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Die Legende von Assan

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Etwa ein Jahr nach ihrer Ankunft fragte sich Laniki immer wieder, wie ihr das bisher Gelernte bei ihrer Aufgabe helfen sollte und worin diese überhaupt bestand. Sie beschloss, Tana danach zu fragen.

„Ich habe erwartet, dass du mich bald darauf ansprechen würdest. Du selbst bestimmst das Tempo deiner Ausbildung. Nun gut. Beschäftigen wir uns mit der Legende von Assan!“

Sie kramte eine Weile in den alten Schriften herum und kam bald mit der gesuchten Rolle zurück.

„Was weißt du darüber?“, fragte Tana, während sie sie öffnete.

Laniki dachte nach und erinnerte sich an die Geschichte, die ihre Mutter ihr einst unter der Auflage erzählt hatte, kein Wort darüber mit Fremden zu wechseln, da das Wissen darum nicht erwünscht war.

„Ich weiß, dass die Menschen von Assan einst glücklich und in Frieden miteinander lebten. Doch eines Tages zogen sie den Zorn der Friedensgöttin Era auf sich und sie wandte sich von ihnen ab. Laut einer Prophezeiung soll ein Kind geboren werden, das die Menschen zu ihr zurückführen soll und ihnen so den Frieden schenkt.“ Fast schüchtern setzte sie hinzu: „Ich!“

Tana lächelte sie zufrieden an. „So weit so gut! Doch du sollst die gesamte Geschichte erfahren. Die Legende besagt, dass Assan ein Ort des Glückes und der Freude war. Die Menschen lebten in Frieden und Eintracht miteinander. Sie huldigten verschiedenen Gottheiten. Eine von ihnen war Era, die Göttin des Friedens. Die Gottheiten fanden Gefallen an Assan und seinen klugen, friedlichen Bewohnern und machten ihnen ein Geschenk. In jedem der Tempel hinterlegten sie, zum Zeichen ihrer Verbundenheit, eine kristallene Amphore mit dem Elixier ihrer Gaben. Eras Gabe zum Beispiel bestand darin, die Gefühle der anderen bewusst wahrnehmen zu können und so sein Gegenüber besser zu verstehen. Menschen mit dieser Gabe waren unter anderem in der Lage Streit zu schlichten und so dem Wohle aller zu dienen. Jedes erstgeborene Kind wurde mit einem dieser Elixiere benetzt und so mit einer besonderen Gabe ausgestattet. Die Entscheidung, welche Gottheit das Neugeborene beschenkte, oblag den Eltern. Solange alles im Einklang stand, fehlte es ihnen an nichts. Doch bald verschob sich das Gleichgewicht. Eras Elixier wurde immer seltener gewählt. Andere Tugenden, wie Kampfesmut und Stärke, schienen den Menschen von größerem Nutzen zu sein.

Der Großteil von ihnen vergaß völlig, was das Wertvollste war, das sie besaßen, nämlich die Liebe und die Verbundenheit zu ihren Mitmenschen. Eines Tages wurde Eras Amphore von einer bösen Macht entwendet und an einen unbekannten Ort gebracht. Doch keiner der Einwohner Assans scherte sich darum. Era war erzürnt. Sie verwüstete den Tempel, der einst zu ihren Ehren errichtet worden war, und sprach einen Fluch über das Land aus. Sie raubte den Bewohnern die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden. Zurück blieb nur die Prophezeiung ihrer Hohepriesterin. Sie erschien am Fuße des zerstörten Tempels und sprach ein letztes Mal zu den Menschen: „Ich sage Euch im Namen meiner Herrin Era Folgendes: Ihr werdet großes Leid erfahren! Ohne Mitgefühl und Nächstenliebe wird kein Leben, so wie ihr es kennt, mehr möglich sein. Der Hass wird euch befallen und entzweien. Erst wenn die Zeit reif ist, wird ein Kind geboren werden, welches unter Eras Schutz steht. Dieses Kind wird die Macht haben, eure Herzen zu heilen und euch zu vereinen. Hass und Liebe, fleischgeworden, werden sich in die Augen sehen und einander erkennen, wie zwei Teile einer Seele. Dies wird euch euren Irrweg vor Augen führen. Und nur wenn ihr euren Frevel erkennt, werdet ihr gerettet werden.“ Dann war sie für alle Zeit verschwunden.

