Katrin war etwas verduzt. Damit hatte sie nun wirklich überhaupt nicht gerechnet. „Warum warst du heute morgen in der Schule so sauer?“ „Ich will nicht darüber reden.“ „Bist du immer noch sauer auf mich?“ „Irgendwie schon.“ „Was machen wir dann jetzt?“ „Wie meinst du das?“ „Das wird ein ziemlich ruhiger Nachmittag, wenn wir uns eigentlich nichts zu sagen haben.“ „Worüber willst du denn reden?“ „Ich möchte wissen, warum du heute so sauer auf mich warst. Ich war übrigens dann auch ärgerlich über dich, weil ich nicht verstanden habe, was los ist. Du wolltest nichts erklären und bist einfach abgehauen.“ „Du warst anderweitig beschäftigt.“ „Katrin, wir können niemals befreundet sein, wenn ich nicht mit jemand anderem reden darf.“ „Hast du das denen auch gesagt?“ „Wen meinst du mit denen?“ „Kirsten und ihre Clique.“ „Habe ich.“ „Und was haben sie gesagt?“ „Sie überlegen sich das.“ „Was?“ „Sie überlegen sich das. Ich verstehe nicht, was da zwischen euch vorgefallen ist. Warum kann ich nicht mal mit denen und mal mit dir was machen? Wo ist das Problem?“ „Das haben sie dir doch ganz bestimmt heute Nachmittag beim Eis erklärt. In allen schillernden Details, wenn ich die richtig einschätze.“ „Woher weißt du, dass ich mich mit denen getroffen habe?“ „Das hat Kirsten mir erzählt. Sie war so nett, mich darauf hinzuweisen, dass ich ab Morgen nicht mehr mit dir rechnen könnte. Ich sollte mal schön in meinem Palast auf meinem Thron bleiben und dich in Ruhe lassen.“ „Das hat sie gesagt?“ „Ja.“ „Wie gemein.“ „So ist sie und ihre Freundinnen sind genauso.“ „Aber was ist denn passiert, dass ihr so verkracht miteinander seid?“ „Du weißt doch schon alles.“ „Ich möchte gerne deine Version hören.“ Katrin zögerte. „Es ist sinnlos. Du wirst sowieso lieber mit denen als nur mit mir zusammen sein.“ „Im Grunde würde ich gerne mal mit dir und mal mit denen zusammen sein.“ „Das wird nicht funktionieren. Du musst dich entscheiden.“ „Das sehe ich überhaupt nicht ein.“ „Haben die dir das nicht gesagt?“ „Doch schon. Aber ich habe denen gesagt, dass ich das nicht entscheiden kann. Ich kenne die noch weniger als dich. Wie könnte ich da irgendwas entscheiden? So läuft das nicht und das habe ich denen auch gesagt.“ Katrin sah erstaunt auf. Ein kleiner Hoffnungsschimmer schien sich auf ihrem Gesicht breit zu machen. Dann wurde sie wieder ernst. „Das wird nicht funktionieren.“ „Es muss.“ „Wird es nicht.“ „Doch.“ „Nein.“ „Ich werde keine Entscheidung treffen. Damit kannst du dich genauso abfinden, wie die auch. Ich lasse mich nicht zu etwas drängen, was ich überhaupt nicht will.“ Luisa wurde so langsam ärgerlich. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber dass sie hier genau dasselbe hören würde, das hatte sie nicht erwartet. Waren die alle verrückt geworden hier? Seltsame Stadt und seltsame Menschen. In Köln hätte es so was nicht gegeben. Verrückte, alles Verrückte hier. Was sollte sie bloß tun? Warum war ausgerechnet sie zwischen die Fronten geraten? „Was ist denn vorgefallen? Warum seid ihr so verkracht miteinander?“ „Ich möchte nicht darüber reden.“ Das führte alles zu gar nichts. Am liebsten wäre Luisa aufgestanden und gegangen. Aber irgendwie wollte sie das Verhältnis zu Katrin wenigstens etwas wiederherstellen. „Lassen wir das Thema. Erzähl doch noch mal, was ihr beim Ballett so alles macht.“ „Wieso willst du das wissen? Willst du das den Anderen erzählen und dich brühwarm mit ihnen über mich lustig machen? Bin ich dann morgen das Pausengespräch Nummer eins?“ „Nein, das werde ich nicht tun. Ich wollte einfach nur das Thema wechseln. Das ist alles.“ Luisa seufzte. So kompliziert hatte sie sich das alles nicht vorgestellt. Sie saßen sich schweigend gegenüber. Nach einer Weile sagte Luisa: „Es tut mir leid, dass wir nichts zu bereden haben. Für heute scheint das irgendwie nicht möglich zu sein. Ich gehe jetzt.“ Katrin sagte nichts. „Dann tschüss, bis morgen.“ Katrin murmelte eine Antwort, die wie Tschüss klang.

Luisa atmete auf, als sie draußen auf der Straße stand. Was für ein Tag. Sie schlenderte langsam gedankenverloren nach Hause. Ihre Mutter war schon zu Hause. „Hallo, da bist du ja. Warst du wieder bei Katrin?“ „Ja. Aber ich habe meine Hausaufgaben noch nicht fertig. Ich werde das dann jetzt mal zu Ende bringen.“ „Moment mal. Wir haben eine Absprache: Kannst du dich an die noch erinnern?“ „Ja. Es war nur eine Ausnahme heute. Normalerweise mache ich erst meine Hausaufgaben und gehe dann raus. Heute ging es Katrin nicht gut und da bin ich zu ihr gegangen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich so spät wieder hier bin. Es tut mir leid.“ Diese Ausrede stimmte wenigstens zur Hälfte. „Ich möchte dein Hausaufgabenheft sehen.“ Luisa zeigte es ihr. Englisch, Geschichte und Mathe von gestern waren noch nicht erledigt. „Ich bin mit Mathe schon angefangen.“ „Immerhin. Wie viel hast du denn schon geschafft?“ „Die erste Aufgabe. Aber ich weiß, wie es geht. Katrin hat es mir gestern erklärt.“ „Luisa so geht das nicht. Ich muss mich auf dich verlassen können, wenn ich den ganzen Tag nicht da bin. Ich möchte, dass du erst die Hausaufgaben machst und dann weggehst.“ „Ich weiß. Ich bin wirklich nur weggegangen, weil es Katrin nicht gut ging und weil ich gedacht habe, dass ich viel früher wieder hier bin.“ „Dann werde ich ausnahmsweise ein Auge zudrücken. Sollte das noch einmal passieren, bekommst du Hausarrest. Dann hast du Zeit genug zum Lernen und für deine Hausaufgaben.“ Mit den Worten verschwand sie in der Küche und kümmerte sich um das Abendessen. Luisa ging in ihr Zimmer und erledigte ihre Aufgaben. Nach dem Abendessen fragte Moni: „Sollen wir dann noch etwas zusammen fernsehen?“ Luisa hatte nichts dagegen, etwas abzuschalten. Ihr Kopf brummte. Gerne willigte sie ein und die beiden machten es sich gemütlich.

Während des Fernsehens war Luisa abgelenkt und alle Probleme schienen wie weggeblasen. Aber als sie im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Das seltsame Gespräch in der Eisdiele und danach das Gespräch mit Katrin gingen ihr nicht aus dem Sinn. Insgesamt war sie aber einigermaßen mit sich zufrieden, weil sie noch keine Entscheidung getroffen hatte und denen gegenüber ihre eigene Meinung vertreten hatte. Sie hatte einfach vor, beide Kontakte ein bisschen zu pflegen. Katrin brauchte sie für Mathe und außerdem hatten sie sich immer ganz gut verstanden. Die anderen wollte sie gerne näher kennen lernen, weil sie nicht immer nur mit Katrin zusammen sein wollte. Sie würde einfach diese Linie weiter verfolgen. Irgendwie musste sie es aber als nächstes schaffen, sich etwas mit Katrin zu versöhnen. Aber die anderen würden sie morgen in der Schule kaum in Ruhe lassen und versuchen, sie von Katrin wegzubringen. Sie würde einfach ihre Zeit aufteilen. Eine große Pause würde sie mit Katrin verbringen und die andere mit den Mädels. Dann würden beide Seiten ihren guten Willen sehen und erleben, dass sie es gestern ernst gemeint hatte, als sie gesagt hatte, dass sie sich nicht entscheiden würde. Genau. Das würde sie tun. Und dann würde sie noch Jens Matheheft stibitzen. Schließlich stand da noch eine Rache aus. Mit diesen Vorsätzen für den nächsten Tag schlief sie dann ziemlich spät ein.

