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Kapitel 2
ОглавлениеSelig sind die Unwissenden
Geschäftiges Treiben und Stimmen hörte ich aus der Backstube und dem Verkaufsraum während ich die Schnürsenkel meiner Turnschuhe verknotete. Ich saß oben auf einem Küchenstuhl und lauschte nach unten.
Die Sonne drängte sich durch die dicken Vorhänge in der Küche. Als ich sie zurück zog, kniff ich geblendet die Augen zu, denn das grelle Sonnenlicht war um ein vielfaches heller, als ich erwartet hatte. Meine müden Augen gewöhnten sich nur langsam daran.
Das Dutzend Bierflaschen auf der Küchenzeile ließen mich vermuten, dass Pit nun wusste, warum ich hergekommen war. Weil die letzten Wochen ein reiner Spießrutenlauf gewesen war. Weil mich meine Freundin schlichtweg abserviert hatte und mir vor lauter Müdigkeit oft die Augen zu fielen. Die Frustration darüber, wie sehr sich mein Leben zum negativen verändert hatte und wie wenig ich scheinbar ausrichten konnte um das Gegenteil herbei zu führen, ärgerten mich mehr als ich zugeben wollte. Aber ich war nicht allein auf der Welt mit Problemen.
Bevor ich eingeschlafen war, hatte mich noch Pits Sorge über seine nahe Zukunft und die Backstube beschäftigt. Die Hiobsbotschaft über den baldigen Tod meiner Großmutter und somit auch Pits, hatte ich relativ schnell als nicht ernstzunehmendes Geschwätz eines alten Mannes abgetan. Natürlich ist niemand vor einem plötzlichen Tod gefeit, erst recht nicht nach einem langen und erfüllten Leben. Allerdings hatte ich enorme Zweifel an der Glaubwürdigkeit solcher Voraussagen. Der Mediziner in mir betrachtete das etwas nüchterner. Meine Großmutter war stets gesund und kräftig gewesen und nichts hatte darauf hingedeutet, dass sich die sobald ändern sollte.
Die Nacht hatte ich tatsächlich ohne Unterbrechung im Tiefschlaf auf meiner grünen Couch verbracht. Wie schön durchschlafen sein kann, weiß man erst zu schätzen, wenn man sonst nachts arbeitet, lernt oder schlaflos an die Zimmerdecke starrt.
Das T-Shirt vom Vortag stopfte ich noch meine Reisetasche und kickte sie unter die Couch, eh ich die Treppe zur Backstube hinunter lief. Der Verkaufsraum war gerade leer und Pit zog ein Blech dampfender, goldbrauner Croissants aus dem Ofen. Die Wolke traf mich wie ein Schlag.
«Wow, ich hatte ganz vergessen...!», murmelte ich zu mir selbst, doch Pit schien mich bereits vorher gehört zu haben.
«Moin, Moin. Kannst gleich welche haben», rief Pit mir über die Schulter zu.
«Morgen! Später. Gern. Ich geh erst mal rüber.» sagte ich und nickte zur Tür.
«Alles klar, bis später.» rief Pit zurück, drehte sich aber nicht mehr um.
Draußen schien es noch viel heller zu sein, als ich drinnen vermutet hatte. Keine einzige Wolke war mehr am Himmel und die Sonne strahlte noch einmal mit voller Kraft vom stahlblauem Himmel.
Die beiden Straßen zu meinem Elternhaus ging ich zu Fuß und ließ den Scirocco gegenüber der Backstube stehen. Es war erschreckend wie wenig sich seit meiner Kindheit dort geändert hatte. Der unaufdringlich lilafarbene Lavendel, von Frau Krämer wuchs immer noch ungehindert über ihre Grundstücksgrenze auf den Bürgersteig. Ihre Nachbarin und wohl eine waschechte Erbsenzählerin, Frau Hambücken, hatte jahrelang jeden Herbst den überwachsenden Lavendel moniert und bestand darauf, dass die Büsche zurück geschnitten wurden. Als Pit und ich etwa acht Jahre alt waren, fanden wir hinter dem Haus meiner Eltern ein totes Eichhörnchen und fanden, dass es begraben werden musste. Allerdings bestattet wir es nicht im eigenen Garten, sondern wir suchten uns Frau Krämers Lavendel als Grabstätte aus. Sie kreischte hysterisches, als sie das halb verrottete Nagetier fand und warum auch immer, verdächtigte sie wohl Frau Hambücken, ihr das tote Tier untergeschoben zu haben. Diese bestreitet das noch heute.