Die eitlen Menschen sahen darin zunächst kein Problem. Sie bemerkten den Verlust kaum. Doch ihre Herzen begannen zu frieren. Freundschaften verkamen zu gefühlsarmen Verbindungen, die ihren Nutzen abzuwägen begannen. Das Böse gewann immer mehr die Oberhand. Viele der einst so edlen und furchtlosen Kämpfer Assans gierten nach Macht. Heiler setzten ihr Wissen zur Umkehr ein und brachten Krankheit über ihre vermeintlichen Gegner. Die Menschen kürten die beiden machtgierigsten Männer unter ihnen zu ihren Anführern - Tosman und Meditee, deren Nachfahren noch heute über das geteilte Land regieren. Bald kam es zu blutigen Fehden unter beiden und damit zum Bruch zwischen dem einst so einigen Volk. Es entstanden getrennte Reiche. Tosman und Mediterra.

Als die Götter sahen, wie unwürdig mit ihren Gaben umgegangen worden war, folgten einige von ihnen Eras Beispiel und wandten sich ab. Sie nahmen ihre Gaben zurück und überließen die Unwürdigen ihrem Schicksal. Die Elixiere verschwanden aus den Tempeln und damit auch die besonderen Fähigkeiten. Nur in wenigen Auserwählten bestanden sie unerkannt fort. In jenen, die den Samen des Guten und der Hoffnung noch in sich trugen. Viele von ihnen, ohne zu ahnen, dass sie auserwählt waren, die Gaben der Götter zu vererben. Verängstigt baten sie Era immer wieder um Beistand und wurden auf eine lange Probe gestellt. Bis zum heutigen Tag warten sie sehnlichst auf das verheißene Kind.“

Tana machte eine Pause und sah Laniki an. „Hast du irgendwelche Fragen?“

„Ja! Welche Götter schlossen sich Era an? Welche Gaben wurden den Menschen entzogen?“

„Nun, da war zum Beispiel Sita, die Göttin der Heilung. Sie nahm ihnen die Fähigkeit, mit ihren bloßen Händen zu heilen. Dann noch Telos, Gott der Seher. Er nahm ihnen die Gabe, Visionen zu empfangen und zu deuten.“ Wieder unterbrach sie ihre Rede und schaute erwartungsvoll auf Laniki. Deren Gedanken begannen zu kreisen.

„Was fällt dir dabei auf?“, fragte Tana schließlich.

„Ich habe zwei dieser Fähigkeiten - glaube ich. Manchmal sind Schmerzen unter meinen Händen verschwunden und ich wusste nicht warum. Und damals, als ich Lukas Mutter in die Augen geschaut habe, überkam mich ihr ganzes Leid! Aber es passierte einfach so. Wenn es eine Gabe wäre, dann könnte ich es doch sicher herbeiführen, wann immer ich will, oder?“

„Richtig! Du hast diese Gaben wirklich und auch noch weitere. Du bist obendrein in der Lage zu Sehen, Visionen zu empfangen und die Gefühle deiner Mitmenschen zu empfinden und zu beeinflussen. Ich werde dir beibringen, damit sicher und rücksichtsvoll umzugehen, denn das solltest du. Wenn du deine Gaben zum eigenen, rein egoistischem Vorteil missbrauchst, ist alles verloren.“

Mit diesen Worten hielt sie inne und blickte Laniki eindringlich an.

„Ich werde es lernen!“, sagte das Mädchen mit fester Stimme.

„Also gut. Wenn die Zeit kommt und du bereit bist, wird dich der Ruf ereilen. Du wirst dich auf den Weg machen müssen, um die verschwundene Amphore mit Eras Tugenden zu suchen.“

„Aber wie soll ich denn ...“

Doch Tana brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Eins nach dem anderen! Jetzt wirst du dich erst einmal auf deine Ausbildung konzentrieren müssen!“

Und das tat Laniki dann auch. In den folgenden Jahren lehrte Tana sie das Meditieren, um ihre eigenen Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Heilkraft erprobte sie an kranken Tieren, die sie auf ihren Streifzügen durch den Wald fanden. Dabei machte sie gute Fortschritte. Immer wieder musste sie versuchen, in Tanas Gedanken und Gefühle einzutauchen und diese zu beeinflussen. Anfangs setzten sie sich Rücken an Rücken auf den Boden und Tana konzentrierte sich auf ein bestimmtes Objekt. Laniki musste dann versuchen, das Bild aus dem Kopf ihrer Lehrerin vor ihrem eigenen inneren Auge zu sehen. Nur sehr langsam erlangte sie Kontrolle über diese Gabe und bekam bald Zweifel, es überhaupt irgendwann richtig zu erlernen. Tana erklärte ihr, wie wichtig es war, dass sie miteinander ohne Worte kommunizieren konnten, da dies später der einzige Weg sein würde, über den sie Kontakt halten könnten. Weil Laniki bei ihrer Aufgabe nicht auf Tanas Rat verzichten wollte, strengte sie sich um so mehr an.