Unbewusst lenkte sie ihre Schritte in den Stadtpark. Sie wanderte umher. Und stand bald an der Brücke, die über den kleinen Bach in den Wald führte. Erleichtert ging sie über die Brücke. Die Ruhe des Waldes schloss sie wohltuend ein und sofort entspannte sich ihr Körper. Ruhe. Vogelgezwitscher. Blumen am Wegesrand, das leise Plätschern des Baches. Sie war unendlich froh, dass sie hier war. Luisa ging wieder zur Lichtung und ruhte sich dort aus. Sie fiel in einen festen traumlosen Schlaf. Endlich konnte sie sich erholen. Eine Wohltat. Erst nach einer Weile fühlte sie sich erfrischt genug, um weiterzugehen. Sie probierte einen neuen Weg aus. Der Wald schien riesig zu sein, da sie noch nie ein Ende erreicht hatte. Sie ging immer weiter. Sie beobachtete die Vögel und auf einer Lichtung sah sie sogar Rehe. Sie versteckte sich im Gebüsch und beobachtete sie. Dann schreckte irgendetwas die Tiere auf und sie verschwanden im Dickicht des Waldes. Sie beobachtete nun einen Schmetterling, der von Blüte zu Blüte flog. Dann setzte sie ihren Weg fort. An einer Wegkreuzung bog sie links ab. So wanderte sie stundenlang und fühlte sich seltsam wohl, sicher und geborgen. Der Kummer und die Probleme waren wie weggeblasen. Schließlich erreichte sie wieder die Brücke, die aus dem Wald herausführte. Sie musste einen Rundweg gegangen sein. Sie verließ erfrischt und erholt den Wald und trat wieder zurück in den Stadtpark, der immer noch leer war. Sie ging nach Hause zurück und krabbelte dort direkt ins Bett. Dann brach der Traum ab. Den Rest der Nacht schlief sie tief und fest, ohne dass sie weitere Alpträume plagten.

Am nächsten Morgen machte sie sich nur zögernd auf den Weg zur Schule. Ihr grauste vor dem, was sie dort heute erwarten würde. Schon unterwegs lief ihr Pia über den Weg. „Hallo, guten Morgen“ , grüßte Pia gut gelaunt. Die hatte gut lachen, sie hatte nicht die Probleme, mit denen Luisa sich herumschlug. „Hallo.“ „Hast du es dir schon überlegt?“ “Ich bleibe bei dem, was ich gestern gesagt habe. Keine Entscheidung. Ich möchte gerne mit euch und mit Katrin was unternehmen. Wie gesagt, ich kann es mir nicht leisten, mich mit Katrin zu verkrachen. Außerdem verstehen wir uns ganz gut.“ „Das haben wir schon befürchtet, dass du so reagieren würdest.“ Schweigend gingen sie nebeneinander her. „Schade eigentlich“, meinte Pia. Sie wussten beide nichts weiter zu sagen. Katrin guckte schon missgelaunt, als Luisa mit Pia in die Klasse kam. Pias Clique dagegen hielt dies für ein gutes Zeichen und umringte Pia sofort, um die neusten Neuigkeiten zu erfahren. Sie waren enttäuscht, als es keine gab. Inzwischen begrüßte Luisa Katrin. Sie redeten kurz ohne ein wirkliches Thema zu haben. Irgendwie war ein Riss zwischen den beiden entstanden. Aber das würde sich mit der Zeit hoffentlich wieder geben, wünschte sich Luisa. Jens betrat gerade die Klasse. „Na, Flämmchen, hast du auch fleißig Geschichte gelernt? Wir schreiben doch heute einen Test.“ Luisa erschrak. Natürlich hatte sie gestern Abend so spät nicht auch noch Geschichte gelernt. Jens weidete sich an ihrem verdatterten Gesicht. Katrin sagte: „ Du hast aber auch überhaupt keine Ahnung Jens. Der Test ist nächste Woche.“ „Das Flämmchen scheint sich da nicht so sicher zu sein.“ Wütend blitzte Luisa ihn an. „Hör endlich auf, mich immer Flämmchen zu nennen, oder du wirst es irgendwann noch bereuen.“ Vielleicht schon heute, fügte sie in Gedanken hinzu, wenn ich es schaffe, dein Matheheft zu bekommen, wirst du ziemlich schlecht aussehen. „Du willst mir doch nicht etwa drohen?“ „Ich sage nur, dass du etwas vorsichtiger sein sollst, mit dem was du so sagst und tust, das ist alles. Kapiert?“ „Du klingst ja richtig gefährlich.“ „Und du klingst richtig dumm. Sieh zu, dass du Land gewinnst.“ Kirsten war gerade in die Klasse gekommen. „Hallo Luisa.“ Katrin würdigte sie mit keinem Blick. “Hallo.” “Wie geht es dir? Hast du schon die Hausaufgaben abgeschrieben? Ich bin gerade damit fertig geworden. Willst du sie haben?“ „Danke. Meine Mutter ist mir gestern auf die Schliche gekommen. Ich musste die Hausaufgaben dann doch zu Hause machen.“ „Na, dann bist du ja versorgt.“ Mit den Worten verschwand sie auf ihrem eigenen Platz. „Willst du jetzt auch zu denen gehören, die bei Tobias abschreiben?“ „Und wenn schon?“ „Wofür erkläre ich dir Mathe, wenn du doch alles abschreibst?“ „Mathe werde ich nicht abschreiben. Das kann ich mir gar nicht leisten.“ „Immerhin etwas Verstand ist dir also noch übrig geblieben.“ „Vielen lieben Dank. Warum bist du so unfreundlich zu mir? Wenn du nicht meine Freundin sein willst, dann sag es einfach. Dann brauchen wir uns nicht dauernd zu zoffen. Dann muss ich mich auch nicht mit den Mädels herumärgern und kann so wie die sich das wünschen, einfach ein vollständiges Cliquenmitglied werden.“ „Ich will mich auch nicht dauernd mit dir streiten, aber wenn du auf einmal so komisch und anders bist, kann ich kaum anders als dir meine Meinung dazu zu sagen.“ „Ich bin nicht komisch und anders.“ „Also bis gestern war abschreiben ja noch kein Thema.“ „Bis gestern kannte ich auch keinen, der mich hätte abschreiben lassen. Was ist so schlimm daran?“ „Glaubst du, ich habe gute Noten, weil ich abschreibe?“ „Das nicht, aber wenn du mal abschreiben würdest, würde das auch nichts ändern.“ „Das glaubst du.“ „Ja, das glaube ich.“ „Hast du gestern Abend die Krankenhausserie gesehen?“ wechselte Katrin das Thema. Anscheinend wollte sie sich doch nicht nur streiten heute morgen. „Nein, ich musste noch meine Hausaufgaben machen. Habe ich viel verpasst?“ Gerade als Katrin erzählen wollte, begann die Geschichtsstunde. „Erzähle ich dir gleich in der Pause“ , raunte Katrin ihr noch zu. Dann lauschten sie der Lehrerin, die mal wieder recht langweilig einfach nur erzählte und Luisa dämmerte in Gedanken schon wieder halb weg. Der Wald heute Nacht war wirklich toll gewesen. Schade, dass alles nur ein Traum war.