Weiter die Straße entlang, am Grundstück der Familie Gerbhoff vorbei, erinnerte ich mich an die schönen Grillabende die wir dort verbracht hatten. Die Rauchschwaden gefüllt mir dem Duft von Würstchen, Koteletts und einigem an Gemüse. Bis in die tiefsten Sommernächte hinein in denen es spät Abends noch Toffifee in Blätterteig vom Grill gegeben hatte. Die Gerbhoffs hatten zwei Kinder, damals etwa in meinem Alter. Die Zweieiigen Zwillinge Hanna und Yannik. Soweit ich wusste, hatten beide das Dorf kurz nach mir verlassen. Hannah ging nur nach Koblenz um Pferdewirtin zu lernen, während Yannik sich in die Hauptstadt Berlin verguckt hatte. Oder in die Straßenmusikerin Jojo. Das konnte niemand so genau wissen. Jedoch genau wusste ich, dass der vierte Stein von rechts, der oben auf der Steinmauer lag, noch immer lose war. Er hatte sich vor etwa 15 Jahren aus dem Zement befreit und lag dennoch an der selben Stelle. Verblüffend wie man sich an solche Banalitäten erinnern kann. Natürlich kam ich nicht umhin daran zu wackeln und mich von der Richtigkeit meiner Erinnerung zu überzeugen.
Als ich um die perfekt getrimmte, grüne Hecke an der Straßenecke bog, die zum Grundstück des Ehepaars Heiner gehörte, konnte ich den grünen Landrover meines Vaters bereits in der Einfahrt stehen sehen. Zuvor hatte ich die leise Befürchtung, dass Frau Heiner, in ihrem weißen Klappstuhl mittig auf dem leicht erhöhten Rasen sitzen würde, von wo aus man einen fantastischen Blick über die Straße hatte. An diesem Tag tat sie es nicht.
Es war ein älteres Modell des Landrover, welcher von meinem Vater jedoch liebevoll gepflegt und ich Schuss gehalten wurde. Die braune Ledergarnitur machte noch immer einen nagelneuen Eindruck. Ich spähte hinein, als ich am Wagen vorbei ging.
Ich machte mir gar nicht erst die Mühe zu klingeln und drauf zu warten herein gelassen zu werden, stattdessen umrundete ich das Haus und sah genau das, was ich auch erwartet hatte. Der runde Tisch auf der Terrasse war zum Frühstück gedeckt gewesen, wenn auch das Frühstück schon vorüber gewesen war. Meine Mutter entdeckte mich als erste und klatschte vergnügt in die Hände. Eine liebevolle Unart, wie ich schon vor vielen Jahren feststellte. Immerhin wusste sofort jeder, dass etwas geschehen war. Von ihrem Gesicht konnte man zeitnah ablesen, ob es sich um eine gute, oder eine schlechte Sache handelte.
Meine Mutter lächelte und nickte mir zu. Sie fasste auf die Armlehne des Stuhls neben ihr, der mit dem Rücken zu mir stand. Meine Großmutter erhob beide Hände zum Gruß und winkte.
«Linus!», flötete meine Großmutter. Nachdem ich mich aus der Umarmung meiner Mutter lösen und ich mit Mühe den erstaunlich festen Klammergriff meiner Großmutter lockern konnte, küsste ich beide Frauen noch auf die Stirn.
«Will, unser Sohn ist hier,» rief meine Mutter aus vollem Hals, ohne sich zu rühren oder mich aus ihrem Blick zu entlassen. Noch so eine Unart. Die zu überwindende Strecke machte sie mit höherer Lautstärke wett. «Noch ein Überraschungsgast dieses Wochenende», quietschte sie vergnügt. Und dies war auch schon das dritte unverkennbare Erkennungsmerkmal meiner Mutter. Normalerweise würde ich behaupten, dass erwachsene Frauen nicht quietschten. Diese schon.
