Читать книгу Traumland - Reise in eine andere Welt - Carmen Löbel - Страница 7
Das zweite Treffen
ОглавлениеAm nächsten Morgen war Luisa immer noch benommen von den Ereignissen gestern. Diese Begegnung mit Sophie hatte sie doch mehr aufgewühlt, als sie zunächst gedacht hatte. Heute musste sie unbedingt wieder pünktlich im Wald am See sein, damit Sophie sie nicht schon wieder als unzuverlässig einschätzen konnte. Sie überlegte schon beim Anziehen, was sie Katrin sagen sollte, mit der sie doch eigentlich heute lernen wollte. Sie hatte schon die ganzen Ferien keine Zeit für sie gehabt, letzte Woche hatte sie ausnahmsweise abgesagt und jetzt musste sie schon wieder ausnahmsweise absagen. Aber wie sollte sie das begründen? Sie konnte ja schlecht sagen, ich habe da ein seltsames Wesen im Wald kennen gelernt. Sie hatte versprochen, davon niemanden zu erzählen. Und selbst wenn sie es erzählen würde, würde man sie bestenfalls für verrückt erklären. Sie konnte sagen, dass sie einen Termin beim Zahnarzt vergessen hatte. Das war gut. Ihre Mutter hätte sie erst heute Morgen daran erinnert. Tja. Aber ein Besuch beim Zahnarzt dauerte auch nicht so lange. Dann könnte sie vorher oder nachher immer noch bei Katrin vorbeischauen. Das würde wirklich blöd aussehen, wenn sie dann Ausreden erfinden würde, die Katrin natürlich auch als solche erkennen würde. Sie frühstückte gedankenverloren, ohne eine wirklich gute Idee zu haben. Welche Aktion konnte schon den ganzen Nachmittag dauern und so wichtig sein, dass sie Katrin deswegen absagte? Schwierig. Sie könnte eine Tante oder irgendeine andere beliebige Verwandte erfinden, zu deren Geburtstag sie dringend mitmusste. Den hatte sie natürlich total vergessen. Aber diese Ausrede hatte sie letzte Woche schon benutzt. Luisas Mutter guckte schon komisch, weil Luisa so abwesend ihr Frühstück zu sich nahm. Luisa redete sich heraus, dass sie eben noch müde sei. Da das nichts besonderes war und Mutter und Tochter beide nicht die herausragenden Frühaufsteher waren, wunderte sich Moni nicht weiter darüber. Luisa verließ bald darauf das Haus. Sie schämte sich, Katrin absagen zu müssen, nachdem sie gestern noch zugesagt hatte. Aber wer konnte so etwas ahnen? Hätte sie auch nur den Hauch einer Ahnung haben können, dass sie gestern im Wald Sophie treffen würde? Natürlich nicht. Also war Luisa quasi unschuldig. Grübelnd legte sie den Schulweg zurück. Wenn ihr nicht bald was einfallen würde, würde sie improvisieren müssen. Aber sie hatte Glück. Als sie kurz vor dem Klingeln das Klassenzimmer betrat, stellte sich heraus, dass Katrins Platz leer war. Da sie normalerweise immer mehr als pünktlich war, würde sie wohl nicht mehr kommen. Das hieß, dass sie krank war, was die Lehrerin in der ersten Stunde direkt bestätigte. Dann konnten sie natürlich nicht lernen. Luisa war erleichtert. Schon nach den ersten fünf Minuten Unterricht sehnte sie das Schulende herbei. Die anderen Mädchen fanden Luisa heute etwas komisch. Aber Luisa sagte nur, dass es ihr nicht so gut ginge heute. Alle hatten sofort Verständnis. Sie wussten schließlich alle von Luisas ominöser Krankheit. „Das liegt bestimmt an deiner Krankheit“, meinte Pia mitfühlend und sprach damit aus, was alle anderen dachten. Luisa wollte schon fragen, welche Krankheit sie denn meinten, als ihr gerade noch rechtzeitig einfiel, dass sie so ihre Fehltage am Anfang entschuldigt hatte. Sie musste echt aufpassen, dass ihre Geschichten ihr nicht über den Kopf wuchsen. Heute fiel leider keine der sieben Schulstunden aus und Luisa war ziemlich groggy, als sie endlich nach Hause kam. Sie machte sich wie immer das Essen warm und ruhte sich noch einen Moment aus. Pünktlich machte sie sich auf den Weg. Falls sie etwas Zeit haben würde, nahm sie ihr Buch mit. Man konnte ja nie wissen. Sie schlenderte in Richtung Stadtpark und hoffte inständig, dass sie ausgerechnet heute nicht am Zaun stehen würde. Doch diese Sorge erwies sich bald als unbegründet. Nach dem Gespräch von gestern konnte sie nicht mehr so unbekümmert im Wald herumlaufen und diesen genießen. Irgendwie kam sie sich wie ein Eindringling vor. Immer wieder spukte ihr das Wort Sicherheitsrisiko im Kopf herum. Kurz vor drei erreichte sie pünktlich den See. Sie sah sich um. Der Stein, auf dem sei gestern mit Sophie gesessen hatte, war leer. Vielleicht hatte sie doch alles nur geträumt? Sie setzte sich und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Die Anspannung ließ deutlich nach. Sie fühlte sich gleich besser. Herrlich war es hier. Sie wusste, dass sie immer wieder herkommen würde. Sophie konnte sie nicht wirklich davon abhalten. Deutschland war ein freies Land. Sie hatte jedes Recht der Welt in diesem Wald herumzulaufen. In Deutschland konnte man in jedem Wald herumlaufen, solange dieser nicht eindeutig als Privatbesitz gekennzeichnet war. Aber ein Schild hatte sie hier noch nie gesehen. Was hätte da auch drauf stehen sollen? Kein Zutritt für Menschen? Dann wären auch andere bestimmt neugierig geworden. Luisa wartete und Sophie kam nicht. Komisch. Egal. Luisa legte sich entspannt auf den Rücken und beobachtete die Wolken am Himmel. Die Schule und die Hausaufgaben schienen endlos weit weg zu sein. Alles wurde hier so unbedeutend und klein. Schließlich hörte sie Schritte, die immer näher kamen. Sie setzte sich auf. Sophie kam auf sie zu. Ihre langen roten Haare glänzten in der Sonne und wehten locker und beschwingt um sie herum. Es sah aus als wäre Sophie eine kleine wandelnde Flamme. „Hallo“ , sagte Luisa. “Hallo” , sagte Sophie, „du bist tatsächlich wiedergekommen. Ich dachte schon, du könntest das gar nicht.