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Der Weg führt mich wie jeden Morgen zum Fluss, der sich in einem langen, glitzernden Band durch den gesamten Wald zieht. Ich finde ihn früher oder später und es belustigt mich, sein steiniges Ufer stets an einer anderen Stelle zu erreichen. Grüne Wasserpflanzen ragen aus den Einbuchtungen hervor und die Kiesel an seinem Grund blitzen im Sonnenlicht. Ich klettere flink von einem großen flachen Stein zum anderen, gebückt, wie ich es mir bei einigen Tieren abgeschaut habe. Meine nackten Zehen finden Halt in den Ritzen und ich bewege mich bis zur Mitte vor. Lächelnd beobachte ich die Fische, die durch das Wasser schießen. Ihre silbrigen Schuppen schimmern wie ein Kettenhemd.

Kurz stutze ich über meine eigenen Gedanken – Kettenhemd? Wo kommt dieser Begriff her? Ich kenne ihn und dennoch kann ich mir das Bild dazu kaum ins Gedächtnis rufen. Eine Weile betrachte ich sie, meine Blicke flackern unruhig hin und her, dann schnelle ich mit meinem Arm vor und erlege einen zarten Goldschwimmer. Nach wenigen Versuchen habe ich genug gefangen, dass es für einige Mahlzeiten reichen wird.

Ich habe versucht, mich dagegen zu wehren, doch seitdem ich erstmals vom Blut des Fuchses getrunken habe, reichen mir die Wurzeln im Uferschlick oder die Kräuter und Strauchbeeren nicht mehr. Sie schaffen es zwar für eine gewisse Zeit, die Leere in meinem Magen zu füllen, aber es vergehen nur wenige Tage, bis ich wieder spüre, dass mein Verlangen damit nicht gestillt ist. Als ich es das erste Mal nach dem Vorfall mit dem Fuchs zu ignorieren versuchte, konnte ich regelrecht fühlen, wie ich schwächer wurde, und aus Angst, wieder die Kontrolle über mich zu verlieren, begann ich, in regelmäßigen Abständen Tiere zu erlegen.

Das zweite Mal Blut zu trinken war nicht minder unglaublich, indes konnte ich mich besser beherrschen. Ich zerfleischte mein Opfer nicht völlig und ich konnte mich gänzlich an die Tat erinnern. Keine gute Tat, das spüre ich. Habe ich eine Wahl? Vielleicht sind alle Wesen wie ich so. Und schließlich wollten auch die Feuerraben den Fuchs fressen. Es fühlte sich besser an und nachdem ich von dem Blut gekostet hatte, spürte ich förmlich, wie Energie durch mich hindurchjagte, und meine Laune besserte sich augenblicklich, deshalb bleibe ich nun dabei.

Gerade als ich die Fische bis auf ihre Gräten abgenagt habe und mir mit dem Handrücken über den Mund wische, dringen mit einem Mal seltsame Geräusche an mein Ohr. Ich stutze.

Ein Getrappel wie von Hufen und das Rascheln von Kleidern, ein Klappern, ein Klopfen … Ich springe sofort auf und laufe darauf zu. Zu meiner Verwirrung muss ich ein ganzes Stück durch den Wald rennen, ehe ich Bewegungen zwischen den Bäumen erahnen kann, dabei waren die Laute klar und deutlich, als kämen sie aus nächster Nähe.

Blitzschnell erklimme ich einen Baum und erreiche seine höchsten Äste. Aufmerksam spähe ich über die hohen Kronen. Da, Gestalten, die zwischen den mächtigen Stämmen umherwandern. Sie haben Karren bei sich. Karren und Wagen, gezogen von Pferden.

Lauernd folge ich den Wandernden und sehe nach Westen. Dort erkenne ich in einiger Entfernung rote, riesige Mützen. Von ihnen dringt ein merkwürdiger Lärm zu mir herüber, den ich nicht so recht einordnen kann. Was mag dort wohl sein? Könnte es vielleicht sein … Ich verschwinde wieder im Geäst und springe von einem der niedrigeren Äste, lande leichtfüßig auf dem weichen Waldboden.

Neugierig folge ich den Geräuschen.

In ausreichendem Abstand schleiche ich hinter den Gestalten her, verberge mich im Unterholz und halte nach ihnen Ausschau, ehe ich ihnen weiter lautlos nachlaufe. Plötzlich stehen die schützenden Bäume weiter auseinander, das Gestrüpp lichtet sich und ich merke, wie es heller wird. Ich nähere mich einer Lichtung. Einer riesigen Lichtung.