Nach Geschichte stand Mathe auf dem Stundenplan. Luisa hatte Glück. Jens verschwand in der kurzen Pause auf der Toilette und sie stand auf und tat so, als wollte sie sich die Beine vertreten und das hintere Fenster aufmachen. Auf dem Weg kam sie an Jens Tasche vorbei. Sie schaute hinein und sah das Matheheft. Sie öffnete das Fenster und auf dem Rückweg hockte sie sich hin und tat so als müsste sie ihre Schnürsenkel zubinden. Dabei zog sie das Heft aus der Tasche und steckte es unter den Pulli. Dann ging sie seelenruhig zu ihrem Platz zurück und steckte dort das Heft unauffällig in ihre eigene Tasche, während sie umständlich ihre Mathesachen herauskramte. Nebenbei erzählte Katrin ihr noch von den neusten Neuigkeiten aus der Krankenhausserie. Dann war Showtime. Frau Sommer betrat die Klasse und kontrollierte wie immer zuerst die Hausaufgaben, die dann im Anschluss besprochen wurden. Bei Jens blieb sie stehen. Jens wühlte ganz hektisch und angestrengt in seiner Tasche. „Ich kann mein Heft nicht finden. Ich bin mir ganz sicher, dass ich es heute Morgen eingepackt habe.“ „Dann müsste es auch da sein“, erwiderte Frau Sommer trocken. „Ist es aber nicht. Ich habe die Hausaufgaben gemacht und das Heft eingesteckt. Ich kann das selbst nicht erklären.“ „Deine Ausreden waren auch schon mal besser.“ „Das ist keine Ausrede, das ist die Wahrheit. Es muss hier irgendwo sein.“ „Dann such es und zeig es mir, wenn du es gefunden hast.“ In der Zwischenzeit kontrollierte sie die übrigen Hausaufgabenhefte. Dann schickte sie jemanden zur Tafel, um die erste Aufgabe vorzurechnen. Jens wühlte immer noch jetzt mit hochrotem Kopf in seiner Tasche. Er hatte inzwischen den gesamten Inhalt auf dem Gang verteilt, ohne das Matheheft zu finden. Er drehte die leere Tasche hin und her in der Hoffnung, dass das Heft doch noch irgendwo herausrutschte. Das war besser als Luisa erwartet hatte. Sie bemühte sich, nicht zu auffällig zu grinsen. Frau Sommer hatte jetzt die erste Aufgabe zu Ende besprochen und merkte, dass die Aufmerksamkeit der Klasse mehr bei Jens als bei den Hausaufgaben war. Deshalb ging sie entschlossen auf Jens zu, um diese Farce zu beenden. „Hast du dein Heft jetzt gefunden?“ „Nein. Ich kann das nicht verstehen. Ich bin mir sicher, dass ich es heute Morgen eingepackt habe und die Hausaufgaben hatte ich gestern gemacht.“ „Jens es reicht jetzt. Du störst den Unterricht mit deiner Sucherei. Pack deine Sachen wieder ein und wir sehen der Tatsache ins Auge, dass du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast. Das ist schon das zweite Mal in diesem Schulhalbjahr. Ich trage einen Tadel ins Klassenbuch ein. Beim dritten Tadel werde ich deine Eltern informieren und du wirst Strafaufgaben bekommen.“ Mit den Worten war die Sache für sie erledigt. Jens wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu protestieren und fügte sich in sein Schicksal. Luisa fühlte sich wie im siebten Himmel. Das geschah ihm Recht. Dieses alte Ekel. Die blauen Flecken an ihren Schienbeinen färbten sich gerade grün-gelb. Das konnte sie ihm nicht vergessen. Auch die Verarsche heute Morgen. Dieser Mistkerl. Aber er würde schon sehen, was er davon hat. Vielleicht würde morgen schon ein Brief an seine Eltern abgeschickt, wenn sie es noch mal schaffen würde, sein Heft zu entwenden. „Luisa, könntest du deine Aufmerksamkeit mal wieder der Mathematik zuwenden und deine Träumereien auf später verschieben?“ Verflixt, schon wieder erwischt. Warum passierte ihr das in letzter Zeit dauernd? In Köln hatte sie diese Probleme nie gehabt. Sie riss sich zusammen und meldete sich sogar mal, wurde dran genommen und konnte die richtige Antwort geben. Sie sah aus dem Augenwinkel, dass Katrin regelrecht stolz auf sie war. Vielleicht würde sie das doch noch alles schaffen. Frau Sommer war wieder etwas versöhnt. Sie konnte beobachten, wie Luisa nun konzentriert dem Unterricht folgte. Ein Aufatmen ging durch die Klasse, als es zur Pause schellte. Es gab kaum jemanden, der von Mathe begeistert war. Heute war alles relativ kompliziert gewesen und die Köpfe rauchten. Frau Sommer teilte nur noch eben schnell ein Arbeitsblatt mit den Hausaufgaben aus. Dabei erklärte sie, dass das vielleicht etwas viel sei. Aber es sei wichtig, dass sie den neuen Stoff gut üben würden und dazu wäre das Arbeitsblatt geradezu ideal. Alle stöhnten leise und waren froh, als sie endlich in die Pause gehen durften. Jens war der erste, der verschwunden war, so dass Luisa Gelegenheit hatte, sein Heft quasi nebenbei zurück in seine Tasche rutschen zu lassen. Das war perfekt gelaufen. Rache Teil eins hatte stattgefunden. Katrin wartete an der Tür auf Luisa. So langsam entspannte sich das Verhältnis wieder. Die Mädchenclique beobachtete die beiden, unternahm aber erst mal nichts, weil sie noch einiges zu besprechen hatten. Sie diskutierten angeregt, ob sie sich auf Luisas Forderung einlassen sollten oder nicht. So hatte Luisa Ruhe und konnte angeregt mit Katrin reden. Es war fast so, als wäre nichts gewesen.

In der zweiten großen Pause allerdings steuerte Kirsten direkt auf Luisa zu. „Kommst du kurz mit zu uns?“ „Wir sehen uns gleich“, sagte sie zu Katrin, die schon wieder leicht säuerlich guckte. Angelika, Pia und Heike warteten schon auf sie. „Und hast du es dir schon überlegt?“ „An meiner Meinung hat sich nichts geändert, wie ich heute Morgen schon Pia gesagt habe. Ich werde mich definitiv nicht zwischen euch und Katrin entscheiden und ich werde meinen Kontakt zu Katrin nicht abbrechen.“ Die Mädchen nickten. Sie hatten so eine Ahnung, dass sie so bei Luisa nichts erreichen würden. „Wir werden es uns überlegen und eventuell ausnahmsweise bei dir einmal beide Augen zudrücken. Aber das müssen wir noch diskutieren.“ Mit diesen Worten wurde Luisa abgefertigt und die Mädchen drehten sich um und gingen weg. Was sollte das jetzt wieder bedeuten? Egal, dann würde sie eben den Rest der Pause mit Katrin verbringen. „Na, was wollten deine tollen neuen Freundinnen von dir?“ „Sie wollten immer noch, dass ich mich nicht mehr mit dir treffe. Ich habe ihnen gesagt, dass das für mich nicht in Frage kommt.“ Dann wechselten sie das Thema und redeten über Jens und seine äußerst peinliche Vorstellung in Mathe, wie Katrin das nannte. Luisa musste sich vorsichtig äußern, um sich nicht zu verraten. Der Rest des Schultags verlief ohne besondere Ereignisse. Jens war recht ruhig heute. Die Mädchenclique war mit sich selbst beschäftigt und Katrin war so langsam wieder aufgetaut. Luisa war am Ende recht erleichtert, als sie auf dem Nachhauseweg über alles nachdachte. Vielleicht würde sich ja doch alles ganz gut entwickeln und sie würde endlich auch noch Anschluss zu anderen Mädchen in der Klasse bekommen.

Am nächsten Tag waren Angelika, Pia, Heike und Kirsten recht geheimnisvoll. Luisa wurde in der Pause kurz von ihnen geholt. Dann sagten sie ihr, dass sie in Ruhe mit ihr sprechen wollten, also nicht hier. Sie wollten sich am Nachmittag mit Luisa treffen. Zwei Uhr im Stadtpark. „So früh? Können wir uns nicht später treffen?“ „Nein können wir nicht. Wenn du dann nicht kannst, hat sich alles erledigt.“ „Na, gut. Ich komme.“ Luisa war nicht wohl bei dem Gedanken, schon wieder entgegen der Absprache mit ihrer Mutter erst wegzugehen und dann erst die Hausaufgaben zu machen. Aber das war ja wohl eindeutig ihre Sache und es konnte doch egal sein, wann sie das machte, wenn sie es denn überhaupt machte. So lange würde das Treffen ja wohl kaum dauern. „Also um zwei an der großen Eiche. Und sei pünktlich.“ Luisa war gespannt, was das alles zu bedeuten hatte. Sie würde es erfahren. Katrin hatte auch mal wieder Lust Luisa zu besuchen. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag nachmittags um drei oder vier Uhr. Je nach Hausaufgabenlage. Also war die Freizeit für den Rest der Woche schon organisiert. Luisa hoffte nur, dass Katrin nicht wieder so endlos bleiben würde und so endlos lange Gespräche mit ihrer Mutter führen würde. Aber das war abzuwarten. An Jens Aufgaben kam sie heute nicht heran. Da ließ sich überhaupt nichts machen. Er saß die ganze Zeit neben seiner Tasche. Keine Chance. Dabei wäre das heute doppelt gut gewesen. Heute musste er die Aufgaben von gestern und vom letzten Mal vorzeigen. Wenn er wieder nichts gehabt hätte, hätte er wirklich schlecht ausgesehen. Aber dann hätte Frau Sommer vielleicht Verdacht geschöpft, dass irgendwas nicht stimmen konnte. So dumm war noch nicht einmal Jens, gleich zweimal hintereinander alles zu vergessen.

