Читать книгу Flügelschatten - Carolin Herrmann - Страница 10

4

Оглавление

Tief atme ich die frische Luft ein. Der Wind streicht mir in einer sanften Brise um die Nase, das Gras kitzelt an meinen Füßen und ich höre einige Vögel entfernt in den hohen Baumwipfeln zwitschern. Es ist einer dieser Tage, wie ich sie liebe. Ein wenig kühl, etwas frisch, trotzdem nicht kalt. Er sprüht nur so vor Leben. Das weiche Gras duftet leicht und ich seufze wohlig. Viel Zeit ist seit dem Tag vergangen, an dem ich orientierungslos hier aufgewacht bin, wie viel, das weiß ich gar nicht genau. Die Tage verschwimmen ineinander und ich kann sie nicht mehr voneinander unterscheiden, versinke in der Wildnis des Waldes.

Was ich weiß, ist, dass ich bisher meine Erinnerungen noch nicht wiedergefunden habe. Da ist diese gähnende Leere in meinem Kopf, tiefste Finsternis, die sich endlos weit erstreckt, und ich weiß nicht, ob ich in sie abgetaucht bin und alles, was vor ihr war, verloren habe, oder ob ich aus ihr entstanden bin und es vorher nichts gab.

Wie ich es auch drehe und wende, der Wald ist alles, was ich habe.

Ich krieche zu dem Abhang. Verdeckt von den hohen Gräsern kauere ich da und sehe hinunter auf die Häuser, die ich seither meide, auch wenn sie von hier ungefährlich wirken. Ich fühle mich sicherer, wenn ich sie beobachte, wenn ich sie im Auge behalte und nicht etwa überraschend von den Menschen angegriffen werden kann.

Von hier oben sind sie bloß kleine Punkte, die geschäftig hin und her eilen. Ich schüttle den Kopf und robbe wieder zurück. Menschen werde ich nie verstehen. Wenngleich ich mir geschworen habe, mich von ihnen fernzuhalten, habe ich dennoch einen entscheidenden Vorteil an ihnen entdeckt. Etwas, das ich mir durchaus zunutze machen kann. Wenn ich weiß wie.

Die Glocken beginnen zu läuten.

Neun Mal.

Es ist Zeit, sich um ein Frühstück zu kümmern.

Mit einem feinen Lächeln springe ich auf und folge meinem Weg durch den Wald. Gespannt spähe ich um den Baumstamm herum, hinter dem ich mich versteckt habe. Entschlossen umklammere ich meine provisorische Waffe, einen kurzen Ast, an den ich einen scharf geschliffenen Stein gebunden habe, fester. Ich trage sie bei diesen Ausflügen stets bei mir, trotz dass ich nicht gern mit ihr kämpfe. Meine Hände sind mir viel lieber als dieses seltsame Gewicht.

Doch für das, was ich vorhabe, ist ihre Nützlichkeit nicht zu leugnen.

Wieder blicke ich um den Stamm herum und beobachte den kleinen, schmalen Trampelpfad, der durch den Wald führt.

Ich habe ihn zuerst nicht bemerkt, erst als ich ein weiteres Mal nach meinem Ausflug in das Dorf menschliche Stimmen zwischen den Bäumen wahrnahm, bin ich sofort aufgesprungen, um nachzusehen, was vor sich ging. Dabei habe ich entdeckt, dass die Gestalten, denen ich damals gefolgt bin, in regelmäßigen Abständen diesen Weg benutzen.

Es sind Händler, die in das Dorf gehen und ihre Waren anpreisen. Dann kommen sie mit ihren Wagen voller Sachen und passieren in einer langen Reihe den Pfad. Zwischen den Händlern ist oft viel Abstand und da der Weg viele Kurven macht, ist es für mich ein Leichtes, unbemerkt ein paar Dinge zu stibitzen.

Ungeachtet dessen, dass ihr Geschmack sich natürlich nicht mit der Explosion vergleichen lässt, die frisches Tierblut in mir auslöst, schmecken die Lebensmittel, die die Menschen in das Dorf bringen, manchmal besser als die Beeren und Kräuter, die ich hier sammeln muss. Gerade wenn meine Vorräte zur Neige gehen und ich der Wurzeln überdrüssig werde, freue ich mich umso mehr auf einen Raubzug.

