Читать книгу Der Schmuggelhund - Carmen Sternetseder-Ghazzali - Страница 5
Zehenjagd
ОглавлениеDer Vater war zu Hause geblieben. Er mochte Hunde nicht sonderlich und hatte es für einen Scherz gehalten, als sie sagten, heute würden sie den Welpen holen. Als sie Stunden später nach Hause kamen, glaubte er es noch immer nicht. Das Fellknäuel, das Ilias stolz ins Wohnzimmer trug, hielt er zunächst für ein Stofftier. Und als das Fellknäuel seinen Kopf hob, die Ohren spitzte und sich neugierig im Wohnzimmer umschaute, redete er sich ein, dass er schon einmal ähnliche batteriebetriebene Stofftiere gesehen habe, die sich exakt so bewegten. „Was hat der Quatsch gekostet?“, fragte er deshalb mit der Lässigkeit eines Familienvaters, der alles im Griff zu haben glaubte.
„350 Euro“, antwortete die Mutter.
„So. Und wie lange hält die Batterie, bis das Ding im Eck landet?“
„Zwölf Jahre“, antwortete die Mutter und verschwand in der Küche.
In dem Moment machte der kleine Hund „Wuff!“. Er zappelte und versuchte, von Ilias Arm zu springen.
Da wusste der Vater, was er natürlich schon längst gewusst hatte, aber nicht wahrhaben wollte. Nämlich, dass der Hund echt war. Eine Art Schockstarre überkam ihn.
Ilias hielt den Hund fest im Arm.
Der Vater sah, wie die Kulleraugen des kleinen Hundes abenteuerlustig im Wohnzimmer umstreifte. Alles guckte sich der Welpe an: Die Bücher in den Regalen. Die wuchtigen Kerzenständer auf dem weißen Klavier. Das Klavier selber. Rotbarts Sofa. Die bunte Decke darauf. Die Stoffmaus, die seitlich herunterhing. Zuletzt den Vater, der auf der Couch lag und sich langsam die Decke über die Ohren zog.
Der kleine Hund wedelte mit dem Schwanz.
Lilie wunderte sich. Die ganze Zeit über hatte er nicht mit dem Schwanz gewedelt. Erst als er den Vater ansah. Er unterschied also bereits mit acht Wochen zwischen Menschen und Dingen, zwischen Lebendigem und Leblosem. Das war doch einmalig. So etwas war in keinem Schulbuch zu lesen. Eine Pflanze, eine Ameise und ein Käfer waren dazu nicht fähig. Ameisen und Käfer krabbelten einem einfach über die Finger und hatten keine Ahnung, dass der Finger zu einem Wesen gehörte, das sie zerquetschen konnte. Selbst Menschen täuschten sich manchmal. Lilie hatte schon von Schiffbrüchigen gelesen, die den Rücken eines Buckelwals mit einer Insel verwechselt hatten.
Ob dem Vater das auch aufgefallen war? Der sah den Welpen mit finsterem Blick an.
„Was ist das für eine Rasse? Wie groß wird der?“, fragte er.
„Ein Labrador-Boxer“, sagte Ilias und grinste breit, denn er wusste ganz genau, dass sein Vater keine Ahnung von Hunderassen hatte. In dem Land, in dem der Vater aufgewachsen war, gab es in den Bergen Windhunde. Die hießen Sloughi. Dürre Gesellen, die wie Stürme durch die Täler fegten. Und in den Städten gab es massenhaft Straßenhunde. Bei denen fragte keiner nach der Rasse. Wurden sie lästig, bewarf man sie mit Steinen. Auch der Vater hatte sich jetzt bewaffnet. Mit einem Teelöffel, der auf dem Wohnzimmertisch gelegen hatte.
Der Welpe purzelte von Ilias Arm. Kaum berührten seine Pfotenballen den Boden, ging er ab wie ein Tornado. Zuerst fegte er zu Rotbarts Sofa. Er beschnupperte es geräuschvoll. Es klang wie ein Igel. Dann schnappte er nach der Maus, riss sie ab, kaute auf ihr und verschluckte sie. Weiter ging es schnurstracks – hopp! – auf die Couch.
„Hey!“, rief der Vater erschrocken und zog sich die Decke ganz über den Kopf. Der kleine Hund trappelte beherzt auf der Brust des Vaters herum, bis dieser wütend die Decke von sich schleuderte. Beinahe wäre der kleine Hund zusammen mit der Decke auf den Boden geflogen. Aber ein kühner Sprung auf die innere Couchseite rettete ihn. Jetzt, ohne Decke, lag das Gesicht des Vaters blank.
Und der Welpe tat, was Welpen so tun, wenn sie auf höherrangige Hunde treffen. Er sprang über das Gesicht des Vaters und begrüßte ihn, indem er mit seiner Zunge über dessen Mundwinkel wischte.
„Pfui!“, rief der Vater und rammte dem kleinen Hund die Löffelspitze in die Seite. Der Welpe quiekte schrill und sprang von der Couch.