Nach der Schule gab es ein schnelles Mittagessen und dann machte sich Luisa auf den Weg. Sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Irgendwie hatte sie es im Gefühl, dass sich jetzt gleich entscheiden würde, ob Katrin weiterhin die einzige Freundschaft in der Klasse sein würde. Die Mädchen saßen im Kreis im Schneidersitz unter der Kastanie im Gras. „Hallo“ wurde Luisa kurz begrüßt. Luisa grüßte zurück. Dann wurde ihr bedeutet Platz zu nehmen. Die Mädchen hatten jetzt einen Halbkreis gebildet, dem Luisa gegenüber saß. Irgendwie kam sie sich vor, wie auf dem Prüfstand. Dass diese Vorstellung ziemlich genau ins Schwarze traf, konnte Luisa zu diesem Zeitpunkt nur ahnen. Alle vier machten wichtige Gesichter. Kirsten gab den Beschluss der Clique bekannt: „ Wir sind zu folgender Entscheidung gekommen: Wir gewähren dir vorübergehend weiteren Kontakt mit Katrin, solange du sie für Mathe brauchst. Ansonsten erwarten wir, dass du in den Pausen auch mit uns Zeit verbringst und dich mindestens einmal pro Woche mit uns triffst. Das ist wirklich alles, was wir dir anbieten können. Weiter werden wir dir nicht entgegenkommen. Das ist unser letztes Angebot. Akzeptierst du?“ Luisa kam dies alles sehr merkwürdig vor. Aber sie wollte gerne auch andere Kontakte in der Klasse aufbauen, jetzt da sie wusste, dass sie für immer hier wohnen würde. Wie lange sie Katrin brauchte, das ließ sich so oder so definieren. Sie würde schon dafür sorgen, dass es einfach nicht zu Ende gehen würde. Ganz einfach. Luisa nickte. „Ich bin einverstanden.“ Die Mädchen, die wie ein Tribunal vor ihr saßen, machten zufriedene Gesichter. „Gut“, sagte Kirsten, „dann kommen wir jetzt zur Aufnahmezeremonie.“ Was war das nun schon wieder? „Du musst in die Krone der Eiche klettern. Wir haben eine kleine Kette hinaufgeworfen. Deine Aufgabe ist, sie zu finden und wieder herunterzuholen.“ Luisa kam sich vor wie in einem schlechtem Film. So etwas war ihr noch nie passiert. Sie hatte schon viele Freundinnen gehabt und leider wieder verloren. Aber so einen Zirkus hatte noch nie jemand mit ihr veranstaltet. Unglaublich. Das erinnerte sie an Filme mit Jugendbanden, wo man Aufnahmeprüfungen bestehen musste. Sie hatte bisher immer gedacht, dass es so was nur im Film gäbe. Aber falsch. Welche Wahl hatte sie? Sie wollte nicht mehr alleine sein und sie wollte ihr Leben nicht nur mit Katrin verbringen. Katrin war nett aber man konnte doch nicht immer nur zu zweit sein. Meist war Luisa in größeren Cliquen gewesen und hatte sich immer sehr wohl gefühlt. Dieses Händchen halten zu zweit zu Hause alleine war nicht so richtig ihr Ding. „Was ist los?“ fragte Kirsten. „Sie traut sich nicht“, meinte Heike. „Willst du jetzt in unsere Clique oder nicht?“ „Ich will“, sagte Luisa und stand auf. Sie überlegte wie sie die gestellte Aufgabe am besten bewältigte. Ein unwohliges Kribbeln machte sich in ihrer Magengegend breit. Es war schon lange her, dass sie das letzte Mal auf Bäume geklettert war. Eigentlich machte man so was als Kind und nicht mehr in ihrem Alter. Sie peilte erst mal die Lage. Wo konnte das Kettchen sein? Konnte man es von unten sehen? „Du musst schon hochklettern. Sonst wird das nichts.“ „Na, los, mach schon.“ „Ich wollte erst mal von unten schauen, ob ich das Kettchen sehen kann.“ „Das hat keinen Sinn. Die ist zu klein.“ „Du musst schon klettern.“ Luisa sprang an den unteren Ast und baumelte mit den Füßen in der Luft. Dann nahm sie Schwung und schwang ein Bein über den gleichen unteren Ast. Dann versuchte sie sich am Stamm hochzuziehen. Als die Mädchen sahen, dass Luisa endlich aktiv wurde, legten sie sich auf den Rücken unter den Baum, um von dem Schauspiel möglichst wenig zu verpassen. Nebenbei unterhielten sie sich und giggelten immer mal wieder vor sich hin. Luisa nahm all das nicht mehr wahr. Sie war ganz damit beschäftigt höher zu klettern und nebenbei nach dem Kettchen Ausschau zu halten. Sie war sehr vorsichtig. Als sie nach unten schaute, bemerkte sie erst, wie hoch sie schon war. Besser nicht mehr nach unten schauen. Sie suchte die Äste mit ihren Blicken ab. Nichts. Sie kletterte weiter. Sie suchte weiter. „Ich kann hier nichts finden“, rief sie nach unten. „Du musst eben besser hinschauen.“ „Such einfach weiter.“ Luisa fing schon an zu überlegen, ob das Kettchen überhaupt existierte, als sie schräg unter sich etwas schillern sah. Das musste es sein. Sie stieg vorsichtig wieder ab. Als sie näher kam, stellte sie fest, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Da vorne baumelte eine kleine silberne Kette. Allerdings hing sie weit außen in relativ dünnen Ästen. „Ich habe sie gefunden. Sie ist da vorne.“ „Dann musst du sie nur noch holen.“ Aber das war leichter gesagt als getan. Luisa befand sich in nicht unerheblicher Höhe und die Äste, an denen das Kettchen hing, waren viel zu dünn, als dass sie Luisa tragen könnten. „Ich komme nicht dran. Die Äste sind zu dünn.“ „Dann musst du dich halt mehr anstrengen.“ „Es geht nicht. Ich würde herunterfallen.“ „Tja, dann wird das wohl nichts mit unserer Clique.“ „Schade, wir hatten so auf dich gezählt.“ „Es geht einfach nicht. Ich will ja gerne dazu gehören und euch das Kettchen holen, aber es geht nicht.“ Vorsichtig schob sie sich auf dem Ast weiter vom Stamm weg in Richtung auf das Kettchen. „Sehr ihr? Ich kann nicht näher ran.“ „Das meinst du nur.“ „Du bist schon so weit gekommen. Du willst doch wohl jetzt nicht aufgeben?“ Aufgeben war eigentlich nicht Luisas Welt. Aber hier erschien ihr alles doch sehr unvernünftig. Der Ast, auf dem sie saß, war schon deutlich durchgebogen. Weiter konnte sie sich auf keinen Fall voranwagen. Gespannt beobachteten die Mädchen wie sich Luisa vorsichtig und ganz langsam noch ein Stückchen weiter in Richtung Kette schob. Der Ast bog sich nun sehr deutlich unter seiner Last. Luisa schaute auf die Kette. Sie streckte den Arm aus und versuchte die Kette mit der Hand zu greifen, aber sie war immer noch einen guten halben Meter von ihrer ausgestreckten Hand entfernt. Was sollte sie tun? Jetzt aufgeben, nachdem sie sich schon so bemüht hatte? Dann könnte sie das alles vergessen. Weiterrutschen konnte sie auf keinen Fall. Gab es keine andere Möglichkeit? Neben Luisa raschelte es im Blätterdach. Luisa erschrak und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Sie hatte eine hektische Bewegung gemacht und der Ast knackte leise. Sie musste hier weg. Sie musste dringend was tun. Das Herz schlug ihr bis zum Hals hinauf. Der Schreck saß ihr in den Gliedern. Irgendein Vogel hatte das unverhoffte Rascheln verursacht und Luisa damit aus der Balance gebracht. Jetzt war der Ast leicht angeknackst. Hoffentlich hält er, dachte Luisa. Oh, je, hoffentlich komme ich heile hier wieder herunter. Sie musste etwas unternehmen. Aber was? Da kam ihr eine gute Idee. Sie brach einen Ast ab, der etwas kürzer als ein Meter lang war. An der vorderen Spitze entfernte sie die Blätter und die ganz dünnen Äste bis zu einer Astgabel. Mit dem Ast angelte sie dann vorsichtig nach der Kette. Die Astgabel berührte die Kette. Immerhin war der Ast lang genug. Dann rutschte die Kette in Richtung auf Luisas Ast. Sehr gut. Nur vorsichtig, so weitermachen. Sie hatte die Kette fast auf ihrem Ast an der Astgabel hängen, als sich das Kettchen an einem Blatt verhakte. Oh, nein, das darf alles nicht wahr sein. Der Ast, auf dem Luisa saß, knirschte leise und ächzte unter seiner Last. Lange würde das nicht mehr halten. Kurzentschlossen machte Luisa mit ihrem Stock einen Ruck, das Blatt wurde abgerissen und die Kette kam frei. Dabei geriet Luisa selbst nun wieder ins Straucheln. Das Blatt hatte erst nicht und dann doch etwas unverhofft nachgegeben. Es gelang Luisa, das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Vorsichtig holte sie die Angel ein. Sie atmete auf, als sie endlich das kleine Kettchen in den Händen hielt. „Hey, super, du hast es geschafft!“ „Du bist echt cool.“ „Absolut korrekt.“ Luisa war stolz auf sich. Allerdings wusste sie gleichzeitig, dass sie es ganz sicher noch nicht geschafft hatte. Sie verstaute die Kette vorsichtig in der Hosentasche, um beide Hände zum Klettern frei zu haben. Jetzt wurde es schwierig. Ganz behutsam und vorsichtig bewegte sich Katrin zurück auf den Stamm zu. Der Ast knirschte immer noch und beschwerte sich lautstark über die ungewohnte Belastung. Endlich bekam sie den nächst höheren Ast mit beiden Händen zu fassen. Das war keinen Moment zu früh, den es krachte jetzt unter ihr und der Ast, auf dem sie die ganze Zeit gesessen hatte, brach unter ihren Füßen weg. Jetzt hing sie mit beiden Händen am nächsten Ast, hatte aber keinen Halt mehr für die Füße. Bevor die Kraft sie verließ, nahm sie mit einem Bein Schwung und schwang es über den Ast. Der zweite Fuß folgte. Dann krabbelte sie mit Hilfe der Füße und Hände weiter auf den Stamm zu. Sie atmete auf, als sie diesen erreicht hatte. Jetzt gelang es ihr, die Füße richtig auf den Ast zu stellen und sich am Stamm festhaltend aufzurichten. Sie atmete tief durch. Das war gerade eben gut gegangen. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie schaute nach unten und ihr wurde ganz schwindelig von der Höhe und der vorherigen Anstrengung. Jetzt musste sie nur noch herunterklettern. Aber das war einfacher gesagt, als getan. Es fehlte ja jetzt der Ast, auf dem sie die ganze Zeit gesessen hatte und der nächst tiefere war nicht zu erreichen. Was jetzt? Saß sie jetzt hier fest? Nein, das konnte nicht sein. Sie schaute sich um. Auf der anderen Seite gab es auch einen Ast, wie der abgebrochene. Allerdings war dieser ein gutes Stück tiefer. Wenn sie überhaupt hier wieder runter wollte, dann nur mit Hilfe dieses Astes. Sie würde sich an den oberen Ast mit den Händen hängen müssen, um dann den unteren mit den Füßen zu erreichen. Wenn sie das geschafft hätte, könnte sie sich am Stamm festhalten und langsam in die Hocke gehen, um dann auf den nächsten tieferen Ast zu steigen, der gut zu erreichen schien. So weit der Plan. Luisa hatte eigentlich überhaupt keine Lust schon wieder an beiden Händen zu baumeln und mit den Füßen nach Halt zu suchen. Aber sie hatte keine andere Wahl. Also setzte sie sich auf den Ast, verharkte die Füße und ließ sich langsam herunterrutschen, so dass sie wie ein Faultier mit allen vieren an dem einen Ast hing. Dann löste sie die Füße und konnte unten den Ast nicht finden, weil ihr Zweige den Blick versperrten. Der Ast müsste eigentlich etwas höher sein und etwas mehr links, dachte sie. So war es dann auch. Endlich fanden ihre Füße Halt. Die Arme mussten nicht mehr das volle Gewicht tragen. Sie hielt sich wieder am Baumstamm fest und erreichte mit den Füßen leicht den nächsten unteren Ast. Jetzt ging alles ein bisschen leichter und nach weiteren fünf Minuten hatte sie den Boden endlich erreicht. Aufatmend war sie vom letzten Ast ins weiche Gras gesprungen. Unten angekommen wurde sie jubelnd von den Anderen begrüßt. „Super.“ „Klasse.“ „Jetzt bist du eine von uns“, sagte Kirsten, als Luisa ihr das Kettchen aushändigte. „Herzlich willkommen.“ Luisa war noch ganz geschafft und wischte sich erst mal den Schweiß von der Stirn. Jetzt erst sah sie, dass sie sich einige Hautabschürfungen geholt hatte. Ihre Kleider waren dreckig. Egal. Am wichtigsten war, dass sie heile wieder unten war. Mit Respekt schauten die Anderen sie jetzt an und Luisa hatte irgendwie das Gefühl, dass die vorhergehenden Aufnahmeprüfungen für die Anderen, falls es sie überhaupt gegeben hatte, längst nicht so kompliziert gewesen waren, wie die ihre. Luisa gab Pia die Kette, die sie dankbar an sich drückte. Pia gab Luisa die Hand und sagte nichts weiter. In ihrem Blick stand große Erleichterung. Es schien nicht so, als hätte Pia die Kette freiwillig für die Prüfung hergegeben. Aber das alles ging im allgemeinen Trubel unter. Luisa wurde gebührend gefeiert. Man klopfte ihr auf die Schulter und sah sie mit ganz anderen Augen an. Von allen Seiten wurde sie gelobt. „Du warst echt cool.“ „Als der Ast abgebrochen ist, dachte ich schon, du würdest herunterfallen.“ „Das habe ich auch befürchtet“, sagte Luisa. „Aber es ist ja alles gut gegangen“, beruhigte Kirsten die Gemüter. Und dann sagte sie: „Wir sollten die Aufnahme von Luisa gebührend feiern. Lasst uns in die Eisdiele gehen. Wir laden Luisa ein. Das hat sie sich verdient.“ „Au ja“, meinte Pia ganz begeistert. Gemeinsam zogen sie nach diesem Abenteuer in die Eisdiele. Luisa bekam einen riesigen Becher Eis spendiert und stand im Mittelpunkt der kleinen Gruppe. Die Mädchen hatten wohl doch ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil die Mutprobe am Ende doch recht gefährlich ausgefallen war. Gefährlicher auf jeden Fall als ursprünglich geplant. Immer wieder wurden einzelne Szenen der Kletterpartie durchgesprochen und Luisa wurde gelobt für ihre genialen Kletterkünste. Auch die gute Idee mit Hilfe von einem Ast nach der Kette zu angeln, fanden alle brillant. Die Erleichterung, dass alles gut gelaufen war, brachte alle in sehr gute Stimmung. Es wurde erzählt und erzählt und es war schon relativ spät, als sich die Gruppe schließlich trennte. Nicht ohne die gute Freundschaft zu beschwören, die sie ab jetzt sofort verbinden sollte. Ein echtes Gefühl von Gemeinschaft war entstanden. Das gemeinsam verlebte Abenteuer hatte die Mädchen zusammengeschweißt. Letztlich hatten alle es etwas eilig nach Hause zu kommen, weil alle eigentlich gesagt hatten, dass sie nur kurz weg wollten. Luisa hatte nichts dagegen. Sie war noch ganz berauscht von ihrem Erfolg. Jetzt hatte sie endlich Freunde. Sie war sehr stolz auf sich.