Sie sind Händler, sie verkaufen Sachen. Ich brauche Sachen. Darüber hinaus bereitet es mir in gewisser Hinsicht Freude, ihnen aufzulauern – es ist wenigstens eine spannende Abwechslung zu meinen recht öden Tagen.

Ich schnuppere und horche sorgfältig. Mein Gehör habe ich in der Zeit im Wald weiter geschult, sodass ich selbst das Rascheln einer Maus in großer Entfernung wahrnehme. Ich wende meine Aufmerksamkeit dem Weg zu, denn ich höre Hufgetrappel nahen. Und Hufgetrappel bedeutet Essen!

Ich schließe kurz die Augen und verbanne jeden Gedanken, der nicht mit meiner Mission zu tun hat, aus meinem Kopf. Jetzt ist es wichtig, bei der Sache zu sein und sich nicht ablenken zu lassen. Schon eine kleine falsche Bewegung könnte alles zunichtemachen. Gespannt horche ich und als der Händler genau hinter meinem Baum ist, springe ich auf den Weg. Wie eine Raubkatze hocke ich da und erfasse blitzschnell die Lage. All diese Bewegungen sind mir so vertraut. Ich laufe hinter dem Planwagen her. Auf dem Kutschbock sitzt ein Mann mit einem karierten Hut und singt vor sich hin. Für einen Augenblick bin ich ein wenig aus dem Konzept gebracht. Ich kann einfach nicht anders, ich muss zuhören. Ich wüsste nicht, wann ich jemals jemanden hätte singen hören – von Vögeln abgesehen. Es ist kein besonders schöner Gesang und kein besonders schwieriges Lied, aber gerade die Einfachheit der Melodie und die beschwingte Stimmung der Töne lösen ein warmes Gefühl in mir aus:

Königin mit eisigem Gesicht

Augen aus Glas, kennst du sie nicht?

Ihr Garten voll Blumen wunderschön,

werden doch das Licht nie seh’n.

Unwirsch straffe ich meine Schultern und schimpfe mit mir selbst. Ich muss mich ranhalten! Leichtfüßig springe ich auf den Planwagen und wage mich in sein Inneres. Die rauen Seile, die durch die Haken geschlungen und mit Knoten versehen wurden, sind schnell gelöst, vor allem, weil ich inzwischen recht geübt darin bin. In Windeseile durchsuche ich die Säcke und Kisten. Offensichtlich ein Gemüsehändler, ich finde Karotten, Krupferl und Salatköpfe. Sogar Jorze sind dabei! Rasch stopfe ich in meinen leeren Beutel, den ich zu Beutezügen mitnehme, seit ich ihn bei meinem ersten ergattern konnte, reichlich Sachen, bis er zum Rand gefüllt und sein Gewicht an meiner Hüfte schon fast hinderlich ist. Geschickt verschließe ich die Kisten wieder und springe vom Wagen.

»Hey! Was hast du hier zu suchen?«

Der Händler hat sich zu mir umgedreht, er hält an und steigt vom Kutschbock herunter. Sein Blick huscht zu dem Beutel an meiner Seite und seine Augen werden groß, als er begreift.

»Hast du … na warte! Dir werde ich Beine machen!«, schnaubt er und festgefroren, wie ich vor lauter Schreck bin, reagiere ich zu langsam, als er einen groben Knüppel nach mir wirft, der mich beinahe am Kopf erwischt. Erschrocken wirbele ich nun endlich herum und hetze davon. Die stampfenden Schritte verraten mir, dass er mir folgt, und ich stürme auf die Bäume zu, ehe ich ein Surren in der Luft höre und sich etwas um mein Bein schlingt. Ich gerate sofort ins Straucheln, stürze zu Boden, wo ich mich winde und davonkrabbeln will. Der Mann kommt auf mich zu, das andere Ende des rauen Seils in der Hand, in das er offensichtlich eine Schlinge geknüpft und nach mir geworfen hat. Der Blick aus seinen grauen Augen ist wütend, die große Nase in seinem Gesicht zuckt angespannt.

