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Kapitel 3
ОглавлениеObrigkeit
Das Krankenhaus an diesem Montag war genauso wie jeden Montag. Es wurde von kranken oder vermeintlich kranken Menschen überflutete. All jenen die zu gesund für einen Rettungswagen waren und zu krank um sich der langwierigen Prozedur eines Hausarztbesuches auszusetzen. Verdenken konnte ich es ihnen nicht, dennoch musste man wiederum zwischen jenen unterscheiden, die sich offenkundig langweilten, die häufigste Diagnose wenn es nach Oberschwester Martha gegangen wäre und jenen die tatsächlich ärztliche Hilfe benötigten.
Außer dass ich fast verschlafen hätte, tat mir der Alltag, die Schufterei für die Uni und die Plackerei fürs Krankenhaus dennoch gut. In diesen Momenten, war ich mir sicher, den richtigen Beruf gewählt zu haben. Denn ich wollte den Menschen helfen, ich wollte heilen, oder zumindest einen Teil dazu beitragen. Wer wusste das schon, ein Jahr im Ausland, Ärzte oder Grenzen vielleicht? Nein, ich war kein Weltverbesserer, aber ein bisschen naiv war das schon. Die Welt brauchte definitiv mehr als einen vierundzwanzig jährigen Studenten um gerettet zu werden. Falls da überhaupt noch irgendwas zu retten war. Selbst das, wagte ich zu bezweifeln.
Und nein, ich war auch kein hoffnungsloser Optimist, der jedem sein Mantra auf die Nase band und keine Rücksicht darauf nahm, ob derjenige überhaupt Interesse daran hatte oder vielleicht nur eine Kopfschmerztablette wollte.
«Bürschchen? Hörrense mal. Isch ahn nisch der janze Daach Zick. Hallo!», säuselte es mir entgegen.
«Ich weiß und es tut mir sehr leid, Herr... ähm», ich begann in der Krankenakte zu blättert, doch an der Stelle des Nachnamens stand nur ein Fragezeichen. Immerhin einen Vornamen hatte er. Walter.
«Also, Herr... ähm... W-Walter», setzte ich an.
«Ming Fründe sagen Waldi», sagte Waldi stolz und lächelte mich mit seinen Zahnlücken an. Die übrigen Zähne waren bräunlich verfärbt und sein Geruch war undefinierbar zwischen Urin und Erbrochenem.
«Es tut mir leid, aber offensichtlich haben sie keine schwerwiegende Verletzung, darum kann ich die leider nicht vorziehen. Haben Sie denn noch was anderes außer Kopfschmerzen? Ich kann Ihnen ein...» Doch Waldi winkte ah ich meinen Satz beenden konnte. Er zeigte auf eine volle Sitzgruppe, mit noch zwei freien Plätzen und torkelte darauf zu. Er stank zum Himmel, doch immerhin war er friedlich
«Nüscht im Kopf diese jungen Burschen», murmelte Waldi in seinen Bart.
Ernüchternd stellte ich schon an diesem Morgen fest, dass es bis zu Ärzte ohne Grenzen noch ein weiter Weg war, wenn ich nicht mal einem Obdachlosen helfen konnte.
Zumindest blieb mir die Überheblichkeiten in Person, Thomas und Professor Rieck heute erspart. Für beide war es mehr als unüblich sich in die Notaufnahme zu verirren. Dort war ich sicher. Sogar vor dem Arzt, dem ich an diesem Tag zugeteilt war. Dr. Robert Neubert war viel zu sehr mit den Krankenschwestern beschäftigt und riss einen Kalauer nach dem Anderen, welche durch eifriges Gekicher quittiert wurden.
«Mittagessen? Ich bin dran und Neubert sagt, ich soll Dich mitnehmen.» Die Stimme gehörte Sam Hansemann, eine Kommilitonin und sehr begabt, was ich nicht zu meinem Vorteil, gestehen musste. Sam hatte beherzt eingegriffen, als ich Sarah beim präparieren unsere unbekannten Leiche, fast das Skalpell in den Bauch gerammt hätte. Mitten im Präp Kurs.