Zu Hause angekommen, ebbte die gute Stimmung etwas ab, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie war dreckig und die Haare standen in alle Richtungen. Die Haare, die nicht abstanden, klebten Luisa mit Schweiß am Kopf. So sollte sie ihre Mutter besser nicht sehen. Wie sollte sie das erklären? Das hätte Moni nie verstanden. Also schnell aus den Klamotten raus und dann nichts wie ab unter die Dusche. Die schmutzige Wäsche ließ sie vorerst im Schrank verschwinden. Die würde sie morgen heimlich waschen. In frischen Klamotten fühlte sie sich nach der Dusche wie neu geboren. Wenn sie an die Kletterei dachte, zitterte innerlich immer noch alles. Aber sie musste sich jetzt zusammenreißen. Die Hausaufgaben mussten auf jeden Fall fertig sein, bevor Moni nach Hause kam. Luisa hatte noch einmal Glück an diesem Tag, denn ihre Mutter kam erst sehr spät von der Arbeit. Bis dahin hatte Luisa locker alles fertig bekommen und hatte sogar in der Küche die Reste vom Mittagessen noch in die Spülmaschine geräumt. Dann hatte sie es sich in ihrem Zimmer auf ihrem Bett mit einem Buch gemütlich gemacht. Aber an lesen war nicht zu denken. Ihr Kopf schwirrte immer noch von dem gerade durchlebten Abenteuer. Das Buch lag nur alibimäßig aufgeschlagen vor ihr. Moni hatte immer wenig Verständnis dafür, wenn man wirklich gar nichts machte. Die Gedanken überschlugen sich förmlich in ihrem Kopf und sie war dankbar, dass sie ausgerechnet heute mal noch ein bisschen Zeit für sich hatte. Schließlich tauchte ihre Mutter auf. Sie entschuldigte sich mehrmals, dass es so spät geworden war. Luisa beruhigte sie. Sie sah sehr müde aus heute. Beim Essen wurde nicht viel erzählt und Moni war sichtlich froh, als sie beim Fernsehen die Beine hoch legen und endlich abschalten konnte. Luisa hatte dagegen nach dem äußerst ereignisreichen Tag auch nichts einzuwenden. Sie war innerlich ziemlich aufgewühlt. Die Kletterei im Baum hatte sie doch ziemlich mitgenommen.

Als sie dann endlich alleine im Bett lag, kam ihr das alles sehr waghalsig und leichtsinnig vor. Was hatte sie da bloß getan? Sie hätte das auf keinen Fall machen dürfen. Was alles hätte passieren können, wenn sie von da oben heruntergefallen wäre. Nicht auszudenken. Andererseits war die Anerkennung der Mädchen echt gewesen. Die hatten sie fast schon bewundert. Das war wirklich ein tolles Gefühl gewesen, derart im Mittelpunkt zu stehen. Außerdem war damit sicherlich der Grundstein für neue Freundschaften gelegt. Aber sie konnte sich nicht nur in diesem Glücksgefühl wohl fühlen. Irgendeine Stimme im Hinterkopf ließ sie nicht vergessen, wie leichtsinnig und gefährlich das ganze Unternehmen gewesen war. Endlich schlief sie ein. Wieder hatte sie wilde Träume. Sie kletterte noch einmal in der Eiche, konnte sich diesmal aber nicht halten. Sie fiel, fiel und fiel immer tiefer. Ein schier endlosen Abgrund schien sich vor ihr aufzutun. Dann Szenenwechsel. Luisa saß wieder oben in der Eiche. Sie angelte gerade nach der Kette, als sie das Gleichgewicht verlor und abrutschte. Und wieder fiel sie und fiel und stürzte in einen tiefen schwarzen Abgrund. Schweißgebadet erwachte sie. Alpträume. Sie war eigentlich so müde und konnte einfach nicht richtig schlafen. Sie machte das Licht an, um den Traumbildern zu entkommen. Sobald sie die Augen schloss, waren die sofort wieder da. Da half alles nichts. Luisa griff sich ihr Buch und fing an zu lesen. Als sie es nach einer Stunde weglegte, schlief sie gleich wieder ein. Ohne weitere Alpträume schlief sie tief und fest bis zum Morgen durch.