Abrupt halte ich inne. Die Gestalten laufen unbeirrt weiter und verlassen das Dickicht des Waldes, treten hinaus in das Licht. Ich blicke mich nervös um, spähe zurück in die grüne Dunkelheit, die mir vertraut ist. Noch nie habe ich mich weit genug vorgewagt, dass ich diesen Ort entdecken konnte. Schüchtern trete ich an den leichten Abhang heran und kann von ihm aus auf die kleinen Gebäude weiter unten blicken.

Sie sind aus Stein und Holz gefertigt, mit strohgedeckten Dächern und Fenstern, durch die man hineinblicken kann, und sie sehen groß und massiv aus. Bunte Punkte bewegen sich zwischen ihnen hin und her, ein kreisrunder Platz in ihrer Mitte muss wohl etwas wie das Zentrum zu sein, nach dem sich alles richtet. Er fällt mir sofort auf, ein freier Fleck inmitten des Häusermeeres, und dorthin strömen alle Gestalten. Auch die, denen ich bis hierher gefolgt bin.

Vorsichtig schleiche ich näher und beginne, den Abhang hinunter­zuklettern. Was mag das wohl sein?

Der seltsame Ort ist auf allen Seiten vom Wald umgeben, der im Norden und Osten längst nicht mehr so dicht und wild ist, wie ich es gewohnt bin. Er scheint in unmittelbarer Entfernung ein Ende zu nehmen. Das verunsichert mich. Ich habe den Wald noch nie verlassen …

Deshalb fühle ich mich auch seltsam nackt, als ich mich den Gebäuden nähere. Wo kann ich mich verstecken?

Im Schutze eines Hauses wage ich mich weiter heran, drücke mich eng an die Wand hinter mir. Meine Blicke huschen wachsam hin und her, so viele Geräusche umgeben mich, so viele neue Sinnesein­drücke, dass ich scharf Luft holen muss. Gedanken rasen mit einer fast schon schmerzhaften Geschwindigkeit durch meinen Kopf, alles ist mir ein wenig zu laut, ein wenig zu grell. Farben brennen in meinen Augen, merkwürdige Stimmen und Laute, die ich nie zuvor gehört habe, erfüllen die Luft.

Mein Herz setzt für einen Moment aus, als ich die Wesen, die über die gepflasterten Straßen wandeln und sich dabei fröhlich unterhalten, entgeistert anstarre. Sie sehen ja aus wie … ich!

Sie haben Beine und zwei Arme und einen Kopf mit langen Haaren. Und diese seidige, schrecklich dünne Haut, die auch mich umgibt. Mir klappt der Mund auf. Andererseits bewegen sie sich ganz anders! Ihr Rücken ist durchgedrückt, sie gehen kerzengerade und aufrecht. Vor allem scheint sich keiner von ihnen durch irgendetwas bedroht zu fühlen, dabei sind es so viele. So viele auf einem Haufen. Wie können sie sich nicht einmal umsehen, wie können sie derartig sorglos dahinschreiten?

Ich drücke meinen Rücken durch und nehme die Schultern zurück, versuche mich ihrer steifen Art anzupassen, falle jedoch schnell wieder in die alte Haltung. Irgendwie fühle ich mich auf diese Weise sicherer.

Der Wald ist groß, unendlich. Es kam mir vor, als wäre er alles, was es auf dieser Welt gibt. Nichts anderes außer grüne Wiesen, Bäume und moosbedeckte Lichtungen. Offensichtlich habe ich mich gewaltig getäuscht.

Geh lieber wieder weg! Das ist nichts für dich! Das sind Menschen!

Menschen. Ich probiere das Wort in meinen Gedanken aus und es kommt mir flüchtig bekannt vor. Bin ich auch ein Mensch? Denn auch wenn sie mir auf den ersten Blick ähneln, entdecke ich beim näheren Hinsehen zahlreiche Unterschiede. Ihre Augen sind anders. Sie leuchten nicht kräftig und dunkel wie meine und auf keinen Fall sind sie violett. Die Menschen reden die ganze Zeit, ihr Gewirr aus Stimmen ist fast schon zu laut für meine sensiblen Ohren und ich nehme Gesprächs­fetzen auf, denen ich keinen rechten Sinn entlocken kann.

