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Nur Blödsinn im Kopf

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„O wie süß! O wie süß! Ein Welpe! Ihr habt einen Welpen!“, riefen Lilies Freundinnen entzückt. „Darf ich ihn streicheln?“, fragten andere Kinder auf der Straße freudig, die keinen Hund zu Hause hatten. Die also keine Ahnung hatten. Für sie war ein Welpe das knuddeligste Kuschelwesen der Welt. Das war er auch, wenn er schlief. War er wach, stellte er die Welt seiner Besitzer auf den Kopf.

Natürlich hatten Lilie und ihre Familie den kleinen Hund auch lieb. Sie liebten ihn sogar. Doch sie merkten auch, dass kleine Hunde sehr viel Arbeit machen. Und hin und wieder fiel das Wort „Tierheim“. Wenn der Vater es sagte, dann klang es düster und bedrohlich. Wenn die Mutter es sagte, dann meinte sie damit: „Lilie, entweder du gehst jetzt mit Killa raus, oder ich bringe sie ins Tierheim!“ Wenn Lilie es sagte, dann klang es weinerlich, dann bat sie darum, dieses Wort nie wieder hören zu müssen. Wenn Ilias es sagte, dann klang es freudig, so wie: „Klar, wir fahren ins Tierheim und holen noch einen Spielgefährten für Killa.“ Aber das war Spaß. Auch er fand Killa viel zu anstrengend.

Das erste Problem war Killas winzige Blase. Die hatte verheerende Folgen. Man musste mit Killa alle vier Stunden raus. Auch nachts. Im Morgengrauen. Im Schneegestöber. In Eiseskälte. Bei Wüstentemperaturen. Sogar wenn Orkanböen Bäume entwurzelten, Killa musste raus. Alle vier Stunden. Tagein, tagaus. Sie wechselten sich damit ab, aber bald schieden Lilie und Ilias nachts aus. Wegen der Schule und der Noten, die bei beiden ein bisschen schlechter geworden waren, seit sie den kleinen Hund hatten. Bald schied die Mutter nachts ebenfalls aus. Schließlich übernahm sie ja schon die große Gassirunde in der Früh, während sich die Kinder für die Schule fertigmachten, und jeden Abend. So wurde der Vater zum Nachtwächter, da konnte er noch so viel protestieren. Killa konnte verdammt laut jaulen und an der Haustür kratzen, wenn sie nachts musste.

Das zweite Problem war Killas Lebenskraft. Man konnte gar nicht so viel mit ihr Gassi gehen, dass sie müde wurde. Aber man musste sie müde kriegen. Sonst hatte sie nur Blödsinn im Kopf.

Und das war das dritte Übel: Der Blödsinn in ihrem Kopf. Sie durchbiss Kabel und Stifte, fraß Radiergummis, kaute auf Wollknäueln herum, zersäbelte Tisch- und Stuhlbeine und zerfetzte Schuhe. Ja, wenn man nicht genug mit ihr Gassi ging, verwandelte sie sich in ein grässliches Biest, was Schuhe betraf. Einmal den Schuh achtlos im Flur abgestreift, schon war er verloren. Mit der Gier eines Raubtieres grub sie ihre spitzen Zähne in den Schuh. Dann kaute und riss sie daran. Wie Wölfe an einem Stück Beutefleisch. Genauso riss Killa an Schuhen, bis sie ein großes Stück abgetrennt hatte. Entweder schluckte sie es dann herunter oder spuckte es aus, um das nächste Stück aus dem Schuh zu reißen.

Sie zerfetzte auch Kleidungsstücke, Decken, ja, sogar ihr wattiertes Hundebett lag eines Tages vollständig zerlegt im Flur.

Andere freuten sich darüber. In der Hundeabteilung der Zoohandlung waren sie längst Stammkunde. Leckerbissen für Leckerbissen erbeuteten sie dort. Exotische Dinge, von deren Existenz sie früher keine Ahnung gehabt hatten. Getrocknete Rinderhaut, Pansen, Truthahngurgeln, Straußenschlünde, Kamelhintern. Die absurdesten Leckereien.

Aber Killas Vorliebe blieben Schuhe. Die einfachste Leckerei der Welt. Schuhe waren immer vorrätig.