Es ging mir nicht alleine so, man fühlte sich wenig vorbereitet, als man einen nackten Leichnam vor sich liegen hatte. Zuerst kamen Gedanken, ob der Mensch auch tatsächlich tot ist oder womöglich von oben aus zusieht. Doch diese werden schnell ersetzt durch die Frage wie tief man wo schneiden darf. Und es siegt eindeutig die Neugier wenn man entdeckt, dass sich ein Nerv wie eine Wäscheleine anfühlt, oder ein Muskel wie ein Stück Polster von einem Sofa - mit Riffeln. Diese Erfahrungen stärkten den Respekt. An die Toten sowie an die Lebenden.
Wenn man allerdings schlussendlich schneiden möchte, musste man die Haut des Leichnams zunächst vom Körper weg spannen, jedoch hielt ich die Pinzette derart verkrampft, dass meine Finger taub wurden und ich das Skalpell nicht mehr halten konnte. Eine unachtsame Bewegung mit der tauben Hand genügte Sarah um einen Satz zur Seite zu machen und ich stach vor Schreck mitten in den Unterschenkel des Toten. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Stattdessen zog Sam das Skalpell heraus und ließ es klirrend zu Boden fallen, täuschte ein Malheur vor und die Aufmerksamkeit galt nicht mehr mir.
«Danke. Das hätte ich früher schon mal sagen sollen», gab ich demütig zu.
«Wegen dem Skalpell?», nuschelte sie, während sie bereits zum nächsten Biss in ihr Thunfisch Sandwich ansetzen. Leider sind manchmal die warmen Mahlzeiten aus der Kantine schneller vergriffen als man gucken kann. Und wenn man nicht genügend Zeit hat und auf den Nachschub zu warten, dann musste man sich mit dem Salatbuffet anfreunden. In unserem Fall der Snack Automat im Erdgeschoss, welcher auch passable Sandwiches ausspuckte.
Wir saßen im Treppenhaus zwischen Erdgeschoss und Keller. Dort war es immer angenehm kühl und selten kam jemand auf die Idee statt des Aufzuges das Treppenhaus zu benutzen. Und schon gar nicht Richtung Keller.
«Egal Linus. Rette irgendwann mir den Arsch und dann sind wir quitt.»
Den Gefallen würde ich ihr gerne tun. So fern sie sich denn wirklich Fehler erlauben sollte. Genau da war ich mir nicht so sicher. Meine Ego hatte einen Knick davongetragen, also schwieg ich um nicht noch mehr Dellen zu verursachen.
Den Weg zurück zur Notaufnahme verlängerte ich, indem ich noch zu den Umkleiden zurück lief. Mein Handy hatte ich am Morgen hektischer weise in meiner Jeans vergessen. Als ich es aus der Hosentasche zog leuchteten mir bereits 5 Anrufe in Abwesenheit sowie 7 Kurznachrichten entgegen.
Fünf davon waren Mailboxnachrichten, die anderen beiden waren von Pit.
Alter! Meld Dich gefälligst!! Und Du hast Kram bei mir vergessen.
Hatte ich aber gar nicht.
Erst die letzte Mailbox Nachricht kam auf den Punkt.
«Linus, Schatz hier ist Mama. Du bist zwar eben erst los gefahren und ich hoffe Du bist jetzt schon zu Hause und sitzt. Das Wohnheim von deiner Oma hat eben angerufen. Man hat sie im Bett gefunden. Schatz, sie ist im Schlaf von uns gegangen. Bitte ruf schnell zurück.»