“ „Ich hatte etwas Sorge, dass es nicht klappt, aber es war heute kein Problem. Ich wollte dich auf keinen Fall versetzen, nachdem wir uns doch gestern erst kennen gelernt haben.“ Beide waren etwas angespannt und wussten nicht so recht, was sie sagen sollten. Luisa wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und fragen, wie Sophie sie denn nun als Sicherheitsrisiko einstufen wollte. Zumindest hatte sie nicht gleich einen Lehrer mitgebracht. Das war schon mal ein guter Anfang. Vorsichtig fragte sie: „Wie geht es dir?“ „Mir? Warum?“ „Naja, du hast gestern einen nicht so glücklichen Tag gehabt. Das hast du selbst gesagt. Da dachte ich, ich frage, ob es dir wieder besser geht.“ „Ein bisschen.“ „Was hast du denn für Probleme? Vielleicht kann ich dir helfen?“ „Du?“ fragte Sophie entsetzt. „Ganz sicher nicht. Du bist schließlich nur ein Mensch. Ein Mensch kann so etwas nicht.“ Das fing ja gut an. Wie reizend. Ich bin ja nur ein Mensch. Mit einem Menschen kann man ja nichts anfangen. Luisa war etwas beleidigt. Aber sie wollte es sich auf keinen Fall mit Sophie verderben. Deshalb entgegnete sie nichts. Sophie sah sie an. „Jetzt bist du sauer, oder?“ Luisa überlegte. Eigentlich wollte sie schon nein sagen, aber dann überlegte sie es sich anders. Gestern war alles fast im Debakel geendet, nur weil sie sich ein bisschen in dem widersprochen hatte, was sie gesagt hatte. Sie hatte sich fest vorgenommen, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen. Dazu musste sie sich aber sehr zusammennehmen, weil sie es gewohnt war, immer mal wieder eine kleine Unwahrheit zu äußern, wenn sie es sich damit leichter machen konnte. Das war fast schon ein Reflex. Jetzt antwortete sie: „Natürlich bin ich sauer, wenn du mich wie ein Etwas zweiter Klasse behandelst.“ „Oh, das wollte ich nicht.“ „War ja nicht so schlimm.“ Schweigend saßen sie weiter auf dem Stein. Keine wusste etwas zu erzählen. Sophie begann kleine Steine ins Wasser zu werfen und die Wellen an der Wasseroberfläche zu beobachten. Luisa hatte gestern schon ein wenig von sich erzählt und Sophie hatte überhaupt nichts von sich preisgegeben. Sie war sehr distanziert gewesen. Unter diesen Umständen hatte Luisa jetzt auch keine Lust mehr zu erzählen. Ideen hätte sie schon gehabt, aber manchmal war sie eben ein bisschen stur. Die Äußerungen von Sophie hatten sie auch nicht gerade zu mehr motiviert. Nach einer Weile dachte Luisa an die vielen Hausaufgaben und dass sie Ärger bekommen würde, wenn Moni herausfinden würde, dass sie erst unterwegs gewesen und dann damit angefangen war. Jetzt hier einfach die Zeit tot zu schlagen, machte überhaupt keinen Sinn. Sollte diese zickige Sophie doch bleiben wo der Pfeffer wächst. Das war Luisa doch egal. Ihre Neugierde und freudige Erwartung hatten sich inzwischen gelegt und sie wollte nur noch nach Hause oder alleine diesen Wald genießen. Aber das war ja nun auch nicht mehr möglich. Sie würde einfach an einem anderen Tag wiederkommen und vorsichtig sein, damit sie nicht wieder jemanden traf. Das erschien ihr besser. Sie stand auf. Überrascht schaute Sophie sie an. „Willst du schon gehen?“ „Ja, ich habe noch total viele Hausaufgaben auf, Katrin, eine Freundin ist krank und ich will sie wenigstens anrufen. Und ich bekomme Ärger mit meiner Mutter, wenn ich so lange unterwegs bin und noch nicht einmal mit den Hausaufgaben angefangen habe. Es war mir wichtig, dich zu treffen, es erschien mir als etwas besonderes. Deshalb habe ich alles liegen lassen, aber wenn wir uns sowieso nur anschweigen, dann gehe ich.“ Jetzt hatte sie doch mehr von sich gesagt, als sie eigentlich wollte. Der Ärger hatte alles nur so rausgelassen. Egal, sollte sie denken, was sie wollte. „Schade. Ich fand es schön, hier mit dir zusammen zu sitzen.“ „An einem anderen Tag würde ich es auch schön finden, aber heute habe ich einfach zu viel zu tun. Außerdem habe ich mich über dich geärgert. Und ich dachte, wir reden und lernen uns ein bisschen kennen.“ „Macht man das so bei euch?“ „Ja. Bei euch nicht?“ „Doch auch, aber ich weiß nicht, was ich dir überhaupt erzählen darf. Eigentlich darfst du nicht einmal hier sein.“ „Ich dachte, du hättest dich entschieden.“ „Nein, ich weiß einfach nicht. Ich bin total unsicher. Ich glaube nicht, dass du gefährlich bist, aber irgendwie wage ich es nicht, dir mehr über uns zu erzählen oder über mich.“ „Dann gehe ich jetzt.“ „Oooch, musst du wirklich schon gehen?“ „Ja, aber wenn du möchtest, können wir uns nächste Woche Montag wieder treffen. Vielleicht weißt du dann, ob du mit mir reden möchtest. Montags habe ich nicht so lange Schule und auch weniger Hausaufgaben auf.“ „Du würdest wiederkommen?“ „Ja, klar, warum denn nicht?“ „Ich dachte, ich habe alles zerstört.“ „Nein, ich habe nur jetzt wenig Zeit und wenn wir sowieso nicht reden, macht das alles für mich wenig Sinn.“ Sophie nickte verständnisvoll. „Dann sehen wir uns Montag.“ „Bis Montag.“ „Tschüss, Luisa.“ „Tschüss, Sophie.