Eh ich nach meinem Vater fragen und meine Mutter zu ihrem Monolog über mein spärliches Kommunikationsverhalten ansetzen konnte, stand er auch schon in der Schiebetür zur Terrasse, seinen Tennisschlager und eine grüne Sporttasche geschultert.
«Junge!», sagte mein Vater trocken. Für seine zurückhaltende Freude war ich ihm dankbar. So wenig ich natürlich meiner Großmutter oder meiner Mutter böse sein konnte für ihre überschwängliche Freunde meines überraschenden Besuches. Unangenehm war es mir dennoch. Ich wusste schon längst, dass sie mit ihrem angehenden Arzt-Sohn in Köln prahlten und nur ungern hätte ich ihr Bild von mir enttäuscht.
«Hi Dad. Auf dem Sprung?»
«Ja. Herbert hat auf ein Revanche bestanden. Leider hatte er das letzte Mal keine Chance gegen meine äußerst glückliche Rückhand.» Mein Vater war seit ich mir zurück erinnern konnte, ein leidenschaftliche Tennisspieler. Bisher hatte er, sportlich gesehen, das ganze Dorf und schon einige Gegner aus Nachbardörfern gegen sich aufgebracht.
Er nahm mich an der Schulter und zog mich ein Stück zurück um Auto. «Wie lange bleibst Du?»
«Bis Sonntag. Ich bleibe bei Pit.»
«Gut, dann sehen wir uns später noch.» Er klopfte mir noch einmal auf die Schulter, bestieg seinen Wagen und fuhr aus der Einfahrt. Seine geradlinige Art und sein direktes Wesen ohne verletzend zu sein, fiel einem als Erstes an ihm auf, allerdings hatte ich es erst in den vergangen Jahren angefangen es zu verstehen. Er war eine leidenschaftliche Person, aber nie verschwenderisch mit Herz und Verstand. Das Gegenteil meiner Mutter, die jeden und alles mit überschwänglichen Worten, Gesten und ihr selbst überschüttete.
Ich sah zurück zur Terrasse und meine Mutter stand mit einem weiteren Frühstücksgedeck in der Tür und lächelte. Beide sahen mich erwartungsvoll an. So kam ich nicht umhin zu berichten, wie es im Studium lief, an der Uni, was ich im Krankenhaus gemacht hatte und wie ich mit meinen WG Mitbewohnern zurecht kam, während ich mir Brötchen mit Nutella und Erdbeeren mit Milch gönnte. Ihre Neugierde befriedigte ich gerne, ohne selbst zu sehr über mein Leben in Köln nach zu grübeln. Kommenden Sonntag Abend musste ich zurück fahren und zusehen, dass ich genug Erholung mit mir nahm.
Als meine Mutter begann den Tisch abzuräumen zuckte meine Oma fast unmerklich zusammen, dennoch hatte ich es bemerkt. Mein Mutter ging ins Haus und kündigte an, eine neue Kanne Kaffee zu kochen. Der Enkel in mir wollte indes nur seine alte Großmutter sehen und der angehende Mediziner in mir konnte es nicht lassen.
«Alles in Ordnung?» fragte ich schließlich besorgt nach.
Mit zitternder Hand winkte sie ab, doch das schubste nur den Enkel beiseite um dem Mediziner vollends in mir auszufüllen. Ich rutschte mit meinem Stuhl näher an ihren und beugte mich ein Stück zu ihr. Sie blickte nur an mir vorbei und zur Terrassentür. Zuerst schien sie zu zögern und holte Luft, doch dann schwieg sie doch.
«Geht es Dir nicht gut. Möchtest Du dich etwas ausruhen?»
Sie regierte nicht so, wie man es von älteren Damen gewohnt war, sondern recht ruppig.
