Читать книгу Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2) - Carola Schierz - Страница 8
Farid
ОглавлениеDer König von Isfadah vertrieb sich keineswegs die Zeit bei der Jagd, womit er seine Abwesenheit offiziell begründete. Wie immer in den letzten Jahren benutzte er diese Ausrede auch jetzt, als er sich auf den Weg zum geheimen Draconenlager machte. Endlich konnte er selbst Zeuge jenes Rituals werden, währenddessen neue 'Rekruten' erschaffen wurden. Schon lange hegte er den Wunsch, einmal anwesend zu sein, wenn die Knaben ihren ersten Vergessenstrank bekamen - und 'wiedergeboren' wurden. Er wollte miterleben, was in jenem Moment geschah, in dem sie ihr bisheriges Leben und damit auch ihre Ängste und Sehnsüchte vergaßen. Er wollte mit eigenen Augen sehen, wie sie zu leeren Hüllen wurden, die sich, mit seinen Ideologien gefüllt, bedingungslos der harten und zuweilen grausamen Ausbildung stellten. Da Farid nicht so viel 'Material' zur Verfügung stand wie einst seinen Vorgängern, hatte man die gefährlichsten Teile des Trainings gestrichen. Zu hoch waren früher die Verluste gewesen. Diese Knaben wurden auch so um ein Vielfaches besser, als es normale Soldaten waren.
Zunächst führte man den König durch die Trainingsbereiche der älteren Draconen.
Da es in deren Köpfen kein Leben vor der Zeit im Lager gab, ordneten sie ihr Lebensalter den Jahren ihrer Ausbildung zu. Wenn Farid also einen der ältesten Knaben fragte, wie alt er sei, dann antwortete dieser ohne Umschweife: „Sechs Jahre, mein König und Vater.“ In Wirklichkeit war der Junge jedoch zwölf oder dreizehn. Die Körper der künftigen Krieger sahen deutlich männlicher aus als die ihrer Altersgenossen in Freiheit. Sie waren schon jetzt mit Muskeln bepackt, von denen manch erwachsener Mann nur träumen konnte. Sie beteten Farid regelrecht an. Für sie war er eine Art Gott und Vater in einem. Das Wenige an guten Eindrücken und Gaben, die die Kinder hier erhielten, wurde von den Ausbildern immer mit Farid in Verbindung gebracht. So stand er von Beginn an als die Personifizierung des Guten in der Welt da, das man behüten musste und wofür es sich zu sterben lohnte. „Euer Essen schenkt euch der König. Eure Kleidung, dieses Zuhause!“, erinnerte sie ständig jemand. Und immer wenn einer der Knaben gelobt wurde, was selten genug vorkam und bedeutsamer Leistungen bedurfte, wurde Farid erwähnt. Am Ende eines jeden Ausbildungsjahres wurden die zwei Besten des Jahrgangs mit einer kunstvoll geschmiedeten Waffe belohnt. Diese trugen sie mit geschwollener Brust, unter den anerkennenden und auch neidvollen Blicken ihrer Mitstreiter.
Doch der überwiegende Teil des Draconenlebens bestand aus Entbehrung, Schmerz, Aufopferung und Kälte.
Farid sah sich zufrieden um, während ihm die Ältesten ihr Können präsentierten. Als er einen etwa zwölfjährigen Jungen zum Zweikampf forderte, war ihm schnell klar, dass er diesem Kind gnadenlos unterlegen wäre, sobald es sein ganzes Können zum Einsatz brächte. Was würde das für eine Armee werden! In vier bis fünf Jahren wären die ersten Regimenter einsatzbereit. Hunderte junge kräftige Männer, die für einen Durchschnittskrieger nahezu unbesiegbar waren!
Im Geiste sah er sich schon zum Herrscher über die gesamten Königreiche des Südens werden.
„Hoheit, die Zeit des ersten Trankes ist gekommen!“, kündigte einer der Ausbilder nun an.
Farid und seine Begleiter folgten dem Mann an den Rand des Lagers. Die unfreiwilligen Anwärter wurden jenseits der hohen Umzäunung festgehalten, die das Draconenlager vor neugierigen Blicken schützten sollte. Es war inmitten eines Waldes errichtet worden. Die Stämme der extra dafür gerodeten Bäume hatte man dicht an dicht vertikal in den Boden gerammt. Um Schaulustige fernzuhalten, wurde das Gerücht von reißenden Tieren und verwunschenen Ungeheuern unter die Leute gebracht. Die Wenigen, die sich dennoch in das Dickicht hineintrauten, wurden von Wachen vertrieben, die angeblich gerade eines jener Untiere jagten … oder man brachte die Ahnungslosen einfach um. Der Plan schien aufzugehen, denn bisher hatte noch niemand das Lager entdeckt.