Visionen hatte sie keine, außer diesem immer wiederkehrenden Traum von den beiden kämpfenden Männern und dem zerbrechenden Glas. Auch Tana konnte ihr dazu nichts hilfreiches sagen. „Wenn du es erkennen sollst, wird es dir schon offenbart werden.“

Die Zeit verging und Tana wurde so etwas, wie eine zweite Mutter für das Mädchen. Sie verstanden sich prächtig und immer öfter auch ohne Worte. Im wahrsten Sinne. Irgendwann schafften sie es wirklich, sich mit purer Gedankenkraft zu verständigen. Sie führten ganze Gespräche auf diese Weise. Es war am Anfang sehr anstrengend und erforderte die volle Energie und Konzentration Lanikis, doch es war auch eine gute Übung, um die Sinne des Mädchens zu schärfen. Bald jedoch hatten sie beide viel Spaß an dieser Form des Lernens.

Eines Tages kam Tana mit einem überraschenden Vorschlag. „Wir werden heute zu einer Wanderung aufbrechen und unter Menschen gehen. Nur so können wir prüfen, wie weit du inzwischen gekommen bist.“

Völlig überrascht und sogleich erfreut ob dieser Aussicht, fiel ihr das Mädchen um den Hals. Es war nun schon mehr als fünf Jahre her, dass sie ihre Familie verlassen musste. Seit jenem Tag hatte sie zu niemandem außer Tana Kontakt gehabt. Geduldig ergab sich Laniki in ihr Schicksal und versuchte das Heimweh und die Sehnsucht nach den geliebten Menschen mit sich allein auszumachen. Tana war das natürlich nicht verborgen geblieben, doch sie hatte mit Wohlgefallen beobachtet, wie das Mädchen ihre eigenen Sehnsüchte und Interessen hinter das Wohl aller anderen stellte. Ein Wesenszug, der unabdingbar war für das, was Laniki noch vor sich hatte.

Nach einem etwa zweistündigen Fußmarsch quer durch den Wald, kamen sie auf eine Weide. Unten im Tal lag eine größere Ortschaft. Zielstrebig gingen sie darauf zu und stellten erfreut fest, dass gerade Markttag war. Sie nutzten die Gelegenheit zu ein paar notwendigen Einkäufen und ließen sich mit der Menge treiben. Es gab alles, was das Herz begehrte. Stände mit gebrannten Mandeln, die verführerisch dufteten, bunte Stoffe und Tücher, Schmuck, ein breites Sortiment an verschiedenem Geschirr, Fleisch, Obst, Gemüse. Laniki konnte sich nicht sattsehen. Doch gleichzeitig zogen die Menschen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Laniki konnte all die fremden Gefühle spüren. Es war alles nur undeutlich, brachte sie aber dennoch völlig durcheinander. Bisher war sie immer mit Tana allein gewesen und ständig bemüht, ihre Fähigkeiten diesbezüglich auszubauen. Doch mit dem, was hier auf sie einströmte, war sie vollkommen überfordert. Sie wurde nervös.

Tana, die damit wohl gerechnet hatte, zog Laniki zur Seite.

„Jetzt kommt der andere Teil der Lektion. Du musst lernen dich zu verschließen und deine Gabe nur dann einzusetzen, wenn du es für nötig hältst.“

„Ja, aber wie?“, fragte das Mädchen ratlos.

„Versuch es einfach! Nutze, was du beim Meditieren gelernt hast. Ruhe in dir. Am Anfang wird es dir noch schwerfallen, aber irgendwann übernimmt dein Unterbewusstsein automatisch die Kontrolle und du kannst es leicht steuern.“

Laniki kamen Tanas Worte vor wie blanker Hohn. Doch sie wollte es wenigstens versuchen. Und nach ein paar Stunden hatte sie mäßigen Erfolg. Mit viel Willensstärke schaffte sie es, sich gegen die äußeren Einflüsse abzuschirmen und nur noch ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen.

„Ich glaube, du hast es begriffen“, sagte Tana nur knapp. „Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns langsam wieder auf den Rückweg machen.“

Als sie die Ortschaft schon fast verlassen hatten, kamen sie an einer Menschenansammlung vorbei und wurden Zeuge eines üblen Vorfalls. Ein Mann war gerade damit beschäftigt, auf einen kleinen Jungen einzuschlagen, der ihm angeblich etwas gestohlen hatte. Sofort musste Laniki an Luka denken und vergaß ihren Schutz. Deutlich spürte sie die Angst des Kleinen und auch die Wut des Mannes. Ohne darüber nachzudenken, ging sie dazwischen.