«Ach was. Ich liege noch genug, wenn ich tot bin.» Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen schnappte sie nach meinen Handgelenken, so dass meine Hände optisch etwas hilflos in der Luft hingen. Meine Verwunderung konnte ihr unmöglich entgangen sein, denn sie drückte fester zu.
«Linus!», zischte sie plötzlich. Und sie war mir völlig fremd. Ihr gutmütiger Gesichtsausdruck, das liebevolle Lächeln und die durch das Alter gegebene Zerbrechlichkeit schienen verschwunden. Stattdessen blickte mich ein ängstlich gehetztes Gesicht mit tiefen Sorgenfalten an.
«O-Oma, lass mich Dich untersuchen. I-Ich...» Doch ich hielt schnell inne, als sich ihre Augen weiteten. Für einen kurzen Moment war ich wieder nur der Enkel, den die schreckliche Angst überkam, dass seine Oma gleich vorn ihm im Stuhl zusammen klappen würde. Aber endlich bekam auch der Mediziner wieder etwas Platz und ließ mich erkennen, dass sie nicht kurz davor war zu sterben, doch beinahe in Panik war.
«Es ist nicht viel Zeit Linus, also hör mir sehr genau zu.» Dabei schüttelte sie leicht meine Handgelenke. Aus Angst ihr weh zu tun, bewegte ich mich kein einziges Stück. Ihr Anblick hatte mir mittlerweile auch vollends die Sprache verschlagen. Sie hatte eine solche Entschlossenheit, mit derer sie mich anblickte und auch noch immer festhielt.
«Deine Mutter soll das nicht hören. Niemand!»
Heftiges Nicken meinerseits.
«Es bleibt keine Zeit Linus, wahrscheinlich habe ich einen Fehler gemacht und zu lange gewartet», sagte sie sehr schnell. In meinem Kopf hakte ich eine Checkliste nach der Anderen ab und versuchte verzweifelte eine Anamnese zu erstellen. Vergebens. Himmel, welche Krankheit hatte sie uns nur vorenthalten.
Sie sprach schnell weiter. «Der Weg ist noch lang und ich weiß nicht welche Unwägbarkeiten Dir noch begegnen. Sei auf der Hut, aber lass es Dir nicht an Mut fehlen. Handel entschlossen aber mit Bedacht. Gib Acht wem Du vertraust, aber geh zurück nach Hause. Damit meine ich nicht dein Köln, damit meine ich nichts, was du je vorher gesehen oder erlebt hast. Doch ich muss Dich der Herausforderung überlassen, es selbst heraus zu finden und ich muss Dich dazu drängen. Dein Vater war leider nicht die Hilfe, die ich mir ersehnt hatte, darum ruhen all meine Hoffnungen auf Dir.»
Dumpfes Geklapper mit Geschirr drang aus dem Haus. Oma hielt kurz inne und ihre Augen zuckten, verloren aber nicht ihren Fokus: Mich.
«Ich weiß nur zu gut was es ist. Es ist Segen und Fluch. Privileg und Bürde. Es liegt nun an Dir heraus zu finden was das Richtige ist und wie das Schlimmste verhindert werden kann. Und hier kommt der einzige Hinweis den ich Dir geben kann: Finde Aenlin! Tu es Linus, Du bist vielleicht die letzte Chance die wir haben!»
Vielleicht war sie auch schlichtweg verwirrt. Ihre scharfe Ansprache passte mit nichts zusammen, was ich je zuvor von ihr gehört hatte. Die schwelende Panik in ihren Augen ließ mich an diesem sonnigen Tag frösteln.
Unwillkürlich schnappte ich nach Luft. «Oma, ich...» Sie ließ meine Handgelenke wieder los und kehrte zu ihrer eingefallenen Sitzposition zurück.
«Wovon...», setzte ich an, doch wurde jäh unterbrochen.
«Frischer Kaffee», trällerte meine Mutter und stellte eine volle Kanne auf den Tisch. Die Stille war erdrückend und sie entging auch meiner Mutter nicht. Sie sah uns lange an aber hielt inne. Sie sah abwechseln meine Großmutter und mich an.
«Alles in Ordnung bei euch?», wollte sie wissen.