“ Mit den Worten ging Luisa davon. So hatte sie sich den Nachmittag überhaupt nicht vorgestellt. Sie hatte alles aufgegeben, was sie eigentlich machen musste, um hier neben Sophie auf dem Stein zu sitzen. Sie hatte nichts, aber auch gar nichts von sich erzählt. Wusste sie denn wirklich nichts zu erzählen? Oder durfte sie nicht? Für Luisa war das alles etwas schwer zu verstehen. Heute fehlte ihr eindeutig die Geduld. Außerdem ärgerte sie sich über die verschenkte Zeit. Sie hatte Katrin komplett vergessen und Hausaufgaben hatte sie auch noch keine gemacht. Statt dessen hatte sie mit Sophie auf dem Stein gesessen. Das war wirklich großartig. Eine echte Leistung. Sie hätte schon viel eher gehen sollen. Jetzt war es schon vier Uhr. Unglaublich, wie schnell die Zeit im Wald immer verging. Viel zu schnell. Viertel nach vier war sie zu Hause. Der Anrufbeantworter blinkte. Katrin. Katrin sagte das Treffen ab, weil sie krank war. Luisa rief sie erst mal an und löschte die Nachricht auf dem AB. Wenn Moni das hören würde, wusste sie gleich, dass Luisa unterwegs gewesen war. Unerlaubterweise. Katrin freute sich, dass Luisa sich meldete. Sie hatte ziemlich heftig die Grippe und war total ansteckend. Deshalb hatte sie Luisa abgesagt. Luisa gab ihr die Hausaufgaben durch. Dann erzählten sie noch eine Weile. Luisa erklärte, dass sie kurz spazieren gewesen sei, weil sie nach der Schule so müde gewesen war. Deshalb war sie nicht zu Hause gewesen, als Katrin anrief. Das stimmte wenigstens teilweise. Katrin war nicht ganz mit der Ausrede zufrieden, aber sie sagte nichts dazu. Luisa hatte ein schlechtes Gewissen und deshalb quatschte sie erst mal ausgiebig mit Katrin. Sie brachte es nicht übers Herz die Verbindung nach der Weitergabe der Hausaufgaben sofort zu beenden. Katrin taute regelrecht auf und freute sich, mit jemanden zu reden. Ihr war schließlich ganz schön langweilig. Was sollte man auch den ganzen Tag im Bett machen? Die beiden hatten ein richtig nettes Gespräch, so dass Luisa gar nicht auffiel, wie spät es schon war. Erst als ihr Blick nebenbei mal über die Küchenuhr glitt, bekam sie regelrecht einen Schreck. Halb sechs. Moni würde gleich schon zu Hause sein. Sie gestand Katrin, dass sie noch keine Hausaufgaben gemacht hatte und dass sie Ärger bekommen würde, wenn sie nicht bald damit anfangen würde. Die beiden beendeten das Gespräch und Luisa versprach, morgen wieder anzurufen. Katrin freute sich über diese Initiative von Luisa und sie verabschiedeten sich. Dann verschaffte sich Luisa erst mal einen Überblick über die Hausaufgaben. Einige brauchte sie direkt für Morgen, aber zum Glück nur einen kleinen Teil. Den Rest würde sie dann morgen Nachmittag erledigen. Englisch war fertig, als Moni kam. Nur Deutsch fehlte noch für Morgen. Moni war erstaunt, sie noch bei den Hausaufgaben zu finden und Luisa erzählte, dass sie viel aufgehabt habe und sich mit Katrin verquatscht habe. Bei dieser Information verzog die Mutter verärgert das Gesicht. Sie sagte aber nichts weiter, weil Luisa ihr erklärte, dass Katrin krank sei und sie so lange telefoniert hätten, weil Katrin so schrecklich langweilig war. Eigentlich hätte Luisa ja nur die Hausaufgaben durchgeben wollen. Da Moni Katrin mochte, war das alles überhaupt kein Problem. Luisa konnte vor dem Abendessen noch in Ruhe Deutsch beenden und dann zum gemütlichen Teil des Tages übergehen, was so langsam wirklich angesagt war, da sie doch ganz gut geschafft war.
Die Woche plätscherte dahin. Luisa hatte eigentlich gehofft, dass Freitag jemand Zeit hätte, aber alle hatten schon etwas vor. Am Freitag war Luisa schnell mit ihren Hausaufgaben fertig und fragte sich dann, was sie mit dem trüben Herbstnachmittag anfangen sollte. Hin und wieder regnete es. Doch dann hatte Luisa eine Idee, die Idee überhaupt, wie sie meinte. Sie zog sich Regensachen an und machte sich auf den Weg zum Wald. Jetzt war sie neugierig. Sie wollte doch mal sehen, ob sie nicht alles noch ein bisschen besser erforschen konnte. Sophie tat immer so geheimnisvoll, was Luisa erst recht neugierig machte. Ob sie die Schule wohl finden konnte? Wie die wohl aussah? Und ob sie wohl andere Leute sehen würde? Besser schien auf jeden Fall zu sein, wenn nur sie die Anderen sah und diese Luisa nicht. Sie würde eben vorsichtig sein. Ein wenig mulmig war ihr schon, als sie sich auf den Weg machte. Fast hoffte sie schon, dass die Brücke heute nicht da war. Aber in letzter Zeit war sie immer an Ort und Stelle. Den hässlichen Bauzaun, der sonst das Firmengelände abschirmte, hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Zunächst folgte sie bekannten Wegen. Dann bog sie in eine ihr noch unbekannte Richtung ab. An der Kreuzung war sie bisher immer rechts gegangen. Diesmal ging sie geradeaus weiter. Bald war ihre Nervosität komplett verflogen. Im Grunde schien ihr alles wie immer zu sein. Sie genoss die Ruhe und Entspannung und beobachtete wie Nebel und Regenschwaden durch den Wald waberten. Bei einem solchen Wetter war sie noch nicht hier gewesen. Sie stellte fest, dass das durchaus auch seinen Reiz hatte. Wundervoll. Bald folgten weitere Wegkreuzungen, an denen sie immer geradeaus weiterging. Hier schien es wirklich ein großes Wegenetz zu geben. Da würde sie noch einige Wanderungen machen können, bevor sie sich hier wirklich auskannte. Die Atmosphäre war wieder zauberhaft und der Wald hatte sie wieder einmal völlig in seinen Bann gezogen. So bemerkte sie zunächst nicht, dass der Weg immer breiter wurde. Auch die Fußspuren blieben von Luisa unbeachtet. Erst als sie Stimmen hörte, wurde ihr auf einmal bewusst, wie leichtsinnig es war, hier mitten auf dem Weg zu gehen, obwohl sie doch eigentlich nicht gesehen werden wollte. Schnell versteckte sie sich am Wegesrand hinter einem Busch. Das war keine Sekunde zu früh, denn schon sah sie zwei Typen wie Sophie um die Kurve kommen. Sie hatten ähnliches langes dünnes im Wind wehendes Haar. Die Haarfarbe dieser beiden war knallblau. Sie redeten leise miteinander. Luisa konnte leider kein Wort verstehen. Worüber mochten diese Wesen wohl reden, wenn sie unter sich waren? Was waren das überhaupt für Wesen? Luisa hatte so viele Fragen und so wenig Antworten. Jetzt waren sie fast neben Luisa angekommen. Hoffentlich hatten sie nichts bemerkt. Es schien nicht so. Die beiden waren im Gespräch vertieft. „Was machst du denn am Wochenende?“ fragte der eine etwas dickere Blaue. „Ich werde wohl den Wanderausflug mitmachen.