Читать книгу Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2) - Carola Schierz - Страница 11
Sina
ОглавлениеSobald sie alles Wichtige für die Zeit ihrer Abwesenheit geklärt hatte, machte sich Sina auf den Weg. Zwei anstrengende Wochen später kam sie endlich an der Küste an. Sie ließ ihren Blick über den weiten Horizont schweifen und genoss für einen Moment den Anblick. Wunderschön war die Verbindung vom Türkis des Meeres mit dem Azurblau des Himmels. Es war überwältigend und machte ihr einmal mehr klar, wie unwürdig und klein doch der Mensch war. Und dennoch lohnte es sich, für jene einzustehen, die sich nicht nur um ihr eigenes Wohl sorgten und die einem am Herzen lagen, so fehlbar sie auch sein mochten.
Ihre bevorstehende Abreise hatte im Tempel zunächst für Unruhe gesorgt. Die Wächterinnen fühlten sich nicht mehr sicher, seit Farid sich offen von ihnen distanzierte. Seit Generationen hatte der Tempel unter dem Schutz des Königshauses von Isfadah gestanden und die Wächterinnen brauchten sich um derartige Dinge nicht zu sorgen. Doch die veränderte Situation hatte die weisen Frauen ihrer Sicherheit beraubt und die bevorstehende lange Abwesenheit von Sina minderte derartige Angstgefühle nicht gerade. Doch die oberste Wächterin hatte ihre Autorität eingesetzt und keinen Widerspruch geduldet. Sie versicherte, dass ihre Mission auch dem Wohle des Tempels diene und ordnete an, dass keinesfalls etwas davon nach außen dringen durfte. Eventuelle Besucher sollten damit vertröstet werden, dass die Meisterin mit einem schweren, ansteckenden Leiden ans Bett gefesselt sei. Sina übergab die Leitung des Tempels an ihre Vertreterin und sprach den Frauen Mut zu. „Es darf und wird nicht immer so sein, dass wir uns vor Anfeindungen und Übergriffen dieses unwürdigen Königs fürchten müssen. Ich will die Ehre unseres Tempels wiederherstellen. Doch das ist ein langer Weg und meine Reise ist dafür nur der Anfang.“ Sie machte eine Pause und sah in die Gesichter der versammelten Wächterinnen. Als sie zu bemerken glaubte, wie sich Hoffnung und Stolz auf ihnen abzeichneten, fragte sie: „Habe ich eure Unterstützung?“
Langsam kam Leben in die Versammlung und nach und nach versicherte ihr jede der Anwesenden ihre Ergebenheit zu.
Der Abschied war tränenreich gewesen und viele gute Wünsche begleiteten Sina. Und die hatte sie auch bitter nötig. Als Frau allein zu reisen und das über eine so große Distanz, war nicht üblich und auch nicht ungefährlich. Sie hatte sich eine rührselige Geschichte zurechtgelegt, von einem alten einsamen Vater, der im Sterben lag. Das erklärte für die meisten Fragesteller alles und verschaffte ihr Ruhe. Zum Glück hatte sie immer wieder die Gelegenheit gehabt, bei einer netten Familie oder vertrauenswürdigen Händlern mitzufahren. Zu Fuß hätte sie ein Vielfaches der Zeit gebraucht. Dennoch war sie jetzt zutiefst erschöpft und genoss die Verschnaufpause am Strand.
Als sich Sina ausgeruht hatte, erhob sie sich und hielt Ausschau nach einem Menschen, den sie nach dem Weg fragen konnte. Nach einer Weile erblickte sie eine Gestalt, die ebenfalls den beeindruckenden Anblick des Meeres zu genießen schien. Zielsicher ging sie auf sie zu. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es sich um einen alten Mann handelte. Erst als ihr Schatten sich vor ihm ausbreitete, wurde er sich ihrer Gegenwart bewusst. Überrascht blinzelte er zu ihr hinauf. Sina, die während der Reise ihr rotes Gewand gegen ein gewöhnliches Alltagskleid getauscht hatte, wirkte auf ihn nicht weiter bedrohlich und so wich sein anfänglich skeptischer Blick bald einem freundlichen Lächeln.