Dennoch kursierten in den Schankstuben schon die ein oder anderen vagen Vermutungen. Natürlich war das Verschwinden der Knaben nicht ganz unbemerkt geblieben. Als Farid von den Gerüchten hörte, hatte er sofort Spitzel ausgesandt, die sich unter das Volk mischten. Sie bedrohten jene, die die Wahrheit aussprachen derartig eindrucksvoll, dass die Unglücklichen künftig nie wieder ein Wort darüber verloren.
Farid nahm es jedoch gelassen. Er war sich sicher, dass all die dummen Schwätzer seinen siegreichen Kriegern voller Stolz zujubeln würden, sobald diese die ersten Siege für Isfadah errungen hätten.
Durch ein Tor im Zaun gelangten sie nach draußen. Dort stand eine größere Hütte auf einer Lichtung. Sie traten ein. In ihrem Inneren war es stickig und düster. Dutzende Knaben saßen verängstigt und dicht an dicht auf dem Boden. Farid meinte, den Geruch von Urin zu vernehmen. Als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, bemerkte er, dass die Kinder aneinandergekettet waren. Einige weinten leise, andere versuchten tapfer zu sein. Wenn sie erst den Trank des Vergessens eingenommen hätten, würden derartige Vorkehrungen nicht mehr von Nöten sein. Abgesehen davon, dass man nur schwer aus dem Lager ausbrechen konnte, würden sie es nicht einmal versuchen. Für diese Kinder gab es dann kein 'draußen' mehr. Nichts wonach sie sich sehnten, nichts was sie vermissen würden. Es gab nur noch das Leben danach. Und ihr höchstes Ziel würde sein, ihrem König und Vater Ehre zu machen.
Plötzlich waren vor der Tür Geräusche zu hören. Als sie sich öffnete, trat ein Ausbilder mit einem weiteren kleinen Jungen ein. Er wand sich unter dem Griff des Mannes und schrie ununterbrochen dieselben Worte: „Ich muss zu meiner Schwester! Sie wartet auf mich. Ihr habt es versprochen!“
Farids Augen wurden für einen Moment schmal, als er den Jungen musterte. Doch dann entspannten sich seine Züge sofort wieder. Niemand hatte davon Notiz genommen und auch Farid selbst war seine Reaktion nicht wirklich bewusst gewesen.
„Gib Ruhe, Bursche!“, forderte der genervte Ausbilder energisch. Dann wandte er sich ehrfurchtsvoll an seinen König: „Es tut mir leid, Hoheit, aber er wurde gerade erst abgeliefert. Wir hatten noch keine Gelegenheit dazu, ihn ruhig zu stellen.“
Farid hob beschwichtigend die Hände. „Nur keine Aufregung meinetwegen. Verfahrt einfach so, als wäre ich nicht anwesend!“
Der Knabe wurde ebenfalls angekettet und unter Androhung von Gewalt schwieg er schließlich. Wenig später begab sich die schier endlose Kette von unfreiwilligen Anwärtern auf den Weg ins Lager. Dazu benutzten sie dasselbe Tor, durch welches Farid und seine Begleiter es zuvor verlassen hatten. Drinnen stand ein Spalier von älteren Knaben. Unter ihnen war auch Farids Duellgegner. Sie blickten starr geradeaus und es herrschte Totenstille.
Die Neuankömmlinge waren sichtlich beeindruckt und sahen sich ängstlich um. Dann mussten sie sich in einer langen Reihe aufstellen. An beide Enden traten jetzt ältere Rekruten heran und reichten den Knaben prachtvolle Kelche mit einer dampfenden Flüssigkeit. Sie achteten akribisch darauf, dass jeder Junge mindestens drei große Schlucke des Trankes zu sich nahm. Farid war gespannt darauf zu verfolgen, was weiter geschah. Als die Letzten ihre Dosis 'Vergessen' hinunterschluckten, begannen die Ersten sichtlich zu schwanken. Nacheinander sackten sie zusammen und fielen in einen kurzen und sehr tiefen Schlaf. Sie spürten nichts davon, dass man ihnen die Ketten entfernte, sie vollkommen entkleidete und ihnen alles Persönliche abnahm.
Nach einer knappen halben Stunde kamen die Ersten wieder zu sich. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Farid hätte erwartet, dass sie sich verunsichert umsehen oder wenigstens Erstaunen darüber äußern würden, dass sie nackt waren. Doch sie schienen alles als gegeben hinzunehmen, was man ihnen sagte.