»… müssen sicherlich ein Vermögen wert sein!«

»Um Himmels willen, bist du sicher? Ich wusste nicht …«

»Hast du schon gehört, dass die Tochter von …«

»Oh, guten Tag, ich hatte nicht mit Ihnen gerechnet! Wollen Sie …«

Ich schaffe es kaum, mich auf eine Sache zu konzentrieren, schon ist da etwas Neues, das mich ablenkt. Das Leben der Menschen ist bunt und hektisch, sie eilen gehetzt über das Pflaster, haben kaum Zeit. Alle sind in Aufruhr, alle sind in Bewegung.

Gleichzeitig faszinieren sie mich. Sie sind so … anders.

Ich schleiche um das Haus herum und finde mich auf einer belebten Straße wieder. Lachend laufen Kinder an mir vorbei, aus den Fenstern blicken Gesichter, an Leinen, die von Dachfirst zu Dachfirst gespannt sind, hängen bunte Kleidungsstücke. Karren werden an mir vorbeigerollt, laute Stimmen rufen einander etwas zu, die Menschen winken. Ich drehe mich im Kreis, versuche alles in mir aufzunehmen, all die neuen Dinge.

Ein Netz aus staubigen Straßen windet sich durch das Dorf, die kleinen Häuser aus Sandstein mit den hohen Schornsteinen und grünen Fensterläden stehen dicht gedrängt aneinander, Blumen blühen vor den Fenstern, ein verführerischer Duft dringt aus dem Inneren.

Für den Großteil der Dinge habe ich nicht einmal einen Namen! Das Dorf ist chaotisch und unruhig und das löst einerseits eine unglaubliche Furcht in mir aus, weil alle durcheinander rufen, gleichzeitig macht dies es mir leichter, mich am Rande im Schatten der Häuser unbemerkt weiter vorzuwagen.

Es fühlt sich an, als könnte ich für den Rest des Tages nichts anderes tun, als die merkwürdigen Wesen zu beobachten. Die Menschen sind alle verschieden, ihre Haare gibt es in den unterschiedlichsten Farben und Längen, ebenso ihre Haut und Augen. Aber sie entmutigen mich auch. Denn trotzdem entdecke ich niemanden, der so aussieht wie ich oder der sich auch nur annähernd so leise, flink und angriffsbereit bewegt.

Weil du nicht wie sie bist.

Warum nicht? Was bin ich dann?

Kaum gedacht, verwerfe ich den Gedanken gleich wieder, denn die Gebäude um mich herum verändern sich. Verschnörkelte Buchstaben in bunter Schrift, abblätternde Farbe auf Schildern, kunstvoll verzierte Zeichen über den Türen. Ich wundere mich selbst, warum ich es lesen kann, denn es fällt mir nicht allzu schwer, die seltsamen Symbole zu entschlüsseln und zu Worten zu formen. Ich gelange auf einen großen Platz mit einer mächtigen, imposanten Statue in der Mitte. Sie zeigt einen grimmig blickenden Mann mit gekreuzten Schwertern, zu dessen Füßen Wasser in einem Becken plätschert. Ein Junge spritzt ein Mädchen nass, das kreischend und kichernd vor ihm davonläuft. Überall sind Stände mit bunten Markisen aufgebaut, Händler rufen mit lauten Stimmen und preisen die Waren an. Neugierig nähere ich mich ihnen. Bunte Glasprismen an einer Schnur aufgereiht, wozu soll das gut sein? Interessiert nehme ich einen dieser Gegenstände in die Hand, betrachte ihn und lege ihn dann auf meinen Kopf. Dazu vielleicht? Unmöglich. Das Licht spiegelt sich auf wundersame Weise in den Steinen, es malt einen zarten Regenbogen auf meine Hand und ich drehe sie begeistert hin und her.

Ein entsetzter Aufschrei lässt mich zusammenfahren. Die Frau mir gegenüber starrt mich mit schreckgeweiteten Augen an, presst sich eine Hand auf den Mund. Mein Herz verkrampft sich. Hat sie Angst vor mir?!

»Krupferl, frischer Krupferl!«

Ich fahre zusammen und wirbele herum. Ein Mann am Stand gegenüber wirbt mit lauter Stimme die Leute an und entblößt eine breite Reihe von Zähnen, als sich zwei junge Mädchen mit Körben voller Blumen am Arm nähern.

»Krupferl für die jungen Damen?«

Ich wende mich ab und stolpere zurück.