„Kann ich Euch behilflich sein?“, fragte er die anmutige Fremde höflich und versuchte, sich wacklig auf die schwachen Beine zu stellen.
Sina bat ihn, sitzen zu bleiben und ging selbst in die Hocke, um ihm direkt in die Augen zu sehen. „Ich suche nach einem Fischerdorf namens Bluemare. Könnt Ihr mit sagen, wo ich es finde?“ Auf dem Gesicht des Mannes breitete sich das Lächeln der Erkenntnis aus.
„Ja, das ist hier ganz in der Nähe! Geht einfach in dieser Richtung am Ufer entlang und in etwa zwei Stunden solltet Ihr da sein.“
Sie bedankte sich freundlich bei ihm, fasste ihr Bündel und begab sich in die gewiesene Richtung. Die Sonne stand noch hoch und alles sprach dafür, dass sie ihr Ziel vor deren Untergang erreichen würde.
Als die letzten Strahlen auf den Wellen des Meeres hüpften, kam Sina in Bluemare an. Erleichtert schritt sie aus und brauchte nicht lange, um einen Bewohner des Dorfes zu treffen. Der antwortete der Fremden nur unwillig auf ihre Fragen. Aufmerksam musterte er die Frau. „Das war ein Drama, das Ganze! Keiner weiß so richtig, was wirklich geschehen ist. Aber fragt am besten den alten Mateo. Er und seine Sippe waren gut mit diesen Leuten bekannt.“ Er erklärte ihr den Weg und Sina vergeudete keine Zeit. Sie dankte dem Mann und machte sich auf die Suche nach der beschriebenen Hütte. Sie musste in dem kleinen Ort nicht lange suchen. Auf ihr Klopfen hin öffnete ein alter Mann und sah sie fragend an.
„Seid Ihr Mateo?“, fragte sie ihn freundlich.
Der alte, aber keineswegs gebrechliche Mann zog die Stirn in Falten und fragte nun seinerseits: „Wer will das wissen?“
Sie lächelte ihn verständnisvoll an. „Mein Name ist Sina. Wenn Ihr der seid, den ich suche, hoffe ich, von Euch Auskunft über das Schicksal unserer gemeinsamen Freunde zu bekommen. Sie haben bis vor ein paar Wochen hier gelebt. Dann hat das Schicksal sie hart getroffen. Ich denke, sie sind Euch unter dem Namen Arno und Luna bekannt.“
Jetzt straffte sich der Rücken des Alten und an seiner aufmerksamen Miene konnte Sina erkennen, dass sie sehr wohl den richtigen Mann vor sich hatte.
„Sie haben nie von einer Sina gesprochen“, sagte er misstrauisch.
„Das kann durchaus sein. Doch Ihr könnt mir glauben, wenn ich Euch sage, dass mir Luna wie eine Tochter am Herzen lag. Ich muss einfach wissen, was ihr und den Ihren widerfahren ist.“
Mateos Menschenkenntnis sagte ihm, dass die Fremde vertrauenswürdig war. Und selbst wenn er sich irrte: Arno war tot und Luna und den Kindern konnte sie sicher auch nicht mehr schaden. Langsam trat er zur Seite und bat sie ins Haus. Sina dankte und nahm auf dem angebotenen Schemel Platz.