Eines Tages kam Tobias, Ilias' Klassenkamerad, zu Besuch. Tobias hatte sonnengelbe Haare und flog zum Shoppen nach London. Er wohnte im größten Haus des Viertels, in dem er immer sturmfreie Bude hatte, weil seine Eltern irgendwo in der Weltgeschichte beschäftigt waren. Klar, er war der Kerl, den sich jeder zum besten Freund wünschte. Ilias hatte das Rennen gewonnen. Meistens war er bei Tobias, wo sie am Gartenpool saßen, Kokosnüsse köpften oder Steaks grillten.

„Warum habt ihr eigentlich kein eigenes Haustier?“, wollte Lilie von Tobias wissen, nachdem sie ihn hereingelassen hatte.

„Meine Eltern sind viel unterwegs und mögen keine Tiere“, sagte er. „Meine Schwester hatte aber trotzdem mal ein Kaninchen.“

„Hatte? Was ist denn mit dem Kaninchen passiert?“, fragte Lilie.

„Nun ja“, fing Tobias an, „eines Tages hatte es einen verklebten Po. Was Braunes, Stinkendes hing da.“

„Kacke?“, fragte Lilie und dachte still bei sich, wenn der wüsste, was Killa so alles anstellt mit ihrem Po.

„Ja, genau. Ein richtiger Klumpen. Den wollte keiner abzupfen. Wir hofften, der würde von selber wieder abfallen“, erzählte Tobias weiter, während er seine tomatenroten Turnschuhe auszog, brav nebeneinander abstellte und Killas Kopf kraulte.

„Ja, und dann? Ist er abgefallen?“, fragte Lilie.

„Nein. Aus dem Klumpen wurde eine Kugel, so groß wie ein Tischtennisball“, sagte Tobias und seufzte.

„Aha. Und dann habt ihr euch vor dem Kaninchen geekelt, oder?“

„Das Kaninchen lief mit Kacke am Po rum, das war nicht schön“, stotterte Tobias.

„Habt ihr es dann ins Tierheim gebracht?“

Tobias schluckte. Dann nickte er und hob entschuldigend die Augenbrauen.

„Kann ich gut verstehen“, sagte Lilie. „Wer will schon ein Kaninchen mit Kacke am Po?“ In Wahrheit fand sie es schrecklich. Deshalb warnte sie ihn auch nicht wegen Killas Heißhunger auf neue Schuhe.

Zufrieden sah sie, wie Tobias in Ilias' Zimmer verschwand. Und sie sah auch noch, wie sich Killa seufzend auf dem Teppich niederließ, den fiebrigen Blick auf seine Schuhe geheftet.

Sie zuckte mit den Achseln und zog sich in ihr Zimmer zurück. Jetzt galt es, der Natur ihren Lauf zu lassen.

Nach einiger Zeit hörte sie die Kinderzimmertür aufgehen und Tobias im Flur sagen: „Okay, ich gehe ein bisschen mit Killa raus und du machst solange meinen Lateintext. Echt, Mann, ich verstehe in Latein überhaupt nichts mehr.“

„Ich auch nicht“, hörte Lilie Ilias sagen.

„Aber bei dir stimmen die Übersetzungen immer. Außerdem stehst du in Latein auf einer glatten Eins. Wie schaffst du das?“

„Es fliegt mir zu. Es ist Zauberei“, sagte Ilias und lachte.

Lilie trat grinsend aus ihrem Zimmer.

Sie sah, wie Ilias Tobias die Leine, die Tasche mit Leckerlis und eine rote Tüte in die Hand drückte.

„Wenn Killa draußen kackt, musst du ihre Kacke in so eine rote Tüte machen“, erklärte Ilias ihm.

Tobias verzog das Gesicht.

„Auch, wenn keiner hinsieht?“, fragte er.

„Dann kommt es darauf an, wo sie gekackt hat. Wenn sie ins Gebüsch gemacht hat, lass es liegen. Ach ja, und noch etwas. Du darfst sie auf der Heide hinter dem Haus von der Leine lassen. Sie folgt eigentlich ganz brav.“

Tobias schien jetzt richtig aufgeregt zu sein. Deshalb schlüpfte er in seine Schuhe, ohne richtig hinzugucken. Er war zu sehr mit Killa beschäftigt. Sonst hätte er das Loch gesehen. Sonst hätte er gesehen, dass sein großer Zeh vorne links herausguckte. Lilie unterdrückte ein Kichern, als er nach draußen ging. Dann lief sie in ihr Zimmer, guckte aus dem Fenster und sah, wie Tobias stolz mit Killa an der Leine die Wiese hinter dem Haus überquerte und hinter dem Hügel in Richtung Heide verschwand. Sie hieß „Fröttmaninger Heide“ und sollte eines Tages ein richtiges Naturschutzgebiet werden. Sie war ein Traum für Hunde, aber ein Albtraum für die Besitzer. Auf der Heide gab es jede Menge Mäuse und Kaninchen und ein Schäfer ließ gerade seine Schafe dort weiden. Das waren drei feine, tierische Leckerbissen inmitten einer hohen Graslandschaft.