Dennoch erkenne ich etwas anderes in seinem Ausdruck. Verwunderung. Als er näher kommt und mich genauer in Augenschein nehmen kann, verwirren ihn die großen Flügel und meine glühenden Iriden offenbar. Ich weiche weiter vor ihm zurück, mein Herz droht mir die Brust zu sprengen.

»Was um alles in der Welt …«, stößt der Händler hervor und blinzelt heftig. Ich nutze den Moment und reiße mein Bein zurück, sodass er vorwärts stolpert. Ruckartig schnelle ich hoch, meine Faust trifft ihn in die Magengrube und ich befreie mein Bein aus der Schlinge, als er stöhnend in die Knie geht und das Seil nicht mehr fest umfassen kann. Ein Tritt gegen seine Schulter, er taumelt und fällt zu Boden, da drehe ich mich bereits um, schnappe mir meine Beute und presse sie an mich, sprinte davon, ohne einen weiteren Blick nach hinten zu wagen. Schneller und schneller tragen mich meine Beine über Wurzeln und Senken hinweg, und wenngleich der Händler mir nicht folgt, spüre ich dennoch unaufhörlich seinen starren Blick. Einen Blick, der mir eine eisige Gänsehaut über den Rücken kriechen lässt.

Als er mich sah, war er zunächst wütend, dann veränderte sich sein Blick von Skepsis zu einem Ausdruck von Gier. Einer Gier, die mir wahrhaftig Angst eingejagt hat, als wäre ich nur ein bloßes Werkzeug, eine außergewöhnliche Pflanze, die er unbedingt näher betrachten wollte. Ich schüttele mich, um die Erinnerung zu vertreiben, wenngleich sie sich tief in mein Gedächtnis gebrannt hat. Meine nervös flatternden Augenlider lassen sich kaum beruhigen und ich bebe am ganzen Körper. Mit meiner Beute unter dem Arm laufe ich zurück zum Abhang, um dort zu verschnaufen. Hierher kommen die Menschen nicht. Für gewöhnlich.

Unsicher luge ich zwischen den Zweigen der Bäume hindurch, um zu sehen, ob er mir gefolgt ist, aber keine Spur von ihm. Hören müsste ich die Menschen schon von Weitem – sie bewegen sich ungeschickt und schwerfällig, krachen mit ihren Schritten durch das Unterholz und sind unvorsichtig. Zumal ich mich besser in diesem Wald auskenne und mich auch viel leiser bewegen kann. Er muss meine Spur rasch verloren haben.

Hoffe ich. Was, wenn er nach mir sucht? Wenn sie neue Wege zwischen den Bäumen anlegen, um sie mit ihren Karren entlangzufahren und sie diejenigen sind, die mich vertreiben? Ich will diesen Wald nicht verlassen, ich kann ihn nicht verlassen!

Mit einem tiefen Seufzer lege ich den Kopf auf meine Knie, und ohne es richtig zu merken, beginne ich leise zu wimmern. Ich weiß selbst nicht genau weshalb, vielleicht, weil der Schock tief in meinen Gliedern sitzt, vielleicht, weil ich mich weiterhin an nichts erinnern kann, vielleicht, weil ich ein einsames, sinnloses Leben führe. Vielleicht auch, weil mir der Blick des Mannes, dieser wissenshungrige und auch entsetzte, geschockte Blick seltsam bekannt vorkam. Ich habe das Gefühl, ihn schon oft auf mir gespürt zu haben.