In der Schule waren Pia, Angelika, Kirsten und Heike sofort zur Stelle, als Katrin auftauchte. Sie waren sofort in ein Gespräch vertieft. Es war so, als ob Luisa schon immer dazu gehört hätte. Jens hatte noch nicht ganz Luft geholt und „Flämmchen“ gesagt, als Kirsten ihm schon einen Knuff in die Seite gegeben hatte und Heike ihm unfreundlich: „ Halt die Klappe!“ zuzischte. Luisa fühlte sich wie im siebten Himmel. Jens schien es in Zukunft schwerer zu haben, ihr das Leben zu versauern. Das war eine sehr angenehme Entwicklung der Dinge. Katrins Blick allerdings sprach Bände, als sie im Klassenraum auftauchte und Luisa vertieft im Gespräch mit den anderen Mädchen sah. Sie schien zu ahnen, dass sich irgendetwas besonderes zwischen diesen Mädchen ereignet haben musste. Kurz vor Beginn des Unterrichts ließ sich Luisa auf den Platz neben Katrin plumpsen. „Jetzt sei nicht gleich schon wieder sauer und guck nicht so“, waren Luisas erste Worte. „Hallo. Nette Begrüßung.“ „Oh, sorry, hallo.“ „Ich bin nicht sauer.“ “Dann ist es ja gut. Was unternehmen wir heute Nachmittag?“ „Bleibt es denn dabei, dass wir uns treffen?“ „Natürlich, das haben wir doch gestern verabredet. So senil bin ich noch nicht, dass ich mir das nicht merken könnte. Also: Wozu hast du Lust?“ „Nichts besonderes. Ein bisschen quatschen wäre nett.“ „Hört sich gut an. Kommst du zu uns?“ „Gerne.“ Katrins Augen strahlten. Sie hatte schon befürchtet, dass sich jetzt doch alles ändern würde, aber bisher sah es nicht so aus. Vielleicht hatte sie ja doch noch eine Chance. Und wenn sie Luisa mit diesen Weibern teilen müsste, war das immer noch besser, als immer alleine zu sein. Bevor Luisa nach Kleinstadt kam, hatte sie außer einer Freundin vom Ballett keine Freunde. In der Klasse hatte sie sowieso so gut wie keinen Kontakt. Das war auf jeden Fall eine deutliche Verbesserung. Sie musste nur aufpassen, dass sie nicht zu eifersüchtig wurde und damit alles kaputt machte. Wie machte Luisa das bloß? Sie war erst so kurze Zeit hier und hatte jetzt schon mehr Freunde als Katrin. Diesmal war es ausnahmsweise Katrin, die ihren Gedanken nachhing und prompt von der Lehrerin erwischt wurde. So konnte sich Luisa wenigstens mal revanchieren und ihr heimlich die Stelle zeigen, an der sie weiter vorlesen sollte. Das war ja gerade eben noch mal gut gegangen.

In der großen Pause stand Luisa bei der Mädchenclique. Die Erlebnisse gestern waren einfach zu eindrucksvoll als dass man verzichten konnte, sich immer wieder darüber auszutauschen. Außerdem wurden die Planungen für das Wochenende gestartet. Kino, essen gehen oder kegeln gehen wurde diskutiert. Schließlich entschieden sie sich fürs Kino. Es war selten, dass hier in Kleinstadt mal ein gute Film gezeigt wurde. Der neue James Bond war schon etwas besonderes, das keine verpassen wollte. Luisa hatte ein bisschen Bedenken, ihre Mutter am Wochenende alleine zu lassen. Aber die war ja schon groß und konnte sicher auch alleine was unternehmen. Hoffentlich würde sie es erlauben. Luisa ließ aber erst mal keine Zweifel an ihrer Entschiedenheit ins Kino zu gehen aufkommen. Sie freute sich auf das Wochenende. Am Samstag ausschlafen und abends ins Kino... Das war nicht verkehrt. Heute wollten die anderen Mädels bei Heike Tee trinken. Da wäre Luisa auch gerne gekommen. Aber das konnte sie Katrin nun wirklich nicht antun. Schade. Naja, irgendwie musste sie den Kontakt zu Katrin pflegen. Außerdem hatten sie sich bisher immer gut verstanden. Vor Mathe gelang es Luisa, Jens Matheheft erneut zu stibitzen. Frau Sommer war überhaupt nicht begeistert die gleiche Ausrede zum zweiten Mal in dieser Woche zu hören. Er hätte das Heft eben noch gesehen. Es könne unmöglich weg sein. Er beteuerte, ganz sicher seine Hausaufgaben gemacht zu haben. Aber damit biss er bei Frau Sommer auf Granit. Der dritte Eintrag ins Klassenbuch war fällig. Er bekam eine Strafarbeit und Frau Sommer kündigte einen Brief an seine Eltern an. Jens saß wie ein Häufchen Elend an seinem Platz. Immer wieder wiederholte er, dass er doch seine Aufgaben gemacht habe und dass er doch bloß sein Heft nicht finden könne. Nach einer Weile war Frau Sommer so genervt, dass sie ihm einen zweiten Tadel in Aussicht stellte, wenn er nicht sofort damit aufhören würde. Luisas innerliches Grinsen wurde immer breiter. Das war wirklich exzellent gelaufen. Dieses Ekel. Endlich saß der auch mal in der Tinte. So wie er sie verprügelt hatte, hatte er das verdient. Luisa gab sich Mühe, sich möglichst unauffällig zu benehmen und sich das Lachen zu verkneifen. Nach der Stunde ging Jens direkt zu Frau Sommer, um noch einmal mit ihr zu sprechen. Er bekniete sie regelrecht, keinen Brief an die Eltern zu schreiben. Aber da war nichts zu machen. Wenn Frau Sommer einmal etwas gesagt hatte, dann blieb es in der Regel dabei, wenn nicht triftige Gründe dagegen sprachen. Triftige Gründe konnte Jens nicht vorbringen. Und damit war die Sache für Frau Sommer erledigt und entschieden. Jens saß wie ein Häufchen Elend auf seinem Platz, nachdem Frau Sommer die Klasse verlassen hatte. Alle anderen standen in kleinen Gruppen zusammen und diskutierten die Ereignisse. Pia saß bei Luisa auf dem Tisch, ließ die Beine baumeln und meinte zu Luisa, wie idiotisch und dumm man sein müsste, gleich zweimal in einer Woche bei Frau Sommer ohne Hausaufgaben aufzukreuzen. Unglaublich. Luisa meinte auch, dass Jens sowieso ein komischer Typ sei. Das habe sie von Anfang an geahnt. Außerdem hätte sie sich noch nie gut mit ihm verstanden. Heike kam hinzu und meinte, dass Jens ihr jetzt schon fast leid tun würde, weil er so zusammengesunken auf seinem Platz saß. Überall in der Klasse hörte man Stimmen, die äußerten, wie ungeschickt und dumm sich Jens verhalten hatte. Leider blieb keine Zeit das weiter auszudiskutieren, weil die Geschichtslehrerin schon den Raum betreten hatte und alle Gespräche damit auf die nächste Pause vertagt werden mussten. In der nächsten großen Pause ging das Gerede weiter, das zunehmend in Lästerei überging. Keiner konnte Jens verstehen, so dass er genau wie Katrin irgendwo alleine auf dem Schulhof stand. Katrins Laune war dementsprechend, hellte sich aber wieder auf, als Luisa extra zu ihr kam, um die genaue Uhrzeit für den Nachmittag abzumachen. Vier Uhr schien beiden eine gute Zeit zu sein. Kirsten, Heike, Pia und Angelika taten, als bemerkten sie nicht, dass Luisa sich den Rest der Pause bei Katrin aufhielt und angeregt mit ihr quatschte. Kurz vor Schulschluss schaffte es Luisa auch diesmal unbemerkt, Jens sein Matheheft heimlich zurückzugeben. Sehr zufrieden machte sie sich schließlich auf den Nachhauseweg. Ein sehr erfolgreicher Tag. Der Nachmittag mit Katrin wurde auch sehr nett. Allerdings blieb Katrin wieder bis nach dem Abendessen. Während des Essens unterhielt sie sich wieder angeregt mit Luisas Mutter, so dass sich Luisa schon ein bisschen komisch und überflüssig vorkam. Aber sie sagte nichts. Heute war endlich mal ein Tag gewesen, mit dem sie absolut zufrieden war und der auch nicht irgendwelche dramatischen oder seltsamen oder aufwühlenden Ereignisse gebracht hatte. Vor ihrem inneren Auge genoss sie immer noch den Anblick von Jens, wie er eingeschüchtert und sichtlich fix und fertig auf seinem Stühlchen gesessen hatte, während die ganze Klasse über ihn redete. So war dieser blöde Jens ihr am liebsten. Fürs erste war die Rache gelungen. Mal sehen, wie sich der Kleinkrieg weiterführen lassen könnte. Aber zuerst mal war das sehr gut so. Nach dem Abendessen verabschiedete sich Katrin dann endlich. Luisa war froh, endlich mit ihrer Mutter alleine zu sein, weil es ihr regelrecht unter den Nägeln brannte, endlich zu fragen, ob sie am Samstag ins Kino dürfe. Als das Abendprogramm eine Werbepause einlegte, fragte sie dann endlich: „Mama, am Samstag würde ich gerne abends mit ein paar neuen Freundinnen ins Kino gehen. Wir wollen uns den neuen James Bond anschauen. Darf ich?“ „Wann fängt der Film denn an? Und ist der nicht erst ab 16 Jahren freigegeben?“ Darüber hatte Luisa noch gar nicht nachgedacht. Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung. Es war ihr auch egal. Aber ihrer Mutter nicht. Daran konnte alles scheitern. „Also der Film beginnt um 20 Uhr.“ „Das wird dann aber sehr spät.“ „Ist doch Wochenende. Außerdem bin ich total froh, dass ich auch noch andere Mädchen kennen gelernt habe. Wie würde das aussehen, wenn ich da jetzt nicht mitkomme?“ „Das ist mir egal. Wenn der Film erst ab sechzehn freigegeben ist, wirst du nicht dorthin gehen.“ „Mama, bitte.“ „Ich schaue mal nach. Ich glaube, es steht in der Fernsehzeitung ein Artikel über diesen Film. Da wird wohl auch die Freigabe dabeistehen.“ Sie blätterte in der Zeitung und Luisa hielt die Luft an. „Du hast Glück. Ab zwölf.“ „Mama, darf ich dann?“ „Moment, der hat auch noch Überlänge! Wie spät willst du denn dann zu Hause sein?“ „Es ist doch Samstag und du kannst mich direkt am Kino abholen, wenn du möchtest. Bitte.“ Luisa quengelte und quengelte. Sie wiederholte mehrmals, dass sie jetzt endlich die Chance hätte, sich mit den anderen Mädchen anzufreunden. Ihre Mutter müsse doch froh sein, wenn sie nicht immer nur hier alleine rumsitzen würde. Nach langem hin und her stimmte ihre Mutter dann endlich zu. Luisa fiel ihr um den Hals. „Super. Das ist total nett von dir.“ „Schon gut.“ Luisa war ein Stein vom Herzen gefallen. Wie hätte das ausgesehen, wenn sie das hätte absagen müssen? Gerade jetzt, wo alles so gut lief, wäre das unmöglich gewesen.