„Ihr seid nichts!“, begann der oberste Ausbilder seine 'herzerwärmende' Rede. „Ihr habt nicht einmal einen Namen. Euer König und Vater gibt euch Kleidung und Nahrung. Einen Namen und Ehre müsst ihr euch selbst verdienen.“ Er gab ein Zeichen und es wurden knielange Hemden aus grauem Stoff verteilt, die sich die Knaben nun überwarfen. „Ihr werdet jetzt zu eurer Unterkunft gebracht, die ihr peinlich sauber halten solltet. Dort wartet eine Abendmahlzeit auf euch und ihr werdet einen Platz für die Nacht finden. Schlaft euch aus, denn schon morgen früh, bei Sonnenaufgang, wird alles von euch abverlangt werden. Bestimmt an jedem Abend einen von euch, der den täglichen Dank für euren König und Vater spricht. Ohne ihn wäret ihr einsam und schutzlos. Also dankt ihm für die Fürsorge, die er euch Unwürdigen entgegenbringt!“
Farid ließ seinen Blick schweifen. Die Knaben hingen förmlich an den Lippen des Redners. Sie schienen nicht im Geringsten mit ihrem Schicksal zu hadern. Gehorsam folgten sie ihren künftigen Ausbildern zu den Quartieren.
Farid hob bei deren Anblick ungläubig die Brauen. Es handelte sich dabei lediglich um Dächer auf Stelzen. Der Boden bestand aus Brettern, die eine halbwegs gerade Fläche bildeten. Es gab mehrere derartige Unterkünfte für jeweils etwa dreißig Knaben. In einem gewaltigen Topf, der zwischen den Behausungen über offenem Feuer hing, blubberte eine undefinierbare braune Masse vor sich hin.
Farid sah sich das Ganze aus der Nähe an. „Was um Himmels willen bekommen sie zu essen?“, fragte er den obersten Ausbilder angewidert.
„Dies ist ein nahrhafter Brei aus Kumabohnen und Milchlake. Er enthält alles Notwendige, um satt zu machen, das Muskelwachstum zu steigern und Kraft zu geben. Sicher, er sieht scheußlich aus und schmeckt auch nicht wesentlich besser, doch sie essen ihn alle. Und er ist sehr billig herzustellen.“
Auf dem Boden der Quartiere lagen einfache Schilfmatten und darauf standen Schüsseln aus Holz, mit ebenfalls hölzernen Löffeln.
Die Kinder verhielten sich für ihr Alters eher ungewöhnlich. Sie begaben sich geordnet, einer nach dem anderen, zu je einem der Schlafplätze und griffen nach den Schüsseln. Dann holten sie sich ihre Essensrationen ab und hockten sich anschließend schweigend an ihren Platz. Dort löffelten sie, ohne zu murren, die stinkende Pampe aus.
Farid drehte sich der Magen um, bei dem Gedanken ebenfalls davon essen zu müssen ...
Doch diese Gefahr bestand nicht. Er wurde in ein prachtvolles Zelt geführt, wo ein fürstlich gedeckter Tisch auf ihn wartete. Voller Appetit labte er sich an süßen Früchten, knusprigem Braten und frischem warmen Brot. Danach ließ er sich noch Kuchen und dicke Sahne schmecken. Bei einem guten Tropfen Wein im Anschluss, erhielt er von den Ausbildern bereitwillig Antworten auf all seine Fragen.
Bevor er sich zur Ruhe begab, ließ er sich noch einmal zu den Quartieren der Knaben führen. Ihm fröstelte, sobald er das wärmende Zelt verließ. Im Gegensatz zu ihm würden diese Jungen die Nacht im Freien zubringen. In Isfadah war es tagsüber meist sehr heiß und nachts dagegen oft extrem kalt. Die jungen Draconen sollten vom ersten Tage an gegen Hitze und Kälte gleichermaßen abgehärtet werden. Später auch gegen Hunger und Durst. Doch das hatte noch ein wenig Zeit.
Farid suchte mit den Augen nach jenem Knaben, der als Letzter zugeführt worden war. Er fand ihn im Halbdunkel des Mondlichtes, in einer Ecke. Während viele der anderen sichtbar vor Kälte zitterten, biss sich dieser so hart auf die Unterlippe, dass etwas Blut hervortrat. Doch er war nicht der Einzige, dessen angeborener Stolz durch den Trank nicht beeinträchtigt war. Es gab noch eine Handvoll anderer Jungs, die sich nicht anmerken lassen wollten, dass ihnen die Kälte zu schaffen machte. Das waren ausgezeichnete Grundlagen, für eine vielversprechende Karriere, inmitten der Draconen. Farid wollte sich diese Gesichter merken und sich künftig, bei seinen jährlichen Besuchen, nach deren Werdegang erkundigen. Er war davon überzeugt, dass er sie eines Tages hoch zu Ross, in den Farben der Anführer geschminkt, wiedersehen würde. Dann endlich sollten sie für ihn, ihren König und Vater, ausziehen und seine Kriege gewinnen.