«Linus fühlt sich nicht wohl. Der arme Junge ist völlig überarbeitet», gab meine Oma zum besten. Mir klappte lediglich der Unterkiefer herunter. Üblicherweise war ich um keinen Spruch oder Erklärung verlegen, doch seiner Großmutter zu widersprechen, bei der man sich nicht sicher war, ob sie entweder nur alt und verwirrt oder durch und durch durchtrieben und beängstigend war, widerstrebte meinem gesunden Menschenverstand. Also hielt ich den Mund. Und mir dann den Bauch.
«Uh», brummte ich. Meine Oma verzog keine Miene.
Mein vermeidlich gestresster Magen ermöglichte mir einen spontanen Aufbruch. Mit einigen Beuteln Kümmel-Fenchel-Anis-Tee schob ich mich aus der Haustür. Nun war es an mir verwirrt zu sein. Von meiner erwarteten Erholung und Klarsicht war ich weit entfernt. Im Gegenteil. Meine Großmutter hatte mich zu tiefst erschreckt und noch immer hatte ich keine blasse Vorstellung, was ich von ihrem Vortrag halten sollte. Wusste nicht, wie ich das Pit erzählen sollte, wusste nicht einmal was ich darüber denken sollte.
Vor dem Krämerschen Lavendel blieb ich kurz stehen und noch immer keine Spur von Frau Krämer und ihrem Gartenstuhl. Mit etwas Glück gelang mir auch der Rückweg unbehelligt.
Die Hände tief in die Taschen vergraben lehnte ich mich rücklings an meinen Wagen. Die Satzfetzen sausten mir durch den Kopf und Himmel nochmal, sie waren mir völlig schleierhaft.
«Wie nicht mein Köln? Wo gibt's denn noch ein anderes?», murmelte ich vor mich hin. «Mich in Acht nehmen?», brummte ich weiter. «Herausforderung? Segen und Privileg. Fluch und Bürde? And what the fuck is Aenlin?» sagte ich lauter und noch immer ahnungslos.
«Aenlin?», fragte Pit, der plötzlich hinter mir auf der anderen Seite des Wagens stand.
«Schonmal gehört?» fragte ich Pit und erwartete schon keine Antwort. Pit zuckte kurz mit den Schultern.
«Dafür was anderes.» Er hielt einen ungeöffneten Briefumschlag hoch. «Der Wisch vom Nachlassgericht.»
«Na los. Aufmachen!», forderte ich ihn auf. «Immerhin hatte der alte Dernbach einen Nachlass.»
Pit zögerte nicht mehr länger und riss den Umschlag auf. Er überflog die Zeilen des mehrseitigen Inhaltes und blätterte immer wieder durch. Allmählich wurde ich ungeduldig. Mein Bedarf Rätselraten war bereits gedeckt.
«Und?», fragte ich langgezogen. Pit schüttelte nur den Kopf.
«Versteh ich nicht. Wenn das stimmen soll, dann sind Miranda und ich Alleinerbe.» Pit hörte nicht auf die Blätter zu drehen und zu wenden.
«Zeig her.» Ich langte über das Wagendach und zupfte Pit den Brief aus den Händen. Aufmerksam las ich die Abschrift des Protokolls der Testamentseröffnung.
«Gratulation. Ihr seid tatsächlich Alleinerbe des gesamten Hauses. Sprich der Backstube, der Wohnung darüber und die Gartenlaube. Eine Garage hinter dem Haus gehört auch noch dazu. Das Haus ist sogar ohne Hypothek. Keine Kinder oder andere lebende Verwandte. Der alte Dernbach hatte keine Schulden, die Du dir damit ebenfalls aufhalsen würdest. Aber kein Wunder, auf so kleinem Fuß wie er gelebt hat.»
Bis zuletzt hatte der alte Herr in der Gartenlaube gelebt. Der kleine ebenerdige Raum hatte ihm keine körperlichen Anstrengungen mehr abgerungen.
«Und eine Barschaft von rund 165 Euro und 23 Cent», beendete ich die Aufzählung von Pits neuem Besitz. Dem stand allerdings der Schweiß auf der Stirn und seine blassen Wangen waren knallrot angelaufen.