In dieser Nacht schlief sie ohne Träume einen tiefen erholsamen Schlaf, so dass sie ausgeruht am nächsten Tag zur Schule ging. Am Freitag Nachmittag war dann noch ein Treffen bei Pia, zu dem Luisa auch eingeladen wurde. Der Kinoabend wurde super, zumal man sich vorher zum Klönen und Pommes essen traf und dabei wurde sogar von jeder ein Bier getrunken, das zwar keiner wirklich schmeckte, aber dafür sorgte, dass sie sich alle zusammen schon ziemlich erwachsen fühlten. Die kleine Clique wuchs immer mehr zusammen. Die Anderen fragten schon, ob Luisa nicht mit zum Reiten kommen wolle. Luisa war sich da nicht so sicher. Pferde waren nicht ihr Ding. Die erschienen ihr zu groß, um sie zu kontrollieren und planvoll darauf zu reiten. Sie sagte aber nicht gleich ab, sondern versprach, sich die Sache zu überlegen.

Als Luisa mit strahlenden Augen vom Kino zurückkam, war ihre Mutter sich sicher, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, die Erlaubnis dazu zu erteilen. Sie war froh, dass Luisa endlich anfing Freundschaften aufzubauen.

Den Sonntag verbrachten Luisa und ihre Mutter zusammen. Sie schmiedeten Pläne für die neue Wohnung und gingen abends zusammen essen. Ab übernächster Woche würden sie den Schlüssel für die neue Wohnung bekommen. Dann würden sie anfangen zu renovieren. Sie verabredeten sich für Dienstag Nachmittag, zum Tapeten aussuchen. Es wurde Zeit, die ersten Einkäufe zu tätigen. Mutter wollte an diesem Tag früh Feierabend machen, so dass bis Ladenschluss genügend Zeit blieb, um das eine oder andere Geschäft aufzusuchen. „Wenn wir den Schlüssel haben und in die Wohnung können, werde ich öfter mal deine Hilfe brauchen. Es gibt dort einiges zu renovieren und alleine werde ich das nicht schaffen. Du wirst dann vielleicht vorübergehend nicht ganz so viel Zeit für deine Freunde haben.“ „Warum lassen wir nicht einfach Handwerker kommen?“ „Das wird zu teuer. Wir möchten neue Möbel haben und Teppiche und Tapeten. Das ist eine ganze Menge und muss erst mal bezahlt werden. Ganz abgesehen davon ist die Wohnung selbst auch nicht billig.“ „Das heißt, wir können uns das eigentlich gar nicht leisten?“ frage Luisa mit besorgtem Gesicht. Sie sah sofort sehr ernst aus. „Doch wir können uns das schon leisten, wenn wir einiges selbst renovieren. „Wie lange wird es denn dann dauern bis wir endlich einziehen können?“ „Oh, das wird schon ein paar Wochen dauern. Ich hoffe, dass wir Anfang November einziehen können.“ „Anfang November? So lange?“ „Du wirst dich wundern wie viel Arbeit das alles sein wird. Es soll doch alles schön werden. Ich werde mir mal zehn Tage Urlaub nehmen, damit wir das alles in Ruhe machen können, zumindest den größten Teil. Den Rest werden wir dann am Wochenende machen müssen. Außerdem ist es lange her, dass ich zuletzt mal beim Renovieren geholfen habe. Selbst und alleine habe ich das auch noch nie gemacht. Bisher war immer jemand dabei, der sich mit so was gut auskennt.“ Na, das konnte ja heiter werden. Bis November müsste Luisa dann weniger Zeit mit ihren neuen Freunden verbringen und dass wo jetzt alles so gut lief. An Renovieren hatte Luisa im Hinblick auf den Umzug gar nicht gedacht. Als ob sie so nicht schon genug zu tun hatte. Hier in der Schule in Kleinstadt gab es immer ganz schön viele Hausaufgaben auf und die Freunde sehen wollte sie ja auch. Mathe lernen musste sie. Da blieb am Ende nicht viel Spielraum. Keine allzu gute Perspektive.

Am Montag in der Schule wurden schon Pläne für die nächste Woche geschmiedet. „Wir treffen uns am Dienstag bei uns und dann können wir Mittwoch shoppen gehen, Donnerstag ist Reiten und Freitag könnten wir in der Eisdiele das Wochenende einläuten“, schlug Kirsten vor. „Das hört sich gut an.“ Pia war total begeistert. „Shoppen gehen finde ich super. Ich brauche noch neue Klamotten, weil meine Oma am Wochenende Geburtstag hat. Da taucht die ganze Verwandtschaft auf. Da muss schon was schickes her. Schließlich mache ich mich sonst zum Gespött der gesamten Verwandtschaft.“ „Kein Problem“, meinte Angelika, „Das bekommen wir schon hin, dass du sämtliche Cousinen locker ausstichst.“ „Natürlich, gar keine Frage. Wir werden das schon machen.“ „Was ist mit dir Luisa? Hast du keine Zeit?“ „Doch schon abgesehen von Dienstag. Da werde ich früh gehen müssen. Meine Mutter und ich, wir wollen umziehen und müssen Tapeten für die neue Wohnung aussuchen. Da muss ich natürlich dabei sein.“ „Na, klar. Sonst musst du dir nachher jahrelang irgendwelche Blümchen anschauen, die dir schon am zweiten Tag auf den Sender gehen.“ Luisa nickte. „Mütter haben manchmal einen komischen Geschmack“, meinte auch Kirsten, „Da ist es schon besser du schaust ihr etwas auf die Finger.“ Luisa hatte nicht so unbedingt den Eindruck, dass ihre Mutter auf irgendwelche hässlichen Blumenmuster stand. Aber ihre Freundinnen hatten recht. Wenn sie dabei war, war sie auf jeden Fall auf der sicheren Seite und vor unliebsamen Überraschungen gefeit. „Kommst du eigentlich Donnerstag mit zum Reiten?“ „Genau, du solltest das unbedingt mal ausprobieren.“ „Ich denke nicht, dass ich das schaffen werde. Schließlich muss ich irgendwann diese Woche auch Mathe lernen.“ „Ach, das kannst du auch mal ausfallen lassen.“ „Nein, kann ich nicht. Frau Sommer macht mir sonst die Hölle heiß. Außerdem bleibt sonst keine Zeit für Katrin.“ Katrin. Die Anderen verdrehten die Augen. Was Luisa mit der anfangen konnte, außer Mathe lernen, war ihnen allen ein Rätsel.