Entnervt greife ich nach den saftigen dunkelroten Früchten, den Jorze. Hungrig bin ich schließlich immer noch und bisher ist mir niemand hinterhergekommen, deshalb sollte ich mich wohl beruhigen. Also beiße ich hinein und genieße den Geschmack auf der Zunge. Lediglich kurz, denn irgendwie … ich weiß auch nicht. Irgendwie hatte ich ihn besser in Erinnerung. Irgendwie habe ich den Geschmack von allem besser in Erinnerung, wenn ich gerade Blut gekostet habe. Damit lässt sich einfach nichts vergleichen …

Ich rappele mich auf und mache mich auf den Weg, um meine restliche Beute in Sicherheit zu bringen. Zielstrebig husche ich durch das Unterholz, überquere den Fluss und schleiche tiefer in den Wald hinein. Hier, wo die Bäume dichter zusammenstehen und nur vereinzelt Sonnenstrahlen durch das Dach dringen, habe ich mir mein Quartier errichtet. Es ist ein uralter Baum, knorrig, mit einem breiten Stamm und mächtiger Krone. Hoch oben habe ich vereinzelte Bretter quer über Äste gelegt und auf diese Weise eine Plattform errichtet. Blitzschnell klettere ich den Stamm empor, mit meinen Füßen finde ich genau die richtigen Vertiefungen in der Rinde, meine Hände halten sich schon fast von selbst an den Ästen fest und ich ziehe mich daran hoch.

In meinem Versteck, gut getarnt durch das undurchdringliche Geäst und die schützenden Blätter, angekommen, verstaue ich meine Beute sorgfältig. Hier oben habe ich einige Körbe aufgehängt, die mir als Vorratsbehälter dienen, Kräuter hängen zum Trocknen an Zweigen, ein leicht zerfetzter Umhang dient mir als Decke und ein luftiges Tuch verdeckt die kleine Holzkiste mit meinen größten Kostbar­keiten. Zufrieden lasse ich mich auf einem dicken Ast nieder und hole sie hervor, klappe vorsichtig den Deckel auf und betrachte meine wundersamen Funde. Einst war auch ein Spiegel darunter, den ich jedoch weggeworfen habe. Ich sehe mich nicht gern an. Dann denke ich nur wieder an den Albtraum, den ich vor langer Zeit hatte, der, in dem meine Augen sich dunkelrot verfärbten.

Als ich den Spiegel im Fluss versenkte, habe ich die flachen, abgerundeten Steine mit dem seltsamen Muster gefunden, die im Licht ein wenig schimmern. Sie liegen ganz unten in der Kiste, gleich neben den Glasprismen aus dem Dorf. Ich streiche über die Feder, die einem Vogel mal aus dem Nest gefallen ist, fahre über raue Tannenzapfen und nehme zum Schluss die hübsche Brosche in die Hand, die ich vor einiger Zeit habe mitgehen lassen. Sie war einfach zu schön, um sie einem dieser Menschen in die Hände fallen zu lassen. Ich glaube, sie soll eine Rose darstellen, deren Blätter vergoldet sind. Behutsam lege ich sie zurück und wickle die Kiste wieder in das Tuch ein. Sie hat ein verrostetes Schloss, leider besitze ich keinen passenden Schlüssel dazu. Dennoch macht allein das Wissen darum sie noch besonderer. Es gefällt mir, die Dinge zu verstecken und von Zeit zu Zeit verträumt zu betrachten und mir Geschichten zu ihnen auszudenken. Wie der Vogel gerade fliegen lernte, als er seine Feder verlor, oder dass die Steine Wünsche erfüllen können und eigentlich einmal Sterne waren, die vom Himmel gefallen sind.

Ich springe von meinem hohen Sitz und lande leichtfüßig im Gras, das meinen Aufprall dämpft. Dann laufe ich zum Wasser, um die Netze zu kontrollieren, die ich ausgeworfen habe, um damit Fische zu fangen.

Die Sonne geht schon als ein glühender Ball am Horizont unter, als ich mit einem reichen Fang zurückkehre. Diesmal ist nur ein Netz von der Strömung mitgerissen worden, das zweite ist zwischen den Steinen hängen geblieben, so wie ich es wollte, und hat mir tatsächlich drei Goldschwimmer beschert. Besser gelaunt mache ich mich auf den Rückweg, nage die Fische ab und vergrabe die Gräten. Satt und zufrieden mache ich es mir zum Schlafen gemütlich. Unruhig wälze ich mich jedoch hin und her. Ich kann es nicht genau erklären, dieses dumpfe Gefühl in meiner Magengegend, eine ungute Vorahnung. Etwas macht mir Angst.

Große Angst.

Flügelschatten

Подняться наверх