“ „Bei dem Wetter?“ „Gerade durch das schlechte Wetter wird es eine neue Erfahrung für mich werden. Bei Sonnenschein wandern, kann jeder.“ „Da hast du Recht. Ich werde mir das auch noch mal überlegen. Vielleicht komme ich doch noch mit. Eigentlich wollte ich ....“ Jetzt waren die Beiden zu weit entfernt, um noch ein Wort zu verstehen. Was der andere Blaue wohl am Wochenende machen wollte? Luisa hätte es zu gerne gewusst. Gerade als Luisa aus dem Gebüsch herausklettern wollte, kam schon wieder so ein Wesen angelatscht. Was machten die bei dem Wetter alle hier draußen? Wahrscheinlich hatten sie sich wie Luisa trotz Regen aufgerafft, um etwas frische Luft zu schnappen. Das Wesen, das sich nun langsam näherte hatte knallig gelbe Haare. Die Frisur schien bei allen gleich zu sein. Aber die Farbe wirklich überhaupt nicht. Dies gelbe Wesen war sehr schlank und dünn. Es sah fast zerbrechlich aus. Außerdem schien es nicht ganz in der Welt zu sein. Es bewegte sich ganz langsam und machte einen ziemlich abwesenden Eindruck. Hoffentlich war alles in Ordnung. Normal schien Luisa das nicht zu sein. Es dauerte ewig bis dieses Wesen endlich hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war. Luisa war schon ganz kalt, weil sie sich nun schon eine ganze Weile nicht bewegt hatte. Außerdem war der Regen wieder stärker geworden. Sie überlegte, ob sie es wagen könnte, auf dem Weg weiterzugehen. Hier schien ganz reger Verkehr zu sein. Wenn ein einzelner dieser Typen ihr entgegenkam und nicht gerade auf einen Ast trat, würde sie ihn erst bemerken, wenn er sie auch bemerken würde. Auf eine Entdeckung und endlose Fragen in strömendem Regen hatte Luisa wirklich überhaupt keine Lust. Sie entschied sich parallel zum Weg im Wald weiterzugehen. Die Wesen mussten alle drei irgendwo hergekommen sein. Vielleicht war das die Schule, von der Sophie gesprochen hatte. Bald kam sie wieder auf eine Wegkreuzung. Sie schaute aus welcher Richtung die meisten Spuren kamen. Es gab aber kein eindeutiges Ergebnis. Also entschloss sie sich noch einmal geradeaus weiterzugehen. Dann würde es auch einfacher den Rückweg wieder zu finden. Inzwischen wurde das Unterholz dichter und Luisa hatte Schwierigkeiten parallel zum Weg im Wald weiterzulaufen. Hier standen die Bäume dichter und waren kleiner, so dass alles sehr gut zum Verstecken geeignet war, aber nicht zum Gehen. Nach einer Weile entdeckte sie ein kleines Holzhaus, dessen kleiner Schornstein rauchte. Vorsichtig näherte sie sich. So richtig dicht traute sie sich nicht heran. Aber hier schien sie in der richtigen Richtung unterwegs zu sein. Wo ein Haus war, mussten doch bestimmt auch mehrere sein. Sie stieg weiter vorsichtig durch das Unterholz. Kurze Zeit später hörte sie schon von weitem laute Stimmen. Jetzt war Luisa völlig perplex. Da liefen ein blaues, ein rotes und ein gelbes und ein violettes Wesen durch den Wald und sangen in einer Sprache, die Luisa nicht kannte. Wieder versteckte sich Luisa gut und blieb auch diesmal unentdeckt. Kein Wunder, da sie wirklich in dickem Gebüsch steckte. Es blieb nach wie vor mühsam im Unterholz. Sie kam kaum vorwärts. Weitere Wesen erschienen ebenso wenig wie ein weiteres Haus. Luisa war so langsam etwas erschöpft. Sie schaute auf die Uhr und konnte es kaum glauben. Wieder einmal war sie so fasziniert von allem gewesen, dass es jetzt schon relativ spät war. In einer halben Stunde würde Moni nach Hause kommen und nicht wissen, wo sie steckte. Sie hatte keine Nachricht hinterlassen, wie sie es sonst immer tat, wenn sie plante, später nach Hause zu kommen. Dies hier hatte sie nicht geplant. In diesem Wald konnte man nichts planen. Also war es auf jeden Fall Zeit umzukehren. Wenn es doch einen kürzeren Weg zurück geben würde. Vielleicht konnte sie gleich links abbiegen und so schneller wieder zur Brücke kommen? Vielleicht, vielleicht würde sie auch ganz woanders landen und sich noch weiter entfernen. Nein, das Risiko konnte sie nicht eingehen. Sie schlich weiter durch das Unterholz. Als ihr das endgültig zu mühsam wurde, kehrte sie auf den Weg zurück und rannte so lange, bis sie sich halbwegs sicher fühlte und schon ein ganzes Stück von dem Ort entfernt war, an dem sie die beiden Blauen getroffen hatte. Hier konnte sie bestimmt in aller Ruhe auf dem Weg laufen. Es war sehr ruhig im Wald. Der Nebel dämpfte die Geräusche. Jetzt war Moni bestimmt schon eine Viertelstunde zu Hause. Wie sollte sie das wieder erklären? Moni würde sagen, dass Luisa hätte anrufen sollen. Gute Idee. Hier gab es wirklich an jeder Ecke ein Telefon. Luisa konnte ja schlecht von dem Wald erzählen. Das würde Moni sowieso nicht glauben. Sie würde einfach sagen, sie sei durch die Stadt gebummelt und habe die Zeit vergessen. So ähnlich war es ja auch gewesen. Endlich erreichte sie die Kreuzung, die ihr inzwischen schon von vorherigen Besuchen im Wald sehr vertraut war. Von hier kannte sie den kürzesten Weg zurück. Daher war sie völlig entspannt. Hier hatte sie noch nie jemanden getroffen. Dieser Weg schien weit weg von allem zu sein. Luisa genoss noch einmal kurz die Atmosphäre im Wald, bevor sie diesen dann über die Brücke in den Stadtpark verließ. Moni war schon lange zu Hause, als Luisa endlich auftauchte. Luisa war gerade rechtzeitig zum Abendessen zu Hause angekommen. Aber das musste wohl noch etwas warten. Moni überschlug sich regelrecht. „Wo warst du denn? Und wie siehst du überhaupt aus?“ Triefend nass und auch etwas dreckig stand Luisa im Flur und wusste nicht so recht was sie sagen sollte. Der Stadtbummel im Regen war nun wirklich unglaubwürdig. Dabei wurde man nicht so dreckig. Da kam ihr ein rettender Gedanke. „Ich war auf dem Reiterhof und habe den anderen bei der Reitstunde zugeschaut. Dort ist es einfach etwas dreckig. Auf dem Rückweg bin ich dann so nass geworden. Ich hatte auch nicht vor, so lange zu bleiben. Ich habe total die Zeit vergessen. Es tut mir leid, dass es so spät geworden ist.