Es traf mich trotzdem wie ein Schlag. Bei alten Menschen muss man immer damit rechen, dass sie sterben könnten. Die, die Glück haben tun es plötzlich, am besten im Schlaf und bei bester Gesundheit. Die, die Pech haben, kämpfen einen langen Krankheitskampf, hoffen und bangen über einen langen Zeitraum um dann ernüchternd festzustellen, dass der Tod sich nicht aufhalten lässt. Gleich, wie sehr man gebetet, Lastern entsagt oder für Sünden gebüßt hat. Ich war der festen Meinung, dass der Tod keine Unterschiede machte. Er hinterfragt nicht, urteilt nicht und kennt auch keine Gnade.
Auch wenn ich einen Beruf gewählt und mich der Heilung und Hilfe für kranke Menschen verschreiben wollte, dachte ich nicht, dass ich damit wie selbstverständlich immer gegen den Tod ankämpfen würde. Es war vielmehr ein Arrangement und nicht selten war der Tod früher oder später der Bevorteilte. Wer konnte schon wissen, ob mich diese Ansichtsweise zu einem besseren oder schlechteren Arzt gemacht hätte.
In jener Stunde war ich noch gar keiner, sondern der Enkel, der den Tod seiner Großmutter realisierte.
***
Zu ihrer Beerdigung am folgenden Freitag, kamen einige Trauernde auch aus den Nachbargemeinden rings um Althernau. Dass sie beliebt war, wussten wir, doch die Anzahl der Trauergäste, die sich auf dem einzigen Friedhof der Nachbarschaft eingefunden hatte, war beachtlich.
Die liebevollen Beileidsbekundungen an meine Eltern und mich nahmen scheinbar keine Ende. Schließlich erbarmte sich Pit meiner und zog mich an der Schulter zu sich. Sein Arm, obwohl er etwas kleiner war als ich, ruhte auf meinen Schultern. Auf der anderen Seite hakte sich Miranda bei mir unter.
«Es tut mir so leid Linus», sagte sie mit gesenktem Kopf und belegter Stimme. Letzteres war nicht typisch für sie. Obwohl ich nur mit einem Nicken antwortete, wagte sie dennoch einen Blick zu mir und ihre schmalen Augen schienen durch mich hindurch schauen zu wollen, doch sie konnten es nicht. Ihre Asiatische Abstammung war unverkennbar, obwohl ihre Mutter Deutsche ist. Miranda sah genau so aus wie ihr Vater und hatte das Temperament ihrer Mutter.
«Kommst Du mit zu uns?», fragte Pit während wir bereits den Parkplatz erreicht hatten.
«Fürchte ich muss nochmal in die Höhle des Löwen», sagte ich und versuchte lustig zu sein, doch beide sahen mich nur betroffen an. «Hey, es ist gut. Es geht mir gut!», fügte ich schnell hinzu. Ganz gelogen war es nicht. Es ging mir wirklich gut. So richtig schien sie gar nicht weg zu sein.
«Du kannst auch wieder auf die Couch», sagte Miranda und stieß mich an den Arm.
«Ich weiß, vielleicht komm ich drauf zurück», sagte ich und lächelte unschlüssig.
Einige der Trauergäste verließen bereits den Friedhof und machten sich auf den Weg zu meinen Eltern. Meine Mutter hatte einen Caterer engagiert, der den Totenschmaus bereits auf langen Buffettischen im Garten unter einem Pavillon angerichtet hatte. Zwischendurch glaubte ich auf einem Familienfest oder einer Hochzeit zu sein. Wie man gute Gastgeberin war, wusste meine Mutter unangezweifelt.
«Dann kannst Du auch Deine Kiste mitnehmen», rief mit Pit über die Schulter zu. Er öffnete Miranda die Beifahrertür seines alten Fiestas und ich fischte nach meinen Autoschlüssel.
«Welche Kiste?», rief ich zurück, doch Pit hatte bereits den Motor angelassen und dessen lautes Röhren übertönte einem selbst die eigenen Gedanken.