Kaum war Tobias weg, setzte sich Ilias an den Küchentisch und zauberte. Sein Zaubermeister hieß Google und übersetzte alle lateinischen Sätze. Google half auch bei Schulaufgaben. Natürlich sammelten die Lehrer die Handys vor Schulaufgaben ein. Aber man konnte ja schließlich auch ein altes abgeben. Lilie fand das blöd und gemein. Aber das machte die Hälfte der Klasse so. Die andere Hälfte, zu der Tobias gehörte, traute sich nicht.

Nach einer guten Stunde kam Tobias zurück. Er klingelte Sturm. Er war ganz außer Atem. Killa hechelte und sank erschöpft auf dem Teppich im Flur nieder. „Hinter dem Wäldchen waren Schafe und Killa ist mitten in die Schafherde hinein“, erzählte Tobias aufgebracht.

„Ist doch nicht so tragisch“, meinte Ilias. „Dann musst du sie halt zurückrufen. Wozu habe ich dir die Leckerlis gegeben?“

„Was? Habe ich doch! Sie hat nicht mehr gehört. Die Leckerlis waren ihr egal. Erst als der Schäferhund auf sie zuschoss, machte sie kehrt. Ich sage euch, mit der ist nicht zu spaßen. Eure Hündin ist eine Jägerin, die wollte ein Schaf reißen.“

„Die? Ein Schaf reißen? Hey, die ist noch ein Welpe! Die wollte bloß spielen. Die dachte, das wären andere Hunde“, sagte Ilias.

„Nee, so blöd ist die nicht. Das war wie im Film. Euer kleiner Hund hat sich erst seitlich an die Herde herangepirscht und sich das schwächste Tier ausgesucht. Dann ist er wie eine Rakete in die Herde rein und hat sie gesprengt. Killa ist ein Raubtier! Pass auf!“

„Killa hat ein Kaninchenherz und sonst nichts“, sagte Ilias und umarmte die Hündin. Die leckte beherzt seine Wange. Plötzlich fiel sein Blick auf den Boden und er musste schallend lachen.

„Sag mal, Bruder, was ist mit deinen Schuhen passiert?“, fragte er.

Als Tobias sah, dass sein Zeh aus dem linken Schuh guckte, fiel ihm die Kinnlade herunter. Sein Gesicht färbte sich himbeerrot. Oje, gleich wird er schimpfen, dachte Lilie. Mit ihr. Mit Killa. Sie wich vorsichtshalber schon einmal einen Schritt zurück. Sie fühlte sich schuldig. Schließlich hätte sie die Schuhe ja in den Schrank stellen können.

„Scheiß Londoner Qualität!“, sagte er zu ihrer Verblüffung dann wütend. „Ich wollte in den anderen Laden! Aber nein! Mum bestand auf den. Und jetzt? Einmal durchs Gestrüpp und schon sind die Schuhe kaputt. Die wird was zu hören kriegen. Die kann gleich wieder einen Flug nach London buchen.“

Ilias warf Lilie einen vielsagenden Blick zu.

Lilie machte ein betroffenes Gesicht und dachte, herrje, ist der dumm!

„Hau Latein rüber, ich gehe jetzt“, murmelte Tobias dann und lächelte verschmitzt in Lilies Richtung. Sie lächelte zurück, obwohl sie überhaupt nicht wusste, warum Tobias sie so komisch angelächelt hatte.

Während Ilias die Hausaufgabe holte, kraulte Tobias Killas Kopf.

„O ja, du liebst Schafe und … Schuhe! Vor allem so hässliche rote“, sagte er und schmunzelte.

Lilie lief rot an. Deswegen hatte er so gelächelt. Er wusste, dass Killa seine Schuhe ruiniert hatte.

Killa hingegen! Sie guckte Tobias mit ihren Bernsteinaugen treuherzig nach, als er summend durch die Haustür ging.

Der Schmuggelhund

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