„Wir wissen selbst nicht genau, was passiert ist. Arno und ich waren an jenem Tag auf dem Markt. Dort tauchten plötzlich Soldaten auf und stellten Fragen nach einer Frau, deren Beschreibung auf Luna passte. Angeblich suchte man sie wegen Hexenzeugs und so. Doch uns war klar, dass unsere Luna nicht so eine war. Wir leugneten, die beschriebene Frau zu kennen. Nur dieses kleine niederträchtige Biest, die Tochter des Schmieds, hat ihr Schandmaul nicht halten können. Als Arno bemerkte, dass die Soldaten aufbrachen, ritt er selbst davon, um Luna und die Kinder zu warnen ...“
„Die Kinder?! Ihr meint den Jungen, Ammon“, unterbrach ihn Sina verwundert.
„Ihn und die kleine Fanida. Ein wunderschönes kleines Ding. Ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und genauso klug ...“ Er schluckte und wischte sich verlegen eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Sie hatte eine Tochter?“, rief Sina überwältigt von der Neuigkeit.
„Ja, sie und Arno waren schon bald nach der Hochzeit in froher Erwartung.“
Sina ließ die Neuigkeit sacken. Als sie sich wieder gefangen hatte, fragte sie: „Und was geschah dann?“
Sein Blick ging ins Leere und verfinsterte sich. „Als wir hier ankamen, war schon alles zu spät. Die Hütte brannte lichterloh und keiner schien überlebt zu haben. In den Trümmern fanden wir am nächsten Tag jedoch nur die verkohlten Überreste von Arno. Wir begruben ihn hinter der Hütte. Von den anderen Dreien fehlte jede Spur. Wir vermuten, dass die Soldaten sie verschleppt haben.“
Sina überlegte einen Moment, ob sie ihm von Fineas Schicksal erzählen sollte, wollte ihm aber die Hoffnung nicht nehmen, dass sie am Leben war. Obendrein hielt sie es für besser, wenn er die wahren Hintergründe der ganzen Geschichte nicht erfuhr. Noch immer hatte das Leben von Ammon oberste Priorität. Jeder weitere Mitwisser in dieser Sache wäre eine Gefahr. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was war mit den Kindern geschehen? Sie war sich sicher, dass das Blutsiegel nicht log, wenn es Ammons Zustand als unbedenklich anzeigte. Doch was war mit dem Mädchen? Von dem Kerkerwärter hatte Sina erfahren, dass Finea wohl überzeugt davon war, die einzig Überlebende zu sein. Also waren die Kinder auch nicht bei ihr, als man sie mitnahm.
„Könnt Ihr mir die Reste der Hütte zeigen, in der sie gewohnt haben?“, fragte sie den Alten.
„Das kann ich wohl. Jedoch nicht mehr heute. Ich kann Euch ein Lager herrichten und morgen, bei Tageslicht, werde ich Euch hinführen.“
Sina sah hinaus und stellte überrascht fest, dass es schon stockdunkel war.
„Das klingt vernünftig. Ich nehme Euer Angebot gern an.“
Mateo deckte den Tisch und während sie ein einfaches Mahl verzehrten, erzählte er ihr alles, was seit Arnos und Lunas Ankunft geschehen war. So erhielt Sina Einblick in das Leben ihres Schützlings und fühlte sich ihr so nah wie schon lange nicht mehr. Dankbar hing sie an den Lippen des Alten und auch ihm schien es gut zu tun, in frohen Erinnerungen zu schwelgen. Sie lachte, als er von Arnos ersten Versuchen als Fischer erzählte und wurde wehmütig, als er von der Hochzeit und der kleinen Fanida berichtete.
Sie schienen glücklich gewesen zu sein, die Vier.
Als sie später auf ihrem Lager lag, wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Ihr wurde zum ersten Mal bewusst, dass Finea ohne ihr Zutun noch am Leben wäre. Nur auf Sinas Anweisung hin, hatte sich die junge Wächterin Lord Arko und dem kleinen Prinzen angeschlossen. Hätte sie nicht darauf bestanden, dann wäre Finea noch heute im Tempel und würde die Schriften studieren. Das Gefühl von heißem Blei breitete sich in ihrem Magen aus. Verzweifelt rollte sie sich zusammen und schluchzte in ihre Decke. Irgendwann schlief sie erschöpft ein.