Die meisten Gäste hielten sich dezent zurück und beschränkten die Konversation auf das Nötigste und darum war ich ihnen nicht böse. Als nur noch der harte Kern übrig war, Frau Krämer-Lavendel eingeschlossen, ging ich rüber zu Pit in die Backstube. Er hatte den Laden bereits geschlossen als ich ankam, doch der Duft von frischem Brot und Kuchen durchströmte das ganze Haus noch immer.
«Nimmst Du den Duft noch immer wahr?», wollte ich wissen, als ich die Treppe zum Wohnzimmer hoch stieg. Pit grinste.
«Jeden einzelnen Tag mein Lieber» und klopfte sich auf den Bauch. «War's noch schlimm? Oder haben Dich die Geier in Ruhe gelassen?», fragte er scherzhaft.
«Sie haben sich netterweise auf meine Eltern konzentriert.»
«Immerhin.»
«Wolltet ihr nicht doch noch rüber kommen? Das Buffet war mal wieder viel zu üppig.» Pit holte Luft und wollte ansetzen doch ich nahm ihm die Worte aus dem Mund. «Ja ich weiß schon, sonst hätte das Ganze für mich nie ein Ende genommen.»
«Richtig», sagte Pit in einem feierlichen Ton und holte zwei Bier aus dem Kühlschrank.
«Und während Miranda noch in der Badewanne liegt, stoßen wir zwei beide mal auf Omi an.» Die Kronkorken fielen klirrend auf den Tisch. Pit hob seine Flasche. «Auf unsere Omi! Die viel zu früh von uns gegangen ist. Möge Sie in Frieden Ruhen!»
«Möge sie in Frieden ruhen», wiederholte ich und wir tranken beide die halbe Flasche in einem Zug aus.
Etwa vier oder auch fünf Flaschen und eine zu Bett gegangene Miranda später fanden wir uns in alten Kindheitserinnerungen wieder. Während sich Pit auf einem Sitzsack aalte, lag ich halb auf meiner grünen Couch.
In einem Sommer, als wir etwa fünf oder sechs Jahre alt waren, war unser Großmutter, zum Leidwesen meiner Mutter, auf die grandiose Idee gekommen, die Rutsche im Garten einzuseifen und ans Ende das Planschbecken zu stellen. Wir flutschten wie Zäpfchen die Rutsche hinunter uns ruinierten den Rasen mit Seifenlauge. Wenn ich mich recht erinnere, hat er ein ganzes Jahr gebraucht um sich zu regenerieren. Mochte auch sein, dass meine Mutter einen Gärtner beauftragt hatte, um das braune Stück durch neuen Rollrasen zu ersetzen.
Umso sicher war ich mir jetzt, dass unsere Oma tatsächlich Tod war und noch eh ich den nächsten Gedanken zu Ende bringen konnte, stieß Pit mich vors Schienbein.
«Au», protestierte ich.
Pit holte eine zweites Mal aus und ich zog schnell mein Bein weg. Im nüchternen Zustand wäre das sicher nicht mal als Reaktion durchgegangen.
Anstatt mich zu treten, schob er mit dem Fuß einen Karton unter dem Tisch hervor. Er sah wahrlich nicht so aus wie von einem Versandhandel.
Der Karton war gänzlich Schmucklos, keine Aufdrucke, keine Aufkleber. Zusammengehalten wurde er nicht mit Paketband sondern grauer Kordel, mehrfach verknotet. Er war etwas wellig und hatte statt einer braunen Farbe einen Grauton angenommen.
Er als ich mich direkt über den Karton beugte, der etwa die Größe eines alten Röhrenmonitors hatte, konnte ich die krakeligen Buchstaben sehen, die mit einem schwarzen Stift auf die Oberseite geschrieben worden waren. Dort stand lediglich mein Name: Linus. Sonst nichts. Kein Paketaufkleber, kein Zustellbezirk, den die Zusteller gerne auf die Seite schreiben.
Obwohl ich angetrunken war, wusste ich sofort, dass er nicht mir gehörte.
«Mag sein», nuschelte Pit. «Aber es steht Dein Name drauf.»