«Dieser alte Hund», bellte Pit und legte darauf hin einen Freudentanz auf den Asphalt.
«Ich würde das Erbe wohl antreten», rief ich ihm zu. Pit wirbelte über die Straße und reckte sein Arme immer abwechselnd nach oben und zur Seite. Ein bisschen wie ein Nichtschwimmer im kalten Freischwimmerbecken.
Seine Erleichterung war ihm gegönnt und die Existenz von ihm und Miranda war nicht mehr akut gefährdet. Wenigstens konnte ich an dieser Front beruhigt zurück nach Köln fahren.
Pit schwatze mir euphorisch ein Stück Schokoladenkuchen auf. Seine Talent zum Konditor war nicht zu übersehen. Oder zu überschmecken. Er hatte wirklich Glück, dass der alte Dernbach einen Narren an ihm und Miranda gefressen und ihnen alles hinterlassen hatte.
«Warst Du schon mal in der Laube?», fragte ich Pit und war bemüht meine Zähne von der klebrig köstlichen Schokolade zu befreien.
Pit schüttelte kurz den Kopf. «Nicht drin, nur wenn ich Dernbach Brot gebracht hab oder er Kuchen wollte. Drinnen war ich nie. Wozu auch? Von der Tür konnte ich schon alles sehen was es in dem Raum zu sehen gibt. Nichtmal eine Fernseher hatte er da.» Pit rümpfte die Nase.
Mein Rucksack mit den Büchern lag noch immer unberührt auf dem Rücksitz, als ich meine Reisetasche wieder daneben warf.
«Lieben Gruß an Miranda!»,rief ich Pit noch durch das geöffnete Fenster zu, eh ich am folgenden Sonntag Nachmittag davon fuhr.
Der Plan war es, sich noch von meinen Eltern und meiner Großmutter zu verabschieden, diese war jedoch bereits zurück nach Koblenz gefahren. Es überraschte mich auch nicht mehr so, wie es es noch 36 Stunden zuvor getan hätte. Der Fahrdienst, den sie immer beauftragte, hatte sie bereits abgeholt, als ich hinter dem Landrover in der Einfahrt parkte.
Auf der Landstraße, noch weit entfernt von der Autobahn fummelte ich meine Handy aus der Hosentasche und war entschlossen meine Oma anzurufen um mich endlich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Vielleicht würde ich auch nochmal fragen, was genau sie mit dem ein oder anderen Teil unserer gestrigen Unterredung gemeint hatte.
Es klingelte. Eine Ewigkeit. Einen Anrufbeantworter oder ein Handy besaß sie natürlich nicht. Niemand nahm ab.
In Köln hätte ich es noch einmal versucht sie zu erreichen, wenn ich nicht mitten in eine Party geplatzt wäre, die meine WG Mitbewohner in unserer Wohnung veranstalteten. An einem Sonntag. Fassungslos stand ich mit meinem Gepäck in der Tür und kämpfte mich zu meiner Zimmertür. Sie war unverschlossen und immerhin hatte es keiner betreten oder es räkelte sich gar ein nacktes Pärchen auf meinem Bett. Das war damals leider keine Fata Morgana gewesen als ich von einem Lehrgang aus München zurück kehrte. Immerhin hatte ich Fronten, mein Zimmer betreffend, klar machen können. Was den Rest der Wohnung anbelangte, konnten den die anderen aufräumen.
Gegen Mitternacht als auch endlich der letzte Partygast den Weg nach draußen gefunden hatte und die Wohnung zur Ruhe kam, wurden meine Augenlider schwer und ich schlief schließlich ein. Die herbeigesehnte Ruhe währte jedoch nicht lange. Mein Handy surrte in meiner Hosentasche auf dem Parkettboden und blinkte im Takt. Nachdem ich mich dazu entschlossen hatte dran zu gehen verstummte es wieder, kurz darauf surrte es noch einmal. Mailbox. Und schon im nächsten Moment war ich wieder versunken und glitt mit Leichtigkeit zurück in den Tiefschlaf.