„Laniki!“, hörte sie Tana noch ermahnend rufen, doch es war schon zu spät.

„Warum vergreifst du dich an dem Jungen, du Wüstling!“, schrie sie den Mann an.

„Der kleine Mistkerl hat mich bestohlen!“

Die Umstehenden, die diese grobe Bestrafung offensichtlich für angemessen hielten, pflichteten ihm verständnisvoll bei. „Er hat ihm einen seiner Äpfel entwendet! Wo kommen wir da hin, wenn man das einfach so duldet?“, polterte eine pausbäckige Frau.

Laniki blickte auf den Jungen herab. Er sah sie aus ängstlich geweiteten Augen an und versuchte erfolglos, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien.

„Ich hatte solchen Hunger! Meine Eltern sind tot und ich habe schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen“, winselte er zaghaft.

„Der lügt doch!“, kam es aus mehreren Mündern gleichzeitig.

Laniki nahm den Jungen am Arm und konnte durch diese Berührung sein Wesen erkennen. Er sprach die Wahrheit.

Wütend sah sie nun in die Menge. „Nein, das glaube ich nicht!“, sagte sie.

„Mir doch egal, was ein dahergelaufenes Frauenzimmer denkt!“, schrie der Bestohlene. „Der Kerl kassiert jetzt eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat.“

Unter den zustimmenden Ausrufen der Menge zerrte er den Jungen wieder zu sich und holte zum Schlag aus.

Laniki sprang auf ihn zu und hielt seine Hand fest. „Hast du denn gar kein Mitgefühl?“, fragte sie ihn und blickte in seine Seele.

Nein! Das hatte er eindeutig nicht. Keiner von all denen ringsum.

Doch dann geschah es. Unter ihrem Blick entspannte sich das vor Wut verzerrte Gesicht des Mannes und er ließ langsam seine Hand sinken. „Hier, nimm den Apfel und verschwinde!“, zischte er dem Jungen zu und ließ ihn los.

Der rappelte sich auf und rannte davon.

„Komm jetzt!“, mahnte Tana erzürnt und zog Laniki eilig mit sich fort, bevor sich die überraschte Menge von ihrem Schreck erholte.

Als sie weit genug entfernt waren, polterte die sonst so ausgeglichene Lehrmeisterin los. „Du musst vorsichtiger sein! Wenn du die Aufmerksamkeit der Leute auf dich ziehst, werden bald die Falschen davon erfahren und du machst alles zunichte!“

Laniki fühlte sich zu unrecht angegriffen. „Soll ich etwa dabei zusehen, wenn schwache Kinder misshandelt werden? Wozu soll diese Gabe dann gut sein?“

Tana holte tief Luft. Sie konnte verstehen, was in dem Mädchen vor sich ging, doch hier ging es um mehr. Sie versuchte sich wieder zu beruhigen und sprach nun ohne Zorn in ihrer Stimme weiter. „Hör mir zu! Du hast im Grunde das Richtige getan, doch sie werden gespürt haben, dass hier geheime Kräfte am Werk waren. Was, wenn dich jemand beobachtet und dich verfolgt, um deine Gaben für sich zu missbrauchen. Ich werde nicht immer bei dir sein, um dich zu schützen. Hab Geduld! Die Zeit wird kommen, in der die Menschen wieder Mitgefühl ihren Nächsten gegenüber entwickeln. Doch dazu brauchen sie dich!“

Laniki begann zu begreifen was Tana ihr sagen wollte. Kleinlaut gab sie ihr recht.

„Du musst einschätzen lernen, wann und in welcher Form du dich für andere einsetzen darfst“, fügte Tana verständnisvoll hinzu und strich ihr sanft übers Haar.

Eine Weile schwiegen sie.

„Ich glaube, ich muss noch einiges lernen, nicht wahr?“, fragte das Mädchen einlenkend.

„Dazu bin ich ja da, Kindchen.“ Tana zwinkerte ihr aufmunternd zu und dann machten sie sich, Arm in Arm, auf den Rückweg.

Auch in dieser Nacht wurde Laniki von ihrem Albtraum geplagt. Jedoch immer, wenn sie meinte etwas Genaueres erkennen zu können, waren die Bilder wieder verschwunden.

Die Legende von Assan

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