Mehr als die eine Augenbraue hoch zu ziehen brachte ich nicht zustande und ließ mich wieder rückwärts auf die Couch gleiten.
«Hast Du noch Bier da?»
Nach zwei weiteren Flaschen, und etlichen Kindheitserinnerungen später wollte Pit es aber doch genauer wissen.
«Mach doch mal auf», forderte er lallend und stieß mit dem Fuß wieder gegen den Karton.
«Vielleicht sinds nur alte Sachen.» Alt sah der Karton zwar aus, doch ich konnte mich nicht entsinnen ihn je gesehen zu haben.
Also begann ich an dem oberen Knoten zu nesteln und hob der Karton an selbigen hoch.
«Schwer isser ja nicht», nuschelte ich merklich. «Kann nicht mehr viel drin sein», schloss ich demnach scharfsinnig.
Die Knoten verlangten mir an Höchstmaß an Konzentration und Fingerfertigkeit ab. Beides war mir mit meinem Alkoholpegel jedoch fast vollkommen abhanden gekommen.
Die Deckel des Kartons waren nicht verklebt und klappten leichtgängig nach oben. Der Inhalt war beige. Vielleicht war es irgendwann mal weiß gewesen, doch nun war der Stoff, welcher den eigentlichen Inhalt umhüllte, eher ein Ocker oder Eierschalenbeige. In meinem Kopf begann alles zu schaukeln und es dreht sich nerviger Weise alles nach links. Umso bemühter war ich, das Bündel, welches ebenfalls mit der grauen Kordel verschnürt war, vorsichtig auf den Tisch zu stellen. Doch diesmal gab das Bündel eine quadratische Form frei. Diesmal wollte Pit nicht warten, eh die Knoten der Kordel in mühsamer Kleinarbeit aufgeknüpft hatte, sondern reichte mir eine Schere. Erleichtert griff ich danach und entfernte anschließend auch die Eierschalenhülle. Was uns jedoch dann gegenüber stand, damit hatten wir nicht gerechnet. Genau genommen, konnte ich gar nicht sagen, was genau ich denn erwartet hatte, aber mit Sicherheit etwas, was einen vertrauteren Eindruck gemacht hätte. Einen Gegenstand, den man schon mal gesehen hat, den man vielleicht schon mal benutzt hat. Was allerdings vor uns auf dem Tisch stand, ließ uns beide verstummt dasitzen und es anstarren. Das schwarze Kästchen, etwa in der Größe eines Schuhkartons, nur tatsächlich quadratisch, mache zunächst einen unspektakulären Eindruck auf mich. Was mich noch mehr verwirrte. Die glatte Oberfläche reflektierte schwach die Beleuchtung in der Wohnküche. Vielleicht hatte ich auch erwartet einen alten Gegenstand auszuwickeln, doch die Erscheinung des Kästchens war eher neuwertig. Pit zog die Stirn kraus und hing mit dem Gesicht unmittelbar vor der Kästchen, auf der gegenüberliegenden Seite.
«Was soll das sein?», fragte er und das war die beste Frage überhaupt. «Eine Dose? Aber was tut man da rein, das Loch ist nicht sehr groß und einen Deckel scheint es auch nicht zu geben, obwohl...», doch ich unterbrach ihn.
«Ein Loch?» fragte ich benommen?
Anstatt das Kästchen umzudrehen, stand ich auf. Wackelig, aber es ging und kniete mich auf Pits Seite vor den Tisch.
Ich musste feststellen, dass ich scheinbar auf die Rückseite oder Unterseite geschaut hatte, mit deren glatten Oberfläche. Die Pit zugewandte Seite hatte tatsächlich eine Öffnung. Maximal Grapefruit Groß, darum schloss ich eine Obstschale vorerst für mich aus.
«Und was ist das? Deko? Das macht das Loch aber doch noch kleiner. Wie unpraktisch!», sagte Pit enttäuscht.