Als sie am Morgen erwachte, war das Gefühl noch immer da. Doch sie traf eine Entscheidung. Sie würde sich ihren Schuldgefühlen nicht hingeben. Sie war die einzige Hoffnung, die die Kinder noch hatten. Wenn sie sich jetzt gehen ließ, wäre alles vergebens gewesen. Sina vergrub ihre Schuldgefühle unter der großen Aufgabe, die vor ihr stand: Um jeden Preis die Kinder zu finden. Sie war sich sicher, dass auch das Mädchen überlebt hatte. Was allerdings seither alles passiert sein konnte, wollte sie sich nicht ausmalen. Zwei kleine Kinder, allein in der Fremde ...
Mateo riss sie schließlich aus ihren Grübeleien. Sie aßen etwas Haferbrei und machten sich wenig später auf den Weg. Schon von Weitem konnte Sina die verkohlten Überreste der kleinen Hütte erkennen. Erneut machte sich das Blei im Magen bemerkbar. Doch auch diesmal gelang es ihr, dieses Gefühl zu verscheuchen. Aufmerksam betrachtete sie die schwarzen Balken und trat näher. Doch Mateo hielt sie zurück. „Vorsicht, geht nicht zu nah heran! Die Reste könnten jederzeit zusammenbrechen!“ Sie nickte und beschloss, später noch einmal allein hierher zurückzukehren. Sie wusste nicht, wonach sie suchte, aber sie wollte nichts unversucht lassen. Sie pflückte ein paar Blumen von der benachbarten Wiese und legte sie auf Arkos Grab. Lange sah sie auf die gemeißelte Inschrift des Grabsteines. Dort stand der Name 'Arno'. Lord Arko würde also für immer unter falschem Namen in der Erde ruhen. Doch das war nicht schlimm. Hier war er glücklich gewesen. Als Arno hatte Finea ihn zum Vater gemacht ...
Nur schwer konnte Sina sich losreißen.
Zunächst begleitete sie den Alten wieder zurück. Dort packte sie ihr Bündel und bedankte sich für seine Hilfe. „Ich muss aufbrechen. Es war sehr freundlich von Euch, mir Obdach und Essen zu geben. Ihr sollt allzeit gesegnet sein.“ Mit diesen Worten verließ sie ihn und begab sich offiziell auf den Heimweg. In Wahrheit änderte Sina die Richtung, sobald sie außer Sichtweite war.
Eilig begab sie sich zu der Ruine und zögerte nicht lange, bevor sie in deren Inneres vordrang. Lange suchte sie in der Asche herum und fragte sich mehrfach, wonach. Was wollte sie hier finden? Dann plötzlich brach sie mit dem rechten Fuß durch die verkohlten Holzdielen. Ein Schmerzensschrei entfuhr ihr und mühsam zog sie das Bein aus dem Loch. Als sie das Brett schließlich entfernt hatte, stellte Sina erstaunt fest, dass sich der Erdboden keineswegs wie üblich eine Elle darunter befand. Das Loch war wesentlich tiefer. Als sie der Sache nachging, entdeckte sie den kleinen Tunnel. Sie kroch hinein und folgte ihm bis zum Ausgang. Sie wusste noch immer nicht, warum Finea so fest davon überzeugt gewesen war, dass die Kinder tot seien. Alles, was Sina hier sah, wies daraufhin, dass die beiden durch diesen Fluchtweg entkommen sein mussten. Wahrscheinlich hatten sie dann beobachtet, wie die Soldaten ihre Mutter verschleppten und sind ihnen gefolgt. Irgendwo, zwischen hier und Isfadah, musste sich ihr Schicksal entschieden haben. Sie wusste, dass die Suche nahezu aussichtslos sein würde, aber es war die einzige Chance.