Katrin guckte wieder etwas pikiert, als Luisa erst kurz vor Unterrichtsbeginn an ihrem Platz auftauchte und somit keine Zeit mehr zum Erzählen blieb. In der Pause fragte Luisa Katrin, ob sie heute Zeit hätte. Aber Katrin hatte heute Nachmittag schon was vor. Wie langweilig. Luisa hatte sich eigentlich gefreut, heute alle in der Schule wiederzutreffen und vielleicht irgendwas nettes für den Nachmittag zu verabreden. Aber da war wohl nichts zu machen. Ausgerechnet heute hatten sie nur fünf Stunden Unterricht, so dass prima Zeit für Unternehmungen gewesen wäre. Luisa genoss die Gesellschaft der Anderen und wollte ungern den Nachmittag allein verbringen, obwohl sie das bis vor ein paar Tagen eigentlich immer getan hatte. Nach der Schule ging sie nach Hause und war ausgerechnet heute schnell mit den Hausaufgaben fertig. Ratlos saß sie im Wohnzimmer auf der Couch. Was hatte sie denn sonst immer gemacht, als sie noch keine Freunde hier hatte? Ihr wollte nichts einfallen. Sie zappte durch die Fernsehprogramme aber die Nachmittags-Talkshows waren dann doch zu oberflächlich. „Petra nach dem Mittagessen“ Thema: Hilfe, mein Hund kotzt auf den Teppich! Wer wollte denn so was sehen? Also schaltete Luisa den Fernseher wieder aus. Draußen war schönes Wetter. Sie könnte ein wenig spazieren gehen. Das war eine Idee. Gesagt getan. Die frische Luft tat ihr gut. Unbewusst lenkte sie ihre Schritte in den Stadtpark. Sie kam an der alten Eiche vorbei, in der sie letzte Woche geklettert war. Prüfend wanderte ihr Blick nach oben. Sie war ganz schön weit oben gewesen. Der lose Ast, von dem sie fast heruntergefallen war, war deutlich auch von unten zu sehen. Ihr wurde jetzt noch ganz schwindelig, wenn sie daran dachte. Aber es hatte sich gelohnt. So viel stand fest. Ohne die Mutprobe würde sie immer noch nur mit Katrin herumhängen. Jeden Tag war das auch langweilig. Sie war richtig gut gewesen. Sie hatte mit der Kletteraktion ganz schön Eindruck geschunden bei den Mädels. Aber wie hatten die nur auf so eine verrückte Idee kommen können? Das war schon ganz schön heftiger Tobak gewesen. In Gedanken verloren und entspannt schlenderte Luisa weiter. Die Vögel zwitscherten. Es war ruhig hier an dieser Stelle des Parks, wenig Menschen. Sie setzte sich eine Weile ins Gras, legte sich auf den Rücken und beobachtete die ziehenden Wolken. Dann stand sie auf und ging weiter. Bald stand sie vor einer Brücke. Sie dachte nicht darüber nach und ging einfach weiter. Ein schöner Waldweg lag vor ihr. Luisa genoss die Blumen am Wegesrand, die in den verschiedensten Farben blühten. Plötzlich wurde es ihr klar: Sie war wieder im Wald. Dieser wunderbare zauberhafte Wald, den sie vom ersten Augenblick an so toll gefunden hatte. Wieder war sie total fasziniert von der ruhigen entspannten Atmosphäre. Sie ging wieder am Bach entlang, der sie leise säuselnd begleitete. Sie beobachtete Schmetterlinge und machte einen langen Spaziergang, bevor sie sich dann auf der Lichtung am Bach auf das weiche Moos legte und in den Himmel schaute und die treibenden Wolken beobachtete. War das herrlich hier. Die Sonne hatte den Boden aufgewärmt und das Moos war absolut weich. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin, die auf einer absoluten Luxusmatratze liegt. Ein kleiner Vogel hüpfte oben im Baum von Ast zu Ast. Wundervoll. Ihr gesamtes Leben, der Vormittag, die Schule, alles schien unendlich weit weg zu sein. Dabei war sie doch gar nicht so lange gegangen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass hier alles genauso aussah, wie in ihren Träumen. Träumte sie schon wieder? War sie im Park eingeschlafen? Das alles erschien so real. Sie war geschwitzt vom gehen. Sie spürte den Wind auf ihrer Haut, sie hörte die Vögel zwitschern. War so etwas im Traum überhaupt möglich? Sie war sich da nicht so sicher. War auch egal eigentlich. Luisa war glücklich. Das war doch die Hauptsache. Spielte es da eine Rolle, ob sie wach war oder träumte? Wahrscheinlich nicht. Auf jeden Fall wollte sie das so lange wie möglich genießen. Zeit war doch nicht so wichtig. Sie fühlte sich völlig gelöst. Die Anspannung von der Schule, die Gedanken an das bevorstehende Renovieren, das sie am liebsten nicht vor sich hätte, die Überlegung mit zum Reiten zu gehen oder nicht. Alle großen und kleinen Gedanken waren da, aber nur in federleichten Ausführungen. Sie überlegte, dass sie noch weiter gehen könnte, um noch mehr von dem Wald zu sehen. Das war eine gute Idee. Also ging sie weiter und bog nicht rechts ab, wie in ihrem letzten Traum, sondern ging einfach geradeaus weiter an der nächsten Wegkreuzung. Der Wald schien kein Ende zu nehmen. Aus Mischwald war Tannenwald geworden. Dunkle Tannen standen rechts und links des Wegs. Obwohl es hier weniger Licht gab, wuchsen immer noch Blumen am Wegesrand. Sie erschrak, als sie es im Dickicht knacken hörte. Was war das gewesen? Luisa ging nur zögernd und langsamer weiter. Bald hatte sie die Ursache des Geräusches ausgemacht. Es war ein Reh, das Luisa aufgescheucht hatte. Nach einer dreiviertel Stunde wurde der Wald wieder heller und lichter. Luisa hatte einen großen See mitten im Wald erreicht. Hier gab es viele Wasservögel. Schwäne, Enten, Graureiher, Haubentaucher und viele andere Sorten, die Luisa nicht kannte, konnte man hier beobachten. Luisa suchte sich einen Baumstamm in Seenähe, setzte sich und beobachtete das bunte Treiben. Schließlich beschloss sie schweren Herzens, sich auf den Rückweg zu machen. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass es schon relativ spät geworden war. Sie hatte auch noch einiges an Weg vor sich. Ohne jede Eile ging sie durch den Tannenwald zurück. Das Reh war inzwischen verschwunden. Dafür beobachtete sie Vögel und betrachtete die Blumen am Wegesrand. Wie die wohl alle hießen? Sie hätte in Bio doch mal besser aufpassen sollen. Sie würde sich bessern. Es wäre ja noch alles viel interessanter, wenn sie wüsste, was sie da sieht. Sie könnte sich auch ein entsprechendes Bestimmungsbuch kaufen. Aber das würde ihre Mutter ziemlich merkwürdig finden. Na, ja, Mütter mussten auch nicht alles wissen. Wenn sie wieder Zeit hätte, würde sie erst in den Buchladen gehen und dann in den Wald mit einem neuen Bestimmungsbuch für Pflanzen und Tiere. Super, gute Idee. Am besten Morgen. Oh, nein. Morgen hatte sie sich schon verabredet und für den Rest der Woche auch. Luisa wurde heiß und kalt, als ihr klar wurde, dass sie vor nächste Woche Montag keine Chance hatte, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Oder sie müsste den anderen absagen. Aber das konnte sie auch schlecht machen. Heute morgen hatte sie noch allem zugestimmt. Da konnte sie sich unmöglich aus der Affäre ziehen. Außerdem war sie unendlich froh, nicht mehr immer alleine zu sein. Sie konnte unmöglich alles absagen. So ein Ärger aber auch! Sie wollte so schnell wie möglich wieder hier sein und diesen faszinierenden Wald erleben. Sie wollte nicht hier weg. Jetzt nicht. Aber wenn sie schon gehen musste, weil ihre Mutter bald nach Hause kommen würde, dann wollte sie wenigstens schnellstmöglich wiederkommen. Am besten gleich heute Nacht. Nein, das war dann doch zu gewagt. Nächsten Montag. Das war gebucht. Da würde sie nichts dazwischen kommen lassen. Das war klar. Mit diesem Entschluss stellte sich auch wieder die innere Ruhe und Entspannung ein, die sie bis auf diesen kurzen Moment gerade die ganze Zeit im Wald gespürt hatte. Sie genoss den Rückweg wie den Hinweg bog an der Kreuzung ab. Sie wollte nicht komplett den gleichen Weg zurückgehen. Außerdem hatte sie geträumt, dass sie auf diesem Weg zur Brücke zurückkommen würde. Darauf verließ sich Luisa und hatte Recht damit. Schon nach kurzer Zeit hatte sie die Brücke erreicht, kehrte zurück in den Stadtpark und ging nach Hause. Ihre Mutter war schon eine Weile zu Hause und hatte schon mit dem Abendessen gewartet. Luisa entschuldigte sich, dass es so spät geworden war. So langsam verblassten die Eindrücke vom Wald. Das Gespräch mit der Moni beim Abendessen und das Essen selbst holten Luisa so nach und nach wieder mehr in die Realität zurück.

Als sie später im Bett lag, dachte sie intensiv über den Nachmittag nach. Diesmal war sie sich sicher, dass sie nicht geträumt hatte. Sie war dort gewesen in diesem Wald wie beim ersten Mal auch. Das war kein Traum gewesen. Wann hätte sie geschlafen haben sollen, an diesem Nachmittag? Nein. Der Wald existierte. Er musste einfach existieren. Luisa wollte schnellstmöglich wieder hin. Also musste es ihn geben. Aber wie konnte es dann sein, dass sie ihn vorher nicht gefunden hatte? Wie konnte es sein, dass die alte Frau, die sie nach dem Weg gefragt hatte, den Wald nicht kannte, wenn er denn da war? Wie konnte es sein, dass Katrin den Wald nicht kannte, obwohl sie schon so lange hier wohnte? Wie war das alles möglich? Luisa grübelte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Sie schlief schließlich einfach mit ihren Gedanken ein. Aber ein Gedanke hatte sich vorm Einschlafen in ihrem Kopf festgesetzt: Der Wald existiert und ich war dort.

Traumland - Reise in eine andere Welt

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