Tatsächlich waren noch drei Ringe um die Öffnung herum angebracht. Sie schimmerten goldgelb, vielleicht ein wenig angelaufen und blass an manchen Stellen. Doch es waren drei Ringe, jeweils vielleicht breit wie ein Bleistift. Darauf waren Symbole, die ich nicht kannte. Extrem kleine, verschwommene Symbole, die ich auch mit zusammengekniffenen Augen nicht erkennen, geschweige denn deuten konnte. Nun hockte ich vor dem Kästchen wie zuvor Pit und starrte es an.
«Und?», fragte Pit. Ich zuckte nur mit den Schultern.
Ich stellte unser Fundstück so hin, dass die Öffnung nun nach oben zeigte. Alle anderen Seiten waren so, wie die Rückseite, die ich von der anderen Tischseite bereits bestaunt hatte. Glatt und schwarz. Mit beiden Händen fuhr in an den Seiten entlang, doch auch mein Tastsinn hatte unter dem Alkoholgenuss gelitten, denn ich konnte ad hoc nicht ausmachen, aus welchem Material das Kästchen war.
«Eine ganz passable Blumenvase wäre es ja», lallte Pit und ihm fielen schon merklich die Augen zu.
«Dann versuchen wir morgen, ob es wasserdicht ist», lallte ich zurück und kam kaum mehr auf die Füße.
«Feierabend!», verkündete ich und ließ mich mit einem Seufzer auf mein grünes Sofa fallen. Wie Pit ins Bett verschwand, die Nacht vorüber ging und das Kästchen seinen Standort änderte, bekam ich alles nicht mehr mit. Wohlig befand ich mich in einem tiefen Schlaf, aus dem ich nur ungern wieder erwachte.
Der Abend mit den Kindheitserinnerungen brachte mich im Traum zurück zu meinem 5. Geburtstag. Vielleicht war es auch der 4. Eifrig riss ich die Pakete auf, das Geschenkpapier flog durch die Luft, segelte sanft zu Boden. Schleifen lagen bereits dort in den buntesten Farben und vermischten sich zu einem bunten Brei. Aber Omi war dort, sie saß auf der Couch und überreichte mir ein weiteres Päckchen, dass ich ebenfalls aufriss. Es war ein kleiner Arztkoffer, mit Fieberthermometer, Pflaster, Blutdruckmessgerät, Stethoskop und Spritze. Er sollte mich die nächsten Jahre noch begleiten.
Noch bevor ich die Augen öffnete und das zarte Sonnenlicht meine Netzhaut streifen konnte, bohrte sich bereits der stechende Schmerz in meine Schläfen. Die Geräusche aus der Backstube und dem Verkaufsraum waren nicht zu überhören, doch ich hörte nur Miranda. Beim genaueren hinhören, lief das Wasser im Badezimmer. Pit hatte sich bereits hoch gequält und ich versuchte auch meinen Oberkörper in die Vertikale zu bewegen. Der Kopf schmerzte und meine Glieder waren schwer, doch kein Zustand, den ich nicht kannte.
Mein verschwommener Blick fiel auf den Tisch. Er war leer. Das Kästchen!, fiel es mir wieder ein. Das Eierschalenlaken war auch weg. Ebenso wie der Karton.
«Miranda hats weggeworfen», krächzte Pit, als er mit Handtuch um die Hüften in die Wohnküche geschlappt kam. Unvermittelt sprang ich auf, ungeachtet der Kopfschmerzen und den Schwindels, der mich überkam.
«Was?», krächzte ich ebenfalls.
«Nur die Verpackung», sagte Pit und gähnte «Miranda meinte das Laken hätte total gestunken. Hab ich aber nicht gerochen. Du?», fragte Pit, während er sich einen Kaffee eingoss.
«Nehm auch einen. Nen doppelten bitte», raunte ich. Wankend machte ich mich auf den Weg zum Küchentisch. Pit goss mir eine Tasse ein und warf der Wanduhr einen flüchtigen Blick zu.