»Halt! Die Kette!«, ruft die Frau mir nach, ich kann nicht auf sie hören. Das Dorf wird mit der Zeit beängstigender! Die Häuser sind groß und es ist, als wollten sie mich unter sich begraben, als erdrückten sie mich. Die ganzen Menschen machen mir Angst, ihre Masse bedrängt mich und jetzt, wo ich mich zwischen sie gewagt habe, werden rasch mehr und mehr von ihnen auf mich aufmerksam.

»Bleib gefälligst stehen!«

Ich springe verschreckt zur Seite, als die Händlerin mir nachkommt, und rempele dabei eine füllige Frau mit zwei kleinen Kindern am Rocksaum an. Besorgt klappe ich die riesigen Schwingen eng an meinen Körper, damit sie nicht im Weg sind oder schlimmstenfalls weiter einreißen können. Die Geräusche schwellen mehr und mehr zu einem einzigen, undurchdringlichen Summen und Brummen an, die Stimmen sind schrilles Kreischen in meinen Ohren und meine Knie beginnen zu zittern. Panisch wirbele ich herum.

Du gehörst nicht hierher. Sie sehen, dass du anders bist.

Ja, sie müssen es sehen! Ich merke, dass die Frau mich noch immer im Blick hat, sie deutet auf mich und die Leute drehen sich nach mir um, reißen entsetzt die Augen auf.

Töte sie. Wie den Fuchs. Wie wäre es, wenn du ihre Kehle aufreißt? Dann würden sie nicht mehr so unerträglich laut sein. Was? Oh nein, ich muss … ich kann … wohin?! Ich drehe mich um die eigene Achse, schneller und schneller. Überall sind Menschen, drängen sich dichter an mich, die wogende Masse spült mich davon, weiter auf den Brunnen zu, ich kann mich aus dem Strom nicht befreien. In meinen Ohren fiepst es und meine Augen brennen.

Es ist leicht. Du bist schnell, sie sind unaufmerksam. Sie könnten sich nicht wehren.

Mir ist schlecht, das ist alles zu viel. Ihr Lachen, es ist so laut, so breit, so beängstigend. Ihre Bewegungen, ausladend, wirr. Ihre Schritte unbeholfen und schwer, ihre Kleidung raschelt, sie riechen, die Gerüche brennen in meiner Nase. Stechendes Parfüm, viel zu süß. Gebäck, schwer und fettig. Schweiß, durchdringend und ätzend.

Sie starren dich an.

Bitte nicht! Sie sollen mich nicht sehen, sollen mich in Ruhe lassen! Weg, weg von mir! Meine anfängliche Begeisterung schlägt in wilde Panik um. Die Eindrücke, die ich vorhin aus sicherer Entfernung aufnehmen und verarbeiten konnte, brechen nun wie ein Sturzbach auf mich ein und mehr und mehr Wesen scharen sich auf dem Platz um mich, mustern mich, schrecken zurück. Schreie werden laut. Ich fühle mich, als hätte ich eben noch am Ufer gestanden und das rauschende Wasser betrachtet, doch ein falscher Schritt, ein übermütiger Satz und ich stürze in die reißenden Fluten, in denen ich zu ertrinken drohe. Wie soll ich hier wieder herauskommen?! Verzweifelt sehe ich mich um.

Die Statue! Erleichtert eile ich auf sie zu, weiche den Entgegenkommenden aus, schlage Haken und husche zwischen Ständen hindurch. Endlich habe ich sie erreicht. Sie ist aus hellem Sandstein gehauen und durch die Konturen des Mannes, den sie darstellen soll, gibt es genügend Vertiefungen, an denen ich mich emporziehen kann. Ich springe auf den Rand des Beckens und setze einen Fuß auf den viel größeren steinernen der Statue.

»Nicht! Bist du wahnsinnig? Jemand muss sie aufhalten!«, kreischt man hinter mir, ich halte nicht inne. Flink klettere ich hinauf, meine Füße finden rasch Halt, mit den Armen ziehe ich mich nach oben. Schon bald habe ich den großen Kopf erreicht und richte mich triumphierend auf. Auf diese Weise kann ich alles überblicken und für einen Moment das Menschenmeer unter mir lassen, der erdrückenden Enge entfliehen.

In Windeseile fahre ich mit meinen Blicken die Wege entlang, präge mir das Muster der Straßen ein und versuche, mir inmitten der gleich aussehenden Häuser Orientierung zu verschaffen.

Da, der rettende Waldrand. Er ist nicht so weit entfernt, wie ich dachte. Einige verwinkelte Gassen. Eine Querstraße. Um zwei Ecken. Mein rasender Gedankenstrom normalisiert sich ein wenig.