Auch der Vater sprang auf.
„Wuff!“, meldete sich der Welpe und zwickte den Vater mit seinen spitzen Zähnen kräftig in die Zehen.
„Aua!“, rief der Vater und hüpfte kreuz und quer durch die Wohnung.
Der Welpe, der offenbar eine Vorliebe für haarige Männerzehen hatte, lief hinterher und kläffte vor Freude. Das war ein Spiel ganz nach seinem Geschmack!
Lilie und Ilias bogen sich vor Lachen.
„Ich weiß jetzt, wie der Welpe heißt“, rief Ilias vergnügt. „Killa! Killa mit a hinten dran!“
Lilie fand den Namen prima. Nur der Vater brüllte wie ein Ochs am Spieß.
„Nimm den Köter weg!“, schrie er.
„Köter? Das ist kein Köter“, sagte Lilie böse.
Ilias schnappte sich Killa und ging mit ihr in sein Kinderzimmer.
Der Vater rang nach Luft.
„Wie kannst du nur einen Hund anschleppen?“, fragte er nach einer Weile die Mutter, als die zurück ins Wohnzimmer kam.
„Das fragst ausgerechnet du?“, erwiderte sie streng. „Du hast vor zwei Jahren einfach eine Katze nach Hause gebracht. Jetzt sind wir quitt!“
„Wie bitte? Willst du damit sagen, eine Katze ist wie ein Hund?“
„Klar. Beide brauchen ihr Fressen und man muss mit ihnen zum Tierarzt, wenn was ist.“
„Aber hör mal, eine Katze ist selbstständig. Die geht von alleine raus, wenn sie muss.“
„Aha, und zum Tierarzt geht sie auch alleine? Und erinnerst du dich an das widerliche Katzenklo? Und wie lange es gedauert hat, bis der Kater gelernt hat, draußen sein Geschäft zu verrichten? Bis dahin habe ich meistens das Katzenklo gesäubert“, sagte die Mutter. Aus Spaß meinte sie dann: „Das können wir dem Hund ja auch beibringen, dass er alleine rausgeht, wenn er muss.“
„Wie bitte? Willst du den Hund etwa wie eine Katze halten? Mit einem Hund muss man Gassi gehen“, sagte der Vater.
„Was du nicht sagst! Du hast ja doch Ahnung von Hunden“, sagte die Mutter. „Ach, da fällt mir ein: Du wolltest doch schon seit Jahren anfangen, zu joggen, oder?“
Der Vater murmelte etwas Unverständliches.
„Der Hund ist deine Chance“, sagte die Mutter schmunzelnd.
„Nein, der Hund muss wieder weg.“
„Warum muss der Hund wieder weg?“, meldete sich jetzt Lilie zu Wort und machte ihr Schlafpuppengesicht.
„Hunde vertreiben die Engel. Deshalb muss der Hund wieder weg. Und zwar so schnell wie möglich. Morgen kümmere ich mich darum. Ich bringe ihn ins Tierheim.“
„Hunde vertreiben die Engel? Wo hast du so einen Quatsch her?“, fragte die Mutter.
„Quatsch? Das haben die Alten bei uns immer gesagt.“
„Das ist Aberglaube. Das ist so wie mit den schwarzen Katzen, die Pech bringen sollen“, sagte die Mutter energisch.
„Deswegen haben wir ja auch eine rote Katze“, erwiderte der Vater und grinste ein bisschen.
Die Mutter sah das Grinsen nicht. Sie war jetzt richtig in Fahrt.
„Außerdem gehört der Hund nicht dir“, sagte sie streng. „Er gehört Ilias. Er ist sein Geburtstagsgeschenk. Seit seinem sechsten Lebensjahr wünscht er sich einen Hund. Jetzt hat er ihn zum sechzehnten Geburtstag bekommen.“
„Aha! Aha! Aha! Und wer zahlt das Futter? Die Tierarztkosten? Die Steuern? Wer zahlt mit seiner Zeit und geht täglich mit dem Hund raus?“
„Wir!“, erwiderte die Mutter.
„Wir? Du meinst du und ich? Aber weshalb sollte ich für einen Hund zahlen, den ich nicht will?“
Lilie sah, dass das Gesicht des Vaters jetzt zornesrot war.
Dagegen gab es nur ein Mittel. Sie stellte sich den armen Welpen vor, wie er ganz einsam im Tierheim vor seinem Napf saß und nach seiner Mutter Babe winselte. Schon füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie blinzelte, damit sie gut die Wangen hinunterflossen.
Der Vater sah das und schluckte.
Kurz herrschte Schweigen. Dann fragte die Mutter: „Lilie, hast du eigentlich schon deine Hausaufgaben gemacht?“
Lilie stammelte etwas von „Welpen geholt“ und packte dann schleunigst ihre Hefte, Bücher und ihr Federmäppchen aus. Sie musste dem Vater, der sich gerade grimmig blickend mit seinem Handy auf die Couch setzte, zeigen, dass der kleine Hund sie nicht von der Schule ablenkte.