«Schon fast neun. Miranda wird mir den Hals rumdrehen.»
Vorsichtig nippte ich an dem schwarzen Kaffee und spürte allmählich, wie wieder Leben in meinen Körper gelangte.
«Du musst Dein Frühstück unten holen», sagte Pit und verschwand auch sofort wieder im Schlafzimmer, diesmal jedoch schnelleren Schrittes.
«Und lass mich nicht all zu lang mit ihr allein, ok?», flüsterte er und zog sich ein weißes T-Shirt über. Seine nicht mehr weißen Socken standen dazu in einem komischen Kontrast. Seine grünen Boxershorts gab dazu den Rest.
«Wo ist es?», wollte ich noch wissen, während Pit auf der Suche nach einer Hose war. Jedoch ohne entsprechende Bekleidung stand er plötzlich wieder neben mit in der Küche.
«Immerhin nicht in der Spülmaschine. Wo es laut Mira hingehört.»
Ich runzelte nur die Stirn. Offensichtlich hatte der Kaffee noch nicht mein Sprachzentrum erreicht. Ebenfalls wortlos öffnete Pit den Schrank unter dem Waschbecken. Und da stand es. Das schwarze Kästchen mit den goldgelben Ringen. Pit stellte es mir auf den Tisch und nun konnte ich mir die Zeichen auf den Ringen genauer ansehen. Aber so kryptisch wie ich sie in Erinnerung hatte, waren sie gar nicht. Ich war einfach nur zu besoffen gewesen.
Es waren römische Zahlen.
Auf dem äußersten waren die meisten Ziffern.
I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII XIII XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX XXI XXII XXIII XXIV XXV XXVI XXVII XXVIII XXIX XXX XXXI
Auf dem Ring in der Mitte waren es schon weniger.
I II III IV V VI VII VIII IX X
Auf dem äußersten Ring schließlich noch weniger:
M D C X V I
Und mit fortschreitend klarem Blick konnte ich auch erkennen, dass das Kästchen auch nicht leer war. Darin konnte ich eine ebenfalls Gelbgold und angelaufene Kugel erkennen. Beherzt griff ich hinein, doch der Schlag der mich versetzt wurde konnte unmöglich aus einer üblichen elektrischen Aufladung stammen. Kurzzeitig fühlte ich mich, als hätte ich in eine Streckdose gelangt. So schnell wie ich wollte bekam ich meine Hand dann auch nicht mehr aus dem Kästchen heraus, so dass ich es umstieß bei dem Versuch meine Hand so schnell es geht und ohne Brandlöcher zu befreien.
«Was war das denn?» sagte Pit erstaunt. Auf der Schwelle zum Lachen.
Nach kurzer Begutachtung meiner Hand und deren unversehrten Zustand stellte ich das Kästchen wieder aufrecht hin und wir beide beugten uns vorsichtig über die Öffnung.
«Hats Dich etwa gebissen die Kugel?», fragte Pit belustigt.
«Es hat mir auf jeden Fall eine verpasst.»
«Dann greif nochmal rein, jetzt ist es ja wohl entladen. Oder?»
«Eine Kugel wird’s kaum sein. Und es tut weh!», überrascht hielt ich meine Hand hoch, denn der Schmerz hatte tatsächlich zeitverzögert eingesetzt. Das zunächst aufgeschüttete Adrenalin hatte sich verflüchtigt.
«Ich seh doch die Kugel», sagte Pit ungeduldig.
«Sie rollte aber nicht», gab ich zum Besten und schubste den Kasten leicht an. Pit tat es ebenfalls. Anstatt etwas zu sagen kräuselte er nur die Lippen. Wie er es immer tat, wenn er nichts mehr zu sage wusste oder so tat als würde er nachdenken.
«Dann mach ich es», sagte er schließlich und griff ohne weiteres Zögern in das Kästchen. Mir lieb somit überhaupt gar keine Zeit zum Protest. Immerhin bekam er keine verpasst, doch er hatte sich festgebissen.