“ Missmutig zog Moni die Augenbrauen hoch. So richtig glaubte sie ihr nicht. Luisa war noch nie besonders begeistert vom Reiten gewesen. Ausgerechnet da sollte sie die Zeit vergessen haben? Das war doch alles sehr seltsam. Da sie Hunger hatte und Luisa ganz sicher erst duschen musste, schickte sie ihre Tochter kurzerhand unter die Dusche. Zum Reden war auch später noch Zeit. Nach dem Abendessen vergewisserte sie sich erst mal, dass Luisa ihre Hausaufgaben gemacht hatte und nicht wieder ohne etwas zu tun, das Haus verlassen hatte. Die Aufgaben waren ordentlich und gut gemacht und hielten somit der kritischen Überprüfung stand. Luisa lenkte das Gesprächsthema von ihrem Ausflug weg und Moni bemerkte bald, dass zu diesem Thema nichts Neues mehr zu erfahren war. Luisa wollte über irgendetwas nicht reden, aber worum es sich dabei handelte, war einfach nicht zu erfahren. Da es wahrscheinlich nicht allzu dramatisch war, gab sie auf, um nicht ihnen beiden den Abend zu verderben. So wurde es dann doch noch recht gemütlich.
Am Wochenende war Luisa dann wieder mit ihren Freundinnen unterwegs. Diesmal gingen sie gemütlich zum Italiener Essen. Natürlich wurde wieder viel gequatscht und der Abend verging wie im Flug. Mit dem Sonntag war es nicht anders und schon fing die neue Woche an, was Luisa diesmal aber nicht zu sehr störte, da sie heute mit Sophie verabredet war. Darauf war sie wirklich neugierig. Heute würde alles nicht so stressig werden, da sie früh Schulschluss haben würde. Vielleicht konnte sie ja doch irgendwas von Sophie erfahren. Wenn Sophie gar kein Interesse hätte, sich mit ihr zu treffen, wäre dies nicht schon die zweite Verabredung. Also musste sie sich aus irgendeinem Grund auch für Luisa interessieren. Der Schultag zog sich wieder wie Kaugummi. Jens stellte Luisa wieder ein Bein, so dass sie der Länge nach hinfiel. Jens. Der schon wieder. Konnte er nicht einfach mal Ruhe geben? Immer musste er provozieren. Luisa erinnerte sich, dass da sowieso noch eine Rache fällig war. Schließlich hatte sie die verrückte Mutprobe indirekt auch Jens zu verdanken. Und was er sich Pia gegenüber geleistet hatte, war wirklich unter aller Würde. So eine miese Type. Sie hatte das fast vergessen. Aber nur fast. Als es zur Pause schellte, klüngelte Luisa noch ein wenig im Klassenzimmer herum und sortierte gewissenhaft und in Zeitlupe ihre Sachen. Endlich waren alle verschwunden. Sie entleerte den Mülleimer, füllte ihn mit Wasser, öffnete das Fenster und brachte sich in Stellung. Meist drückte sich Jens an der Hauswand herum. Mit ein bisschen Glück könnte sie ihn erwischen. Auch heute stand er wieder neben der Mülltonne direkt an der Wand und schälte eine Mandarine. Seine Kumpels standen allerdings etwas im Weg. Luisa wollte es sich nicht gleich mit seiner ganzen Clique verscherzen. Der tägliche Kleinkrieg mit Jens reichte schon. Einen weiteren Kampfschauplatz brauchte sie wirklich nicht. Warum standen die Jungs bloß so dicht zusammen? Gleich würde Jens mit seiner Mandarine fertig sein und vielleicht woanders hin gehen. Dann wäre die Chance vertan. Endlich entfernte sich einer von seinen drei Kumpels und verschwand in Richtung Toilette. Ein zweiter schloss sich an. Jetzt musste nur noch der dritte einen Schritt zur Seite gehen. Luisa hypnotisierte ihn versuchsweise mit ihren Gedanken. Geh weg, geh weg. Durch pure Gedankenkraft tat sich da unten rein gar nichts. Die Kumpels von Jens kamen gerade von der Toilette zurück. Das würde knapp werden. Doch da kam Luisa ein Zufall zu Hilfe: Die Fünfer spielten auf dem Schulhof Fußball und der Ball flog von ihnen weg direkt in Richtung auf Jens und seinen letzten verbliebenen Kumpan. Dieser nahm Anlauf und trat den Ball zurück. Dabei entfernte er sich so weit von Jens, dass Luisa ihren Vorsatz ausführen konnte. Rasch streckte sie den Arm aus und ergoss den Inhalt des Mülleimers (diverser Schmutz hatte sich inzwischen im Wasser gelöst) über Jens. Danach ging sie sofort in Deckung. Sie füllte den Müll wieder in den Eimer und verschwand so schnell wie möglich aus dem Klassenzimmer. Sie rannte die Treppe hinauf nach oben und den nächsten Gang entlang. Möglichst weit weg vom Tatort. Leider hatte sie aufgrund der ganzen Hektik keine Möglichkeit gehabt, den Effekt ihrer Tat zu beobachten. Sie stellte sich Jens verduztes Gesicht vor und kicherte vor sich hin. Sie ging zur anderen Treppe, die nach unten führte und tauchte schließlich mitten im Gewimmel der anderen Schüler auf dem Pausenhof unter. Nicht weit entfernt standen Kirsten und Heike, zu denen sie sich schnell gesellte. „Wo warst du denn?“ „Wenn euch jemand fragen sollte, ich war die ganze Zeit bei euch. Alles klar?“ „Ja, aber warum?“ „Erkläre ich euch später.“ Jens lief triefend nass und suchend durch die Schülergruppen. Einer seiner Kumpels war durch die Schulflure gelaufen und kam ohne Ergebnis zurück. Die anderen sahen sich suchend auf dem Schulhof um, konnten sich aber wirklich keinen Reim darauf machen, wo das Wasser hergekommen war. Jens hatte schon einen Verdacht. Wutentbrannt kam er auf Luisa zu. „Was fällt dir ein, du miese, miese...“ Vor lauter Ärger fiel ihm noch nicht einmal ein passendes Schimpfwort ein. „Was hast du denn für ein Problem? Und wie siehst du überhaupt aus?“ „Genau, was ist dir denn passiert?“ wollte Heike wissen. „Frag doch Luisa, die wird es dir bestimmt erklären können.