Ich kann das schaffen.

»Komm sofort zurück! Holt sie da runter!« Die Stimme der Händlerin erreicht mich und ich blicke unwillkürlich nach unten. Erstarre. Ein ganzes Knäuel aus Menschen hat sich um den Brunnen geschart und starrt zu mir empor. Sie können sich nicht entscheiden, ob sie entgeistert oder wütend sein sollen.

»Mama! Guck das mal an!«

Ein kleines Mädchen mit langen kastanienbraunen Haaren zupft am Rock seiner Mutter und deutet aufgeregt zu mir herauf. Ich unterdrücke einen Schrei, hier oben kann ich mich jedoch nirgends verstecken. Die Mutter starrt mich verwundert an.

»Allmächtiger! Oh nein, geh da weg!« Sie zieht ihre Tochter zurück, die neugierig zum Springbrunnen gelaufen ist und mit großen Augen zu mir aufsieht. Kalte Angst kriecht mir den Rücken hinab – ich sitze in der Falle! Die Menschen bleiben verwundert stehen, tuscheln aufgeregt.

»Sieh mal, diese Augen!«

»Wo kommt sie her?«

»Wie ist sie da raufgekommen?!«

Panisch beginne ich wieder nach unten zu klettern – wenn diese verflixten Flügel nur funktionieren würden! Dann könnte ich sie ausbreiten, davonfliegen und all die Menschen unter mir zurücklassen. Doch sie sind nicht zu gebrauchen, ich muss mich auf meine Beine verlassen. Sobald ich den sicheren Waldrand erreicht habe, können sie mir nichts mehr tun.

Das ist mein Gebiet.

Kurz bevor ich das Wasser im Brunnen erreiche, springe ich von der Statue hinunter, presse mich auf die Erde, sehe mich um und versuche, einen Fluchtweg zu finden.

Weg! Lauf weg!

Ein großer Mann mit Hut nähert sich mir. Besorgt ziehen Mütter ihre Kinder zurück, die mich anfassen wollen.

»Wer bist du denn?! Weißt du nicht, dass man nicht auf einer Statue herumklettern darf?« Er macht noch einen Schritt auf mich zu. Will er mich angreifen?! Seine Stimme ist streng und barsch, seine Augen blitzen alles andere als freundlich. Panisch stolpere ich zurück. Ich muss flüchten, sofort!

Sie sehen alle her! Sie schauen dich an! Du bist anders.

»Verstehst du, was ich sage? Hallo?!«

Mein Blick huscht hin und her, plötzlich packt mich der Mann an der Schulter und ich springe auf, aus meiner Kehle dringt unerwartet ein wütendes Knurren. Überrascht sieht er mich an und ich reiße mich los, drehe mich unter ihm weg und stürze davon. Die Menschen machen mir Platz und ich erklimme einen Baum, springe auf ein nahe gelegenes Dach, was Kreischen und Schreien hervorruft.

»Halt! Komm sofort zurück!«, brüllt der Mann.

Auf keinen Fall! Nichts und niemand kann mich aufhalten, um keinen Preis der Welt bleibe ich auch nur einen Wimpernschlag länger an diesem schrecklichen Ort!

Ich spüre, dass sie mir folgen, aber sie können mich nicht einholen, denn ich bin schnell. Viel schneller als sie. Ich tauche in das Gewirr der Straßen ein und verschwinde ungesehen im Wald, wo ich nicht eher anhalte, bis ich nichts mehr höre außer dem Wind. Dann lehne ich mich keuchend und vor Angst zitternd gegen einen Baum.

Ich spüre etwas Schweres in meiner Tasche und greife danach. Die Glasprismen! In der Aufregung habe ich ganz vergessen, sie zurückzulegen, und sie achtlos in meine Tasche gestopft. Verschreckt schleudere ich sie von mir.

Dann besinne ich mich jedoch und laufe zurück, um sie im Gras zu suchen. Wenngleich sie den Menschen gehören, sind sie wunderschön und ich will sie behalten, um mich daran zu erinnern, dass sie zwar aussehen wie ich, doch trotzdem anders sind. Sie sind gefährlich und das darf ich niemals vergessen. Ich wende dem Dorf den Rücken zu und laufe wieder tiefer in den Wald hinein, wo die Dunkelheit mich verschluckt und ich vor ihren entsetzten Blicken sicher bin.

Flügelschatten

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