«Was ist?», fragte ich drängend.
«Geht nicht ab.»
«Hä?»
«Sitzt fest.»
«Wie fest?»
«Na, wie angeschweißt. Aber...», unterbrach er sich selbst und machte wieder die Denkerschnute.
«Pit!», rief ich und umklammerte mittlerweile das Kästchen fest mit beiden Händen.
«Aber ich taste keine Schweißnaht oder so was. Das ist echt gruselig und...», erneut wurde er jäh unterbrochen aber nicht von mir und auch nicht von sich selbst. Das Innere des Kästchens flimmerte leicht blau und mit einem Mal bildete sich auf Pits Arm eine Gänsehaut. Mit Schwung riss er seine Hand heraus.
«Verdammt», rief er und hielt sich selbiges Handgelenk.
Das beinahe unmerkliche Licht, war sogleich wieder erloschen. Ungläubig starrte ich das Kästchen an.
«Da ist doch Strom drauf!», fluchte Pit und tänzelte einmal durch die Küche.
«Lass mal sehn», sagte ich und nickte zu seinem Handgelenk welches er immer noch mit der anderen Hand umschlungen hielt.
«Wird schon keine Brandwunde sein. Das Ding hat nicht mal einen Stromanschluss.»
Pit streckte mir seine Hand hin und für den nächsten Moment war ich nicht sicher ob ich wachte oder schlief, oder ob ich noch vollkommen dem Suff erlegen war. Für noch wenige Sekunden gab Pits Handgelenk ein winzig schwaches bläuliches Licht, wie ein Armband, ab. Und hätte ich nicht die Gewissheit gehabt noch genügen Restalkohol im Blut zu haben um nicht Auto fahren zu sollen, dann hätte ich dort an seinem Handgelenk kleine römische Ziffern gesehen, die sich vor meinen Augen in Luft auflösten. Im selben Augenblick spürte ich eine aufkeimende Übelkeit.
«Da ist nichts», stellte ich wahrheitsgemäß und ernüchternd fest, lehnte mich zurück und rieb mir mit beiden Händen durchs Gesicht, über den Kopf und den Nacken.
«Jetzt bin ich aber angepisst», grummelte Pit und griff erneut nach dem Kästchen, doch eh er es zu fassen bekam, oder vielmehr das, was sich darin befand, riss ich es ein Stück zu mir und steckte selbst die Hand erneut rein. Pit hatte vollkommen recht. Die Kugel war da, man konnte sie von allen Seiten befühlen, vielleicht Tennisball groß, glatt und kühl. Und sie schien an keiner Stelle mit dem Kästchen verbunden zu sein. Ich glaubte fest an eine Täuschung meiner vernebelten Sinne, doch was ich fühlte, war Wirklichkeit. Genaugenommen das, was ich eben nicht fühlte. Jenes vermisste Gefühl wurde so schnell durch die Kälte ersetzte, die mich plötzlich durchfuhr, dass ich kaum nach Luft schnappen konnte. Zeitgleich konnte ich nicht mehr beurteilen ob die Kugel entsprechend eiskalt oder siedend heiß geworden war.
Pit rief mir irgend etwas zu, ich konnte seine Lippen sehen, doch ihre Laute verpufften einfach, noch bevor sie mein Trommelfell erreichten. Kurzum versuchte ich mich mit zwischen einem ausgewachsenen Gefrierbrand, oder eben doch einem ordinären Stromschlag zu entscheiden, als mich völlig das rasend kalte Gefühl einnahm, wie wenn ich meinen Kopf aus einem fahrenden ICE hielte. Doch statt vorbei rasender Landschaft sah ich rein gar nichts. Eine Achterbahnfahrt in nur zwei Sekunden, so scharf und mitreißend wie es nicht die schnellste Achterbahn der Welt vermocht hätte. Es blieb mir nur schützend die Hände vor mein Gesicht zu halten.