“ Heike schaute Luisa an, die ein völlig unbeteiligtes Gesicht machte. “Woher soll ich wissen, warum du herumläufst wie ein begossener Pudel? Findest du das cool oder hast du einen neuen Wetlook entdeckt?“ Jetzt war Jens Geduld zu Ende. Voller Wut stürzte er sich auf Luisa und fing an, auf sie einzuprügeln und sie zu beschimpfen. Luisa konnte seinem ersten Tritt ausweichen, was ihn noch wütender machte. Dann erwischte er sie mit einer schallenden Ohrfeige. Bevor er erneut ausholen konnte, stand die Pausenaufsicht neben ihm. „Jens, was fällt dir denn ein? Hör sofort damit auf.“ „Sie hat mich mit Wasser übergossen. Und jetzt beschimpft sie mich auch noch.“ „Also ich habe hier nur einen schimpfen gehört und das warst du. Erzähl erst mal in Ruhe, was genau passiert ist.“ „Was passiert ist? Ich stand dort drüben unter unserem Fenster vom Klassenraum, als sich plötzlich ein riesiger Schwall Wasser über mich ergoss. Schauen Sie mich mal an! Ich bin bis auf die Haut nass. Das war Luisa. Da bin ich mir sicher.“ „Woher willst du das wissen? Hast du sie oben am Fenster gesehen?“ „Nein, aber sie muss es gewesen sein.“ Die Lehrerin schaute Luisa fragend an. „Was sagst du denn dazu?“ „Warum sollte ich so etwas machen? Ich gebe zu, dass ich mich mit Jens nicht wirklich gut verstehe. Das weiß jeder in unserer Klasse. Erst heute Morgen hat er mir ein Bein gestellt. Aber deshalb würde ich doch kein Wasser über ihn kippen. Ich war die ganze Zeit hier. Heike und Kirsten können das bezeugen.“ Heike und Kirsten nickten sofort. Kirsten hatte schnell die Situation durchschaut und sagte: „Wer immer das getan hat, Luisa war es nicht. Wir quatschen schon die ganze Zeit zusammen und stehen hier seit Anfang der Pause. Luisa war die ganze Zeit bei uns.“ „Das kann ich bestätigen“, mischte sich nun auch Heike ein. Spätestens seit Jens Aktion mit Pias Kette, die den beiden Mädchen natürlich auch bekannt war, gönnten sie ihm die kleine Abkühlung und waren der Meinung, dass Luisa da wirklich eine tolle Idee gehabt hatte. Sie bedauerten regelrecht, dass sie den Vorfall nicht selbst beobachtet hatten. Luisa hätte wirklich vorher mal was sagen können. Das würden sie ihr auf jeden Fall unter vier Augen klar machen, falls es ein nächstes Mal geben sollte. Es war ja durchaus abzusehen, dass sich der Streit zwischen Jens und Luisa nicht so einfach begraben lassen würde. Da würde es bestimmt noch die eine oder andere interessante Auseinandersetzung geben. Die Lehrerin fragte noch die umstehenden anderen Schüler, von denen aber keiner mit Sicherheit sagen konnte, ob Luisa die ganze Zeit schon dort war. Eine kleine Fünferin meinte sich zu erinnern, Luisa am Anfang der Pause am Kiosk getroffen zu haben. Spätestens nach dieser Aussage ließ sich da gar nichts machen. Die Lehrerin schickte Jens nach Hause, um sich trockene Sachen anzuziehen, damit er sich nicht erkältet. Gedankenverloren trottete Jens davon. Er war sich so sicher gewesen, dass Luisa das gewesen war. Sie hatte so giftig geguckt heute Morgen, als sie der Länge nach durch den Flur geflogen war. Immerhin hatte er sie mit der Backpfeife so ordentlich erwischt, dass sich seine Finger bis gerade eben auf ihrer Wange abgezeichnet hatten. Das hatte die Lehrerin natürlich auch gesehen. Hoffentlich würde das keinen Ärger geben. Als er frisch umgezogen und zu spät im Matheunterricht auftauchte, rümpfte Frau Sommer die Nase. „Jens, wo kommst du denn jetzt erst her?“ „Ich musste nach Hause gehen und mich umziehen.“ „Nach Hause gehen, während der Schulzeit? Du weißt doch wohl, dass das aus Versicherungsgründen strengstens verboten ist?“ „Die Pausenaufsicht hat mich nach Hause geschickt, weil ich triefend nass war. Jemand hatte mir eine Ladung Wasser über den Kopf gekippt.“ Jetzt wusste auch der letzte in der Klasse von Jens Missgeschick. Jens schaute in viele grinsende Gesichter. Nur seine Kumpels bemühten sich um eine ernster Miene. „Ich werde das überprüfen, Jens. Ich hoffe nicht, dass du mir gerade eine Lügengeschichte aufgetischt hast.“ Nach diesem Zwischenfall fuhr Frau Sommer, als wäre nichts gewesen, mit ihrem Unterricht fort. Erstaunlicherweise stellte sie in der darauf folgenden Pause fest, dass Jens nicht gelogen hatte, was sie nicht wirklich erwartet hatte. Die Pausenaufsicht Herr Schulz holte Jens in der nächsten Pause zu sich, weil er Luisa so heftig geschlagen hatte. Er machte Jens unmissverständlich klar, dass er sich einen solchen Fauxpas in nächster Zeit besser nicht leisten sollte. Für heute würde er keinen Tadel aussprechen, weil er verstehen würde, dass Jens nach dem Vorfall mit dem Wasser bestimmt sehr wütend war, was aber sein Verhalten in keiner Weise rechtfertigen würde. Jens war froh, dass er so davon gekommen war und ärgerte sich maßlos, dass er nicht schneller reagiert und nach oben gesehen hatte, wer ihn da begossen hatte. Er war so perplex gewesen, dass er zu langsam reagiert hatte. Er hätte auch seine Kumpels schneller nach oben schicken müssen. Dann wüsste er jetzt wenigstens, wer ihm das angetan hatte. Nach so vielen Zeugenaussagen war er doch ins Grübeln gekommen. Vielleicht war es gar nicht Luisa? Aber mit niemanden sonst hatte er so viel Ärger wie mit ihr. Außerdem passte das ins Bild. Er hatte ihr heute Morgen ein Bein gestellt und sie hatte sich gerächt. Es konnte eigentlich niemand anderes gewesen sein. In der nächsten großen Pause standen die Mädchen dicht zusammen. Die ganze Clique war begeistert von Luisas Tat. Pia und Angelika hatten den Vorfall beobachtet und beschrieben ihn in so schillernden Details, dass Kirsten und Heike schon fast versöhnt waren, weil sie selbst es nicht gesehen hatten. „Du hättest uns wirklich vorher bescheid sagen sollen“, meinte Kirsten. „Ich hätte das sooo gerne gesehen“, meinte auch Heike. Luisa zuckte nur mit den Schultern. „Ich war das doch gar nicht. Ihr habt doch gehört, dass ich am Kiosk gewesen bin.“ Sie grinste verschmitzt und zwinkerte den Anderen zu, als sie das sagte. „Uns machst du nichts vor.“ „Auf jeden Fall danke ich euch, dass ihr mir den Rücken gedeckt habt.“ „Das ist doch selbstverständlich. Aber wir wollen beim nächsten Mal auch am Spaß teilhaben.“ „Das war einfach so ein spontaner Gedanke. Aber wenn ich je wieder so etwas tun sollte, und das nicht einfach spontan passiert, werde ich euch einweihen. Ihr dürft euch dann aber nichts anmerken lassen.“ „Wofür hältst du uns? Wir sind doch keine Trottel.“ „Schon klar. Ich werde euch beim nächsten Mal informieren. Wir könnten natürlich auch mal zusammen etwas überlegen. Ihr mögt Jens doch alle nicht.“ „Das stimmt schon, aber ich für meinen Teil habe mit ihm so eine Art Waffenstillstand. Dabei will ich es auch belassen“, meinte Kirsten. Pia zuckte auch eher zurück bei dem Gedanken zurückzuschlagen. Heike und Angelika sagten nichts dazu. „Ich sehe schon: Das ganze liegt wohl auch weiterhin in meinen Händen. So lange ihr mir den Rücken deckt, ist das ja auch schon eine Menge wert.“ „Das tun wir auf jeden Fall. Schließlich sind wir Freunde“ , sagte Kirsten. „Genau“, bestätigte Pia sofort aus tiefster Seele. Sie hatte das regelrecht genossen. Endlich gab es mal jemand, der sich nicht von Jens schikanieren ließ und ihm richtig ernsthaft Paroli bot. Und dieser Jemand war dann auch noch ein Mädchen und Pias Freundin. Das machte sie richtig froh. „Wollen wir diese gelungene Aktion nicht heute Nachmittag bei einem Eis feiern?“ schlug Pia vor. Angelika und Heike hatten Zeit. Kirsten hatte schon andere Pläne. Luisa tat es leid, Pia etwas abschlagen zu müssen, da sie sich selten mit einem Vorschlag vorwagte. Sie musste in den Wald heute Nachmittag. Das wollte sie nicht verschieben, also sagte auch Luisa ab.
Endlich war Schulschluss und Luisa machte sich mit den anderen Mädchen auf den Nachhauseweg. Es wurde viel erzählt, dann trennten sich ihre Wege. Luisa machte sich schnell ihr Mittagessen warm. Sie hatte wirklich großen Hunger, nachdem sie in der Pause keine Zeit für ihr Pausenbrot gehabt hatte. Man musste eben Prioritäten setzen im Leben. Das sagte Moni immer und wahrscheinlich hatte sie damit auch recht. Nach den Hausaufgaben machte sie sich dann auf den Weg in den Wald. Heute war besseres Wetter und alles sah gleich viel freundlicher und einladender aus als am Freitag, dachte sie, als sie die Brücke überquerte. Wieder lenkte sie ihre Schritte zum See. Nach den Ereignissen am Freitag hätte sie auch große Lust gehabt, noch einmal heimlich durchs Gebüsch schleichend, die Schule zu suchen, aber das musste wohl auf später vertagt werden. Vielleicht war Sophie heute gesprächiger. Als Luisa den See erreichte, war Sophie schon da. Sie hockte wie ein Häufchen Elend auf dem großen Stein. „Hallo“, grüßte Luisa. Sophie sah auf. Heute standen ihre roten Haare noch wilder in alle Richtungen als sonst. Man sah ihr deutlich an, dass es ihr nicht gut ging. „Ich dachte schon, du kommst heute nicht.“ „Warum? Es ist gerade kurz vor drei und wir hatten uns für drei Uhr verabredet.“ „Heute geht einfach alles schief.“ „Das glaube ich nicht. Immerhin haben wir uns doch nun schon getroffen.“ „Das stimmt. Das ist ein Anfang.“ Luisa setzte sich neben sie und strich ihr tröstend über den Arm. Sie sagte erst mal nichts. Es machte den Eindruck, dass Sophie einfach nur froh war, nicht mehr allein zu sein. Nach einer Weile fing Sophie an zu erzählen. „Du glaubst gar nicht, was heute alles passiert ist! Wir haben meditiert und ich bin tatsächlich eingeschlafen. Mein Lehrer hat geschimpft und alle anderen haben gelacht. Ich habe leise vor mich hin geschnarcht. Ich bin schließlich schon in meinem zweiten Jahr hier, da hätte mir das nicht mehr passieren dürfen. Es war so entsetzlich peinlich. Alle haben ganz komisch geguckt. Sie haben geguckt, als wenn ich gar nicht hierher gehören würde. Vielleicht haben sie recht. Meine Hausarbeit über einen Zeitabschnitt aus der Frühgeschichte unseres Volkes habe ich auch verrissen. Ich habe mir so viel Mühe gegeben. Ich habe so viel recherchiert und mir so viel Arbeit gemacht. Am Ende war es eben nicht das, was unser Lehrer lesen wollte. Ich habe versagt auf der ganzen Linie. Dabei war ich so stolz, hier zu sein. Ich denke, ich bekomme das alles überhaupt nicht auf die Reihe. Wie soll ich zurück gehen heute Abend, nachdem ich mich heute so blamiert habe. Das weiß inzwischen bestimmt die ganze Schule. Peinlicher kann es kaum sein. Schlechte Noten haben alle mal. Das kann passieren, aber beim Meditieren einschlafen, ist schon ein ziemlicher Supergau. Stell dir das vor, bei euch schläft jemand laut schnarchend in der Meditationsstunde ein! Was würdet ihr euch da über denjenigen lustig machen.“ Erwartungsvoll sah sie Luisa an. Luisa wusste nicht, was sie sagen sollte. Eigentlich wusste sie nicht wirklich, was Meditation überhaupt ist. Sie hatte das Wort schon mal gehört, aber mehr auch nicht. „Also bei uns wäre das mal ganz witzig, wenn jemand im Unterricht schnarchend einschläft. Wir hätten unseren Spaß damit und am nächsten Tag wäre alles vergessen.“ „Wirklich?“ „Ja, ich denke schon. Spätestens am zweiten Tag. Irgendwann wird es langweilig, sich über das gleiche Ereignis lustig zu machen. Deine Mitschüler werden das bald vergessen haben.“ „Die haben mich heute alle so komisch angeschaut. Ich glaube, dass die mich weiterhin komisch anschauen werden. Wahrscheinlich denken sie, was ich denke. Nämlich, dass ich für diese renommierte Schule absolut ungeeignet bin. Du musst wissen, die Eichenschule hat wirklich einen guten Ruf wie keine andere. Dort gehen nur begabte Schüler nach einer Aufnahmeprüfung hin. Die Lehrer werden sich überlegen, dass sie einen Fehler gemacht haben, als sie mich aufnahmen und mich herauswerfen. Dann nimmt mich nur noch die Birkenschule und die ist wirklich lausig. Mit einem Schulabschluss von der Birkenschule kann ich gleich einpacken. Da habe ich überhaupt keine Zukunft. Da werde ich nie Aufträge bekommen, oder eine Ausbildung machen können. Mein ganzes Leben ist ruiniert.“ Mit dieser Aussage brach sie in Tränen aus. Luisa saß etwas hilflos daneben. Was sollte man einem Wesen sagen, das in einer anderen Welt lebte, von der Luisa wirklich gar keine Ahnung hatte. Vielleicht hatte sie Recht und alles war wirklich so dramatisch, wie sie es dargestellt hatte. Vielleicht berieten die Lehrer jetzt in diesem Moment über Sophies Verbleiben auf der Schule. Aber das konnte doch eigentlich nicht sein. Wegen einer schlechten Hausaufgabe und einem dicken Ausrutscher flog man nirgendwo raus. Das konnte nicht so sein. Luisa legte ihren Arm um Sophie, die sich daraufhin in Luisas Arme schmiegte und erst mal hemmungslos weiter weinte. Luisa strich ihr beruhigend übers Haar. Nach einer ganzen Weile hatte sie sich beruhigt. „Ich glaube kaum, dass man wegen einer schlechten Hausarbeit und einem Fehler direkt herausgeworfen wird. So schnell fliegt man nirgendwo heraus. Ich war schon auf vielen Schulen, weil meine Mutter wegen ihrem Job so oft umziehen musste, aber noch nirgendwo wurde so mir nichts dir nichts jemand herausgeworfen. Da muss wirklich schon mehr passieren. Wir sind Schüler. Wären wir perfekt, wären wir keine Schüler mehr. Wenn du alles schon könntest, wärst du wohl kaum hier. Und wer was lernen will, macht auch Fehler. Das gehört dazu.“ „Meinst du?“ schniefte Sophie. „Ja, da bin ich mir ziemlich sicher, dass sie dich nicht einfach vor die Tür setzen. Wie du mir gerade erzählt hast, musstest du eine Aufnahmeprüfung machen. Wenn du die geschafft hast, bist du auch geeignet. So einfach ist das. Du hast doch bestimmt auch Fächer, in denen du richtig gut bist?“ „Ja, schon.“ „Na, siehst du. Jeder hat eben andere Fähigkeiten. Wenn du nicht gut meditieren kannst, dann gibt es bestimmt andere Dinge, die dir gut liegen.“ So langsam hellte sich Sophies Miene wieder auf. Luisas Worte leuchteten ihr ein. Meditieren in der Schule fand Luisa doch etwas komisch. Aber hier bei den Wesen schien alles ein wenig anders zu sein. Dieser Eindruck bestätigte sich sofort, als Sophie aufzuzählen begann, in welchen Fächern sie gute Leistungen gebracht hatte. „Du hast Recht. Ich bin sonst gut in Geschichte, auch wenn ich diese eine Arbeit versägt habe. Außerdem mache ich gerne Ethik und bin gut in Weltreligionen und viele Yogaübungen kann ich besser als viele andere in meiner Klasse. Da bin ich wohl nur in Meditation eine echte Graupe.“ „Es sieht so aus.“ Sophie entspannte sich wieder. Die beiden beobachteten die Wasservögel und machten es sich gemütlich. Beide hingen ihren Gedanken nach. Sophie ließ sich Luisas Worte noch einmal durch den Kopf gehen und Luisa dachte über das nach, was sie da gerade erfahren hatte. Wenn das, was Sophie gerade aufgezählt hatte, die Schulfächer waren, war das aber eine komische Schule. Ob die hier wohl auch Mathe und Erdkunde und so was lernten? Mit ihrem Unterricht hatte das auf jeden Fall nicht viel zu tun. Unterricht in Meditation und über Ethik und Geschichte. Das hörte sich alles reichlich abgehoben an. Eichenschule. Wo die denn wohl war? Luisa hätte so gerne das Gebäude mal gesehen. „Ach, du je“, sagte Sophie plötzlich. Ich muss zurück in die Schule. Ich muss meine Aufgaben noch erledigen. Ich werde das bis zum Essen kaum schaffen. Es tut mir leid. Ich hatte das völlig vergessen. Als es mir eben so schlecht ging, war mir das alles völlig egal. Ich dachte, ich werde sowieso rausgeworfen. Welchen Sinn hat dann alles noch? Aber du hast ja recht. Ich werde nicht rausgeworfen, aber dann werde ich morgen meine Hausaufgaben brauchen.“ „Das wird wohl so sein.“ „Ich muss gehen. Ich danke dir. Du hast mir wirklich sehr geholfen. Ich war so am Boden zerstört. Ich glaube, du bist ein toller Mensch. Ich kenne zwar keine anderen Menschen, aber ich glaube, du bist wirklich etwas besonderes.“ Luisa wusste nicht, was sie sagen sollte. „Können wir uns wieder treffen? Ich hoffe, ich bin dann nicht in einem so desolatem Zustand.“ „Gerne. Wann hast du denn Zeit?“ „Ich kann erst wieder nächste Woche Montag. Ich habe echt viel zu tun im Moment.“ „Kein Problem. Montag ist super. Wieder um drei Uhr?“ „Ja. Bis dann und vielen Dank.“ „Kein Problem. Bis Montag!“ „Tschüss.“ „Tschüss.“ Sophie verschwand auf dem Weg, auf dem Luisa gekommen war. Sie musste dort bis zur Kreuzung gehen und dann abbiegen. Luisa wäre ihr gerne gefolgt, aber sie wollte nicht die neue zarte Freundschaft riskieren. Wenn Sophie sie entdecken würde, würde sie Luisa bestimmt wieder als Sicherheitsrisiko einstufen. Durch die Freundschaft mit Sophie würde sie wahrscheinlich noch mehr erfahren. Es war also besser, sich in Geduld zu üben und einfach unabhängig von den Treffen mit Sophie den Wald heimlich besser zu erforschen. Je mehr Sophie erzählte und je mehr sie von dieser anderen Welt gesehen hatte, um so faszinierter war sie. Den Rest des Nachmittags verbrachte sie entspannt am See und genoss die Ruhe und Entspannung, die dieser Ort ausstrahlte. Sie kehrte erst kurz bevor ihre Mutter nach Hause kam, auch nach Hause zurück. So musste sie keine komischen Fragen beantworten, wo sie denn so lange gewesen sei. Das